Wolfgang Clement
() Wolfgang Clement
Hat die Mitbestimmung eine Zukunft?

Ein Argumentationspapier der Hans Böckler Stiftung „Zur aktuellen Kritik der Mitbestimmung im Aufsichtsrat“ ist ein bemerkenswerter Beleg für die Kurzatmigkeit unserer Diskussionskultur.

Ein Argumentationspapier der Hans Böckler Stiftung „Zur aktuellen Kritik der Mitbestimmung im Aufsichtsrat“ ist ein bemerkenswerter Beleg für die Kurzatmigkeit unserer Diskussionskultur. „Die Behauptung eines Interessenfilzes“ in oder durch mitbestimmte Aufsichtsräte, so heißt es da wörtlich, „ist durch die Praxis in den Unternehmen widerlegt.“ Das Böckler-Papier stammt vom Februar 2004. Schon damals hätte man durchaus etwas selbstkritischer mit der Praxis der Unternehmensmitbestimmung umgehen können. Erst recht gilt das, seit die Skandale und Straftaten bei Volkswagen oder Siemens ruchbar wurden. Wer würde jetzt noch ernsthaft behaupten, die Kritik der Mitbestimmung folge nur einem „Modetrend“? Nein, es wäre wahrlich weltfremd anzunehmen, die Tauglichkeit unserer Mitbestimmungspraxis stehe für alle Zeiten außer Frage. Mitwirkung und Mitbestimmung gehören zu unserer insgesamt erfolgreichen unternehmerischen Wirklichkeit. Aber diese befindet sich in einem rasanten Wandel. So heißt es in dem Stiftungspapier, die Mitbestimmung hemme „insgesamt die Selbstbedienungspraktiken von Vorständen“. Ist das wirklich noch wahr, fragt man sich angesichts eines beachtlichen Höhenflugs der Vorstandsbezüge? Und: Wie sieht es denn mit der Selbstbedienung in Betriebsräten oder Aufsichtsräten aus? Wie groß ist heutzutage das Risiko der Korrumpierbarkeit von Arbeitnehmervertretern? War VW wirklich ein Einzelfall? Mir liegt nichts an pauschalen Verdächtigungen, die nicht zu rechtfertigen sind. Aber es muss erlaubt sein zu fragen, wer denn die Institution der Mitbestimmung vor Missbrauch aller Art schützt. Und wie dieser Schutz verbessert werden kann. Wie steht es beispielsweise mit der Offenlegung – von Aufsichtsratstantiemen, von ­Abführungspflichten für Arbeitnehmervertreter, von Angaben zur finanziellen Ausstattung von Betriebsräten? Nach mehr als zwei Wahlperioden drohen nach meiner Erfahrung nicht nur in der Politik Gewöhnungseffekte und Betriebsblindheit. Es steigt auch die Filzgefahr. Rotation ist hierauf die naheliegendste Antwort. Die von Kurt Biedenkopf geleitete Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung hat im vergangenen Dezember in ihrem Abschlussbericht vorgeschlagen, dass auch Arbeitnehmer von ausländischen Tochtergesellschaften in die hiesigen Aufsichtsräte gewählt werden dürfen. Korruptionsbekämpfung ist zwar nicht der tragende Gedanke dieses Vorschlags, aber seine Umsetzung würde eine allzu intensive Nähe und Vertrautheit verhindern und die damit verbundenen Risiken beschränken. Für einen Teil der Wirtschaft liegt die Zukunft der deutschen Mitbestimmung ohnehin in Europa: Mit der Societas Europaea (SE) steht deutschen Unternehmen seit dem Jahr 2004 eine Gesellschaftsform europäischen Rechts zur Verfügung. Viel mehr als die deutsche AG setzt die SE auf freiwillige Vereinbarungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern statt auf gesetzliche Normen, die nur hilfsweise greifen sollen. Die SE verwirklicht damit die Grundphilosophie der deutschen Sozialpartnerschaft: Eigenverantwortung und Staatsferne. Eine wachsende Zahl von ansehnlichen Unternehmen unseres Landes, wie die Allianz, die Fresenius AG oder die BASF, hat sich bereits auf den Weg begeben und steigt gerade auf die Societas Europaea um. Weitere werden folgen. Wolfgang Clement war von 1998 bis 2002 Ministerpräsident von NRW und von 2002 bis 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit. Er leitet als Chairman das Adecco Institute in London. Clement lebt in Bonn

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