Industriestandort Deutschland - „Wir verlieren unsere industrielle Basis“

Was muss die Politik tun, um Deutschland als Industriestandort zu erhalten? Darüber strit­ten die Unternehmerin Natalie Mekelburger und der Unternehmer Christian Berner beim Cicero-Foyergespräch mit dem ehemaligen EU-Kommissar Günther Oettinger

Erschienen in Ausgabe
Wie reagiert der Industriestandort Deutschland auf moderne Herausforderungen wie den Klimawandel? / Fotos: Maurice Weiss
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Herr Oettinger, wie gefällt es Ihnen, dass die SPD nun zur Hälfte von Saskia Esken geführt wird, die wie Sie selbst aus Baden-Württemberg stammt?
Günther Oettinger: Dass die SPD ein halbes Jahr gebraucht hat, um sich im Klaren darüber zu sein, wer sie führen soll, ist problematisch. Olaf Scholz wäre außerdem die richtige Wahl gewesen. Der könnte es. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken werden sich schwertun.

Hält die Große Koalition?
Oettinger: Wir Europäer hoffen, dass die Große Koalition bleibt. Deutschland hat im zweiten Halbjahr 2020 den EU-Ratsvorsitz inne. Das heißt, in allen Räten, im Umweltrat, Innovationsrat, Wettbewerbsfähigkeitsrat, im allgemeinen Rat, Außenministerrat, ist die Stimme Deutschlands wichtig. Wenn wir uns erlauben, dass wir jetzt eine Regierungskrise bekommen, würde die stabile Lokomotive Europas wegbrechen. Ich kann nur hoffen, dass die SPD sich ihrer Verantwortung bewusst wird. Ansonsten, mal halb ernst, sollten wir alle überlegen, die nächsten Jahre einmal SPD zu wählen.

Wie sehen Sie das, Herr Berner?
Christian Berner: Ja, das hat alles sehr lange gebraucht, aber es war richtig für die gute alte Tante SPD. Ich glaube, es wird einen Linksruck geben. Aber diese Profilierung ist der einzig positive Effekt für diese Partei, die gar nicht mehr weiß, wofür sie eigentlich steht. Diese Profilierung ist in allen großen Parteien wichtig. Wir Wähler brauchen ein ganz klares Bild von dem, was wir wählen wollen.


„ Wir Wähler brauchen ein ganz klares Bild von dem, was wir wählen wollen “
Christian Berner

Überrascht Sie das SPD-Ergebnis, Frau Mekelburger?
Natalie Mekelburger: Ich weiß gar nicht, warum sich alle so aufregen. Ich würde sagen, das war abzusehen. Frau Merkel hat eine Politik der asymmetrischen Demobilisierung betrieben. Das heißt, sie hat Positionen übernommen, die eigentlich einer konservativen christdemokratischen Partei nicht entsprechen. Klar, dass die SPD sich jetzt per Linksruck neu findet. Den hätte es übrigens auch unter Herrn Scholz gegeben. Was aber problematisch ist für den Mittelstand: Wir erleben insgesamt in Deutschland einen ganz starken Ruck nach links. Klar, es gibt jetzt die AfD auf der rechten Seite, aber sie ist nicht koalitionsfähig. Das heißt, diese Stimmen gehen verloren.


„ Wir erleben insgesamt in Deutschland einen ganz starken Ruck nach links “
Natalie Mekelburger

Teilen Sie diese Analyse, Herr Oettinger?
Oettinger: Die CDU hat mit Sicherheit einige Positionen abgeräumt und ist damit nach links gerückt. Das hat mit der Kernkraft angefangen, ging über die Abschaffung der Wehrpflicht weiter, bis hin zum Thema Integration und zur Flüchtlingsfrage. Aber ob die CDU heute erfolgreicher wäre, wenn sie an ihren ursprünglichen Positionen festgehalten hätte, wage ich zu bezweifeln. Und jetzt kommt das Thema Klimapolitik: In Deutschland gibt es nur noch ein Thema, den Klimaschutz, kein anderes mehr.

Ist das richtig oder falsch?
Oettinger: Es ist falsch. Denn wir brauchen immer eine Balance zwischen Arbeitsplätzen, Klimaschutz und Wirtschaftskraft. Wir brauchen Fortschrittstechnologien und nicht nur Verbote. Die Grünen schaffen es, mit ganz freundlicher, charmanter Miene der beiden Vorsitzenden, das Thema nach vorne zu bringen; die AfD leugnet die Klimaproblematik schlichtweg, und die beiden Volksparteien sind in der Mitte auf einem schweren Posten. Aber wenn die Krise unserer stark industriell geprägten Wirtschaft kommt, sind wir alle in der Rezession, egal, ob großer Mittelstand oder Dax-Unternehmen. Die Auftragsbücher brechen schon jetzt ein. Wir werden im Frühjahr 2020 die Debatte anders führen. Zumindest hoffe ich darauf.

Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellt unglaubliche drei Billionen Euro für den Klimaschutz in Aussicht. Das Europäische Parlament ruft den Klimanotstand aus. Können wir uns diesen Hype leisten?
Oettinger: Der Zusammenhang zwischen Treibhausgasen und Erd­erwärmung wird in Europa von jedem erkannt. Aber die Maßnahmen werden unterschiedlich beurteilt. Viele Westeuropäer sind geradezu Meister in Klimaschutzsachen. Länder wie die Slowakei, Tschechien, Polen, Ungarn, Kroatien und Rumänien sehen das Thema dagegen mit großer Skepsis. Wir sind tatsächlich dabei, unsere industrielle Grundlage kaputt zu machen – Stahl, Aluminium, Kupferproduktion mit hohen Stromkosten, die höchsten der Welt. Hinzu kommen bürokratische Auflagen. Uns muss klar sein, die Industrie geht nicht zum Einwohnermeldeamt. Unternehmen gehen leise, indem sie eben nicht mehr in Dortmund oder Stuttgart investieren, sondern in Bratislava oder außerhalb von Europa. Wir verlieren Tag für Tag unsere industrielle Basis und merken es nicht mal. Wir sind noch viel zu beseelt von der Vollbeschäftigung. Das deutsche Paradies ist in der Wirklichkeit nicht angekommen.

Frau Mekelburger, Sie haben im Juli einen Artikel in der Welt verfasst mit der Überschrift „Der neue Klimaabsolutismus“. Was meinen Sie damit?
Mekelburger: Ich habe gar keinen Zweifel, dass die Klimaaktivisten alles gut meinen. Aber in den vergangenen Monaten ist doch deutlich geworden, dass viele von ihnen sehr linksaktivistisch unterwegs sind. Mein Anliegen war zu fragen, ob die wirtschaftsorientierten Parteien in dieser Stimmung überhaupt noch bei Verstand bleiben und sehen, dass das Thema Klima, Ökologie und Ökonomie doch bitte ein Zusammenspiel sein muss. Das ist völlig verloren gegangen. Ich habe auch unterstellt, dass es in Deutschland keinen Konzernchef mehr gibt, der sich traut, öffentlich noch vernünftig zu sprechen und etwas gegen diesen Klimaaktivismus zu sagen. Alle passen sich an aus Angst vor Schelte. Auch innerhalb der CDU hat man sich ideologisch untergeordnet und dabei jegliche Ökonomie aus den Augen verloren. Wir dürfen unseren marktwirtschaftlichen Kompass nicht verlieren, auch nicht beim Thema Klima.

Berner: Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass wir hier im größten Luxus leben, den es überhaupt gibt. Wir sind die Kirsche auf der Sahnetorte dieser Welt. Ich finde es gut, wenn Herr Oettinger auf Osteuropa hinweist. Die halbe Welt trachtet nach unserem Wohlstand und ist dafür inzwischen auch kriegerisch zugange. Wir sind ökonomischen Angriffen ausgesetzt, aus Russland, aus China, aus den USA. Unsere Daten, unsere Unternehmen werden gehackt. Einer unserer Logistikdienstleister steht deswegen kurz vor der Pleite; der Angriff kam aus Russland. Ich sehe es als meine Pflicht an, den Wohlstand zu erhalten, aber so wie bisher können wir weltweit das hehre Ziel der Klimaneutralisierung, des Klimaschutzes nicht einhalten. Meine Frau und ich waren vor drei Jahren im Greenpeace-Hauptquartier in Hamburg. Man kann schimpfen, man kann sagen, die Leute sind extrem; die haben aber sehr viel Ahnung, und die Klimaveränderung ist ein lebensbedrohliches Thema. Wir müssen etwas tun und wir müssen es sofort tun. Aber diese Panik ist nicht gut.

Dann müssen Sie den Mittelweg zwischen Ökonomie und Klimaschutz aber auch konkret beschreiben.
Berner: Sie haben absolut recht, das ist das Kernproblem, mit dem auch ich jeden Tag zu tun habe. Auch wir als Unternehmen müssen beispielsweise in der Digitalisierung einen Plan finden. Aber dafür braucht es Ordnung und klare Ziele. Was ist denn der Technologiefahrplan für Deutschland? Soll man sich eine Wasserstoffzelle kaufen? Ein Hybridauto? Ein E-Auto? Ich habe den Eindruck, in der Politik wird entschieden, weil man nicht abwarten will. Aber es fehlt der Plan.

Aber wer soll denn den Plan liefern? Die Bundesregierung? Die EU? Die Unternehmen?
Berner: Wir Unternehmer müssen da selbst aktiv werden. Wir haben eine Verantwortung, darum gehen wir auch an die Öffentlichkeit. Nicht, weil es uns so viel Spaß macht. Aber dann muss eben auch von der Politik etwas kommen. Nur die Autoindustrie anzuprangern und zu sagen, die Hersteller sind schuld an fehlenden E-Fahrzeugen, halte ich für falsch. Wir brauchen ein gesetzliches Regelwerk, und wir Unternehmer müssen uns dann auch daran halten. So etwas wie einen Diesel-Skandal darf es nicht mehr geben.

Mekelburger: Also, ich hätte das Regelwerk, das ist gar nicht so wahnsinnig schwer. Das Hauptthema Klima darf nicht kleingeredet werden. Aber die Klimabewegung versucht, aus der ökologischen Debatte eine Debatte über soziale Gerechtigkeit zu machen. Das führt zu einer hochbürokratischen Umverteilungspolitik, die nie zu einem guten Ergebnis führen wird. Die Politik sollte sich da raushalten, es sollte über den Markt geregelt werden. Der Emissionshandel hat sich bereits als sehr effizient erwiesen. Wenn wir also weniger CO2 ausstoßen wollen, sollten wir den Zertifikatehandel ausbauen. Dann kann der Markt entscheiden. Dem Weltklima ist es egal, wo die Emissionen eingespart werden. Aber wir werden die Grünen, die SPD und leider auch Frau Merkel nie dazu bekommen, so zu denken. Das ist das Dramatische, weil immer der Zwang und die Idee da sind, dirigistisch einzugreifen.

Herr Oettinger, warum so zwanghaft?
Oettinger: Ich halte nationale Sonderwege für falsch. Wir müssen mindestens im europäischen Binnenmarkt gemeinsam handeln, möglichst marktwirtschaftlich – und dann Partner in der Welt finden. In Deutschland ist es mit der Kernkraft in drei Jahren vorbei – in Ordnung, abgehakt. Es werden trotzdem 14 europäische Länder weiter Kernkraft nutzen oder gar neue Kernkraftwerke bauen. Und das in einem europäischen Binnenmarkt, wo Strom keine Grenzen kennt. Als Nächstes stellen wir die Kohlekraft ab. Aber für jedes Kraftwerk, das in Deutschland abgeschaltet wird, bauen die Chinesen drei neue. Und zwar mit weniger Umwelttechnik als bei uns. Wir dürfen nicht hysterisch vorgehen und unsere eigene Industrie und damit Arbeitsplätze, Wohlstand, Steuereinnahmen plattmachen.

Klimaschützer argumentieren oft, wenn wir als westliche Industrieländer nicht mit gutem Beispiel vorangehen, dann tut sich anderswo auch nichts.
Oettinger: Die Chinesen sagen, die höchsten Strompreise der Welt gibt es in Dänemark und in Deutschland, und deswegen werden energieintensive Industrien dort auch nicht investieren. Und die Chinesen sagen: Bei den hohen Strompreisen kommen die deutschen Firmen irgendwann zu uns. Darum haben die Chinesen neben Bewunderung auch Verwunderung für Deutschland übrig.

Was tun, Herr Berner?
Berner: Ich bin der größte Fürsprecher der EU. Ich sehe mich nicht als Deutschen, ich sehe mich als Europäer. Aber wie weit sind wir denn beim Klimaschutz gekommen? Wir haben keine Zeit zu warten. Wir müssen das Thema sexy und erfolgreich machen. Und ja, ich glaube, wir müssen uns zwingen, als Erste voranzugehen, dann finden wir auch Lösungen. Es stimmt, es ist problematisch, wenn eine Energietrasse wegen einer Käferpopulation nicht realisiert wird. Aber Entschuldigung, mal auf Englisch: „What a fuck!“ Dann ist es eben so. Dann muss man einen Umweg finden. Wenn wir immer auf den Konsens mit der EU, mit Amerika oder mit China warten, dann dauert das noch zehn bis 20 Jahre. Vorausgehen ist Pflicht, ist Bürgerpflicht – und wir müssen das machen. Ermahnungen allein bringen nichts.

Frau Mekelburger, haben Sie mal durchrechnen lassen, was so ein Vorausgehen für Ihr Unternehmen kosten würde? Was bedeuten denn zehn Euro pro Tonne ausgestoßenem CO2 für Ihre Produktion?
Mekelburger: Wir haben das noch nicht durchgerechnet. Aber es ist natürlich eine ernst zu nehmende Größenordnung. Wir wollen wirklich den CO2-Ausstoß reduzieren, aber wir müssen aufpassen, keine Mehrfachbelastungen zu bekommen. Wenn wir so weitermachen, werden wir mehr Schäden durch die Belastung und den Wohlstandsverlust haben als durch den Klimawandel. Ich glaube ganz klar, dass es einen Klimawandel gibt. Aber ich glaube nicht, dass es zu solchen Horrorszenarien kommt, wie man uns weismachen will. Ich halte mich an William Nordhaus, den Wirtschaftsnobelpreisträger und Begründer des Zwei-Grad-Zieles. Er sagt: Ihr müsst aufpassen, euch nicht sklavisch dem Klimathema zu unterwerfen, weil die Kosten der CO2-Vermeidung so hoch werden können, dass wir am Ende unseren Wohlstand verlieren. Und damit meint er nicht in erster Linie irgendwelchen Luxus, sondern etwa auch eine funktionierende Gesundheitsversorgung.

Den Wohlstand sichern will auch der Bundeswirtschaftsminister. Warum ist die Industriestrategie von Peter Altmaier so unter Beschuss?
Mekelburger: Er hatte sich völlig vom Mittelstand abgewandt und hat Großindustriepolitik betrieben. Mit einer marktwirtschaftlichen Idee hat das nichts zu tun. Seine Beweggründe verstehe ich aber zu einem gewissen Grad: die Sorge um den Ausverkauf Deutschlands beziehungsweise Europas, die Angst vor den Chinesen. Ja, wir müssen Kräfte bündeln. Aber immer, wenn man dirigistisch eingreift, auch in diesem Sinne, haben andere das Nachsehen. Und das sollte man möglichst vermeiden. Altmaier hat jetzt Ideen, uns Mittelständler zu unterstützen, etwa in Form steuerlicher Entlastungen, einer Deckelung der Sozialabgaben oder einer Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Das ist auch richtig so. Ich frage mich nur, ob er das in diesem politischen Umfeld für uns überhaupt durchsetzen kann. Und an der Stelle frage ich mich: Was passiert eigentlich mit der CDU, Herr Oettinger? Wir reden von der Krise der SPD, aber die Krise in der CDU ist ja im Grunde genommen genauso groß. So richtig weiß doch niemand, wie es mit dieser Partei jetzt weitergeht. Wer wird denn der Kanzlerkandidat? Es wäre schon beruhigend, das zu wissen. Am Ende zerreißt es die Partei, und dann ist gar nichts mehr sicher. Das macht mir wirklich Sorgen.

In Sachen Wirtschaftskompetenz hat die CDU laut Umfragen tatsächlich heftig eingebüßt. Das war mal ein christdemokratisches Markenzeichen.
Oettinger: Während der vergangenen sieben, acht Jahre ging es Deutschland wirtschaftlich sehr gut. In der Folge haben wir viel Familienpolitik, Sozialpolitik, Frauenpolitik, Rentenpolitik gemacht. Das heißt, wir haben in vollen Zügen den Sozialstaat gefährdet. Ich kann nur hoffen, dass, wenn wir in einer Krise sind, sich die Bürger und auch die Partei wieder mehr für Wirtschaftsförderung interessieren. So, wie es vor 20 Jahren Unionspolitiker wie Matthias Wissmann, Roland Koch, Edmund Stoiber und viele andere getan haben. In der Abteilung Wirtschaft haben wir derzeit tatsächlich zu wenige Leute. Aber auch die FDP hat keine Wirtschaftsköpfe mehr. Sie hat nur noch Christian Lindner, und dahinter ist ausgeräumt. Wir haben im bürgerlichen Lager deshalb ein Problem, weil die Wirtschaft bislang scheinbar von selbst lief.


„ Das bürgerliche Lager hat ein Problem, weil die Wirtschaft scheinbar von alleine lief “
Günther Oettinger

Herr Berner, wäre mit Friedrich Merz alles besser?
Berner: Ich bin kein Parteimitglied, aber ich habe eine klare Meinung: Ja, mit Friedrich Merz wäre es besser gewesen. Er ist auch unabhängig von Abgeordnetendiäten.

Allerdings steht er in Diensten eines großen Finanzinvestors namens Blackrock.
Berner: Ja, passt doch. Unternehmen füttern dieses Land. Wir sind eine Wirtschaftsnation. Das Entscheidende ist: Die Leute wollen jemanden wählen, der eine ganz klare, konturscharfe Meinung hat und artikuliert. Ansonsten dringt man in der Öffentlichkeit nicht durch. Als ich Frau Kramp-Karrenbauer erlebt habe, hatte ich Sorgen, ob sie sich so profilscharf aufstellen kann, ob sie in diesem Mediendschungel, in dieser Überdigitalisierung und diesem Information Overload überhaupt auffällt.

Sind diese Sorgen inzwischen eher größer oder eher kleiner geworden?
Berner: Ob sie es fachlich kann oder nicht – sie konnte sich positionieren. Aber wie nachhaltig diese Positionierung ist, das ist die Frage. Was uns Unternehmer von den Medien unterscheidet: Wir meckern nicht die ganze Zeit, sondern wir arbeiten. Das ist eine wichtige Sache: nicht immer nur schimpfen, nicht immer nur meckern. Wir sollten auch Politikern eine Chance geben. Selbst von Trump können wir mehr lernen als von vielen anderen. Trump ist für viele unheimlich attraktiv. Ich weiß nicht, wer die Russen versteht und wer Putin versteht, aber wir Deutschen jedenfalls kritisieren ihn immer nur und kommen mit unseren pseudodemokratischen Ansätzen für ein Land, das man wahrscheinlich gar nicht demokratisch führen kann. Putin stellt sich in Russland öffentlich als Mann dar, der den Bären niederringt, der auf einem Pferd reitet. Genau das aber wollen die Russen offenbar sehen – die wollen Stärke, die wollen Führungsstärke sehen. Also, wenn der Merz mit einem Bären in die Manege stürmt und ihn niederringt, dann würden wir mal eines sehen, und das ist doch das Kernthema: nämlich Führungsstärke.

Womöglich würde eine gute Parteitagsrede von Merz schon ausreichen.
Mekelburger: Also an den Bären und Herrn Merz glaube ich nicht mehr. Er hat seine Chance gehabt. Den Ball hat er zweimal nicht verwandelt, das ist schon auffällig. Herr Merz wird das nicht mehr werden. Ich will jetzt nicht vorgreifen, aber es würde sich vieles erübrigen, wenn Frau Merkel heute sagen würde, dass sie auf ihre Position verzichtet. Dann würde endlich etwas in Bewegung kommen, und dafür wird es allerhöchste Zeit. Solange das nicht der Fall ist, wird da rumgemaukelt und gegaukelt. Man geht aufeinander los, aber das bringt nichts, weil wir kostbare Zeit verlieren. Die nächsten Wahlen sind in zwei Jahren, da kann die CDU sich jetzt kein Spektakel erlauben. Es muss endlich Klarheit geschaffen werden, um sich im Wahlkampf positionieren zu können.

Allerdings läuft bei neuen Regierungsmehrheiten ohnehin alles auf Schwarz-Grün hinaus.
Mekelburger: Erstens kann man das ja mal probieren und auch von den Grünen wieder ein paar Stimmen zurückholen. Und ja, man sollte auch versuchen, Wähler von der AfD zurückzugewinnen – nämlich jene Wähler, die dort nicht am rechten Flügel sind, sondern die aus Frustration zur AfD gegangen sind. Das reicht vom Wirtschaftsprofessor bis hin zum Betriebsrat, solche Leute sind marktwirtschaftlich total verzweifelt.

Herr Oettinger, wie geht es jetzt politisch weiter?
Oettinger: Wenn die SPD beschließt, die Koalition zu verlassen, werden wir innerhalb von drei Wochen jemanden finden müssen, der für die CDU/CSU in den Wahlkampf geht.

Sie rechnen für diesen Fall nicht mit einer Minderheitsregierung oder einem zweiten Anlauf in Richtung einer Jamaika-Koalition?
Oettinger: Eine Minderheitsregierung würde vielleicht ein paar Monate halten, aber nicht ein ganzes Jahr. Deswegen würde man eine geordnete Bundestagswahl vorbereiten. Wenn die SPD drinbleibt, wird Frau Merkel unsere Kanzlerin bis Herbst 2021 bleiben. Ein Kanzler, der gewählt ist, sollte dieses Amt auch bis zum Ende der Legislaturperiode ausfüllen. Ich glaube, die Demokratie lebt vom Grundvertrauen der Menschen in einen Kandidaten, von dem sie sagen: Der kann es, der gefällt mir, dem muss ich eine starke Mehrheit im Parlament verschaffen. Im Augenblick ist AKK abgeschlagen, auch Armin Laschet liegt relativ weit hinten. Merz ist vorn, aber ob er auch vorn bleibt, ist offen. Auch ein Laschet kann aufholen, ich kenne ihn gut. So stabil, wie er die CDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen führt, sollte man ihn nicht unterschätzen. Die SPD wäre froh, wenn sie ein vergleichbares Angebot von vier, fünf Frauen und Männern hätte.

Ist die Zukunft Schwarz-Grün?
Oettinger: Schwarz-Grün ist jedenfalls durch die neue SPD-Führung wahrscheinlicher geworden. Ich muss aber auch sagen, die Grünen sind nicht alle so wohltemperiert wie Frau Baerbock und Herr Habeck. Dahinter verbergen sich knallharte Ideologen. 

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