Ersatz für russisches Öl und Gas - Woher beziehen wir künftig unsere Energie?

Europa leidet unter Öl- und Gas-Knappheit, weil Russland als Lieferant praktisch ausfällt. Deswegen wird fieberhaft nach neuen Bezugsquellen gesucht. Besonders vielversprechend ist da die Region um das Kaspische Meer mit traditionellen Förderländern wie Kasachstan und Aserbaidschan. Das Problem ist nur: Moskau betrachtet diese Länder als seine Einflusssphäre. Neue Konflikte sind programmiert.

Erdölförderung in der Nähe der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku / picture alliance
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Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Seit Russlands Einmarsch in der Ukraine haben die europäischen Länder nach alternativen Energiequellen gesucht, um ihre Abhängigkeit von russischen Lieferungen zu verringern. Bisher waren diese Bemühungen erfolglos, da es kurzfristig unmöglich ist, die Produktion auf das Niveau hochzufahren, das erforderlich wäre, um die russischen Energieexporte zu ersetzen und eine Infrastruktur zu schaffen, mit der Lieferungen auf die europäischen Märkte möglich wären. 

Langfristig ist die Diversifizierung der Energieversorgung jedoch eine reale Option, und die europäischen Länder konzentrieren sich dabei auf die kaspische Region, insbesondere auf die rohstoffreichen Staaten Kasachstan, Turkmenistan und Aserbaidschan. Diese Länder werden traditionell als russische Einflusszone betrachtet, aber Moskau könnte sie schon bald als eine bedeutende Gefahr für seine Vorherrschaft auf dem europäischen Energiemarkt sehen.

Warum ist die kaspische Region so vielversprechend als Ersatz für russische Energie? Das Kaspische Meer ist eine der größten und ältesten Öl- und Gasförderregionen der Welt. Wie Russland nutzten auch die postsowjetischen Länder dort ihre Energieressourcen zum Aufbau ihrer Wirtschaft und wurden dabei immer abhängiger von Öl- und Gasexporten. Angesichts der geschwächten Volkswirtschaften nach der Pandemie und wegen der zunehmenden Störungen, die vor allem durch die russische Invasion in der Ukraine verursacht wurden, ist die Aufrechterhaltung der Versorgung in dieser Region von entscheidender Bedeutung.

Größter Ölproduzent in Zentralasien

Kasachstan ist der größte Ölproduzent in Zentralasien und ein wichtiger Erdgaslieferant. Das Land verfügt über rund 30 Milliarden Barrel Ölreserven und steht bei den Gasreserven nach Russland und Turkmenistan an dritter Stelle in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). In Kasachstan gibt es mehr als 250 Öl- und Gasfelder, die von 104 Unternehmen betrieben werden, darunter internationale Multis wie Chevron, Eni, Total, ExxonMobil, Royal Dutch Shell und British Gas. Im Jahr 2021 machte die Ölförderung etwa ein Drittel des kasachischen Haushalts aus. Auf den vorgelagerten Energiesektor entfielen 28 Prozent der ausländischen Brutto-Direktinvestitionszuflüsse. Die Ausfuhren von Erdöl, Erdgas und Erdölprodukten machten 57 Prozent der kasachischen Gesamtexporte aus.

In Turkmenistan entfallen sogar 85 Prozent der Haushaltseinnahmen auf Erdgas. Das Land verfügt über die viertgrößten Erdgasreserven der Welt, darunter Galkynysh, das zweitgrößte Gasfeld der Welt. Aserbaidschan hingegen fördert täglich 590.000 Barrel Öl (mit Gaskondensat) und verfügt über Reserven von insgesamt sieben Milliarden Barrel Öl und 1,9 Billionen Kubikmeter Gas. Obwohl das Land bestrebt ist, auch andere Sektoren als den Energiesektor zu entwickeln, machen die Ölexporte Aserbaidschans immer noch rund 86 Prozent seiner Gesamtausfuhren aus.

Für Europa ist die kaspische Region aufgrund ihrer Nähe und der vorhandenen Energieinfrastruktur, einschließlich der Pipelinenetze, besonders attraktiv. Seit der russischen Invasion in der Ukraine ist sie noch attraktiver geworden, und zwar nicht nur aus offensichtlichen Gründen, sondern auch, weil die europäischen Hauptstädte nicht mehr davor zurückschrecken, Russland – den größten Öl- und Gaslieferanten Europas – zu verärgern, indem sie in seinen traditionellen Einflussbereich eingreifen. Da Moskau vom Westen weiterhin isoliert und die Stimmung gegen Russland aufgeheizt ist, sind die europäischen Länder eher bereit, sich hier zu engagieren – unabhängig davon, ob ihre Bemühungen russische Interessen beeinträchtigen oder eine Reaktion des Kremls hervorrufen könnten.

Die EU als wichtigster Abnehmer

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind bereits große Abnehmer von Energie aus Zentralasien und dem Kaukasus. Die EU als Ganze ist der größte Abnehmer von Öl aus Kasachstan. In einem unlängst geführten Gespräch mit dem Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, erklärte der kasachische Präsident Kassym-Jomart Tokajew, sein Land sei bereit, sein Potenzial zu nutzen, um zur Stabilisierung der weltweiten und europäischen Energiemärkte beizutragen.

Das Problem besteht jedoch darin, dass fast alle kasachischen Exporte nach Europa über Russland laufen, vor allem über das Netz des Kaspischen Pipeline-Konsortiums, wodurch Moskau erheblichen Einfluss auf diesen Handel hat. Damit kasachische Öllieferungen an den Kontinent erhöht werden können, müssen neue Routen entwickelt werden, um das russische Territorium zu umgehen. Eine wichtige Option ist die transkaspische internationale Transportroute, auch als „Mittlerer Korridor“ bekannt, die Kasachstan, Turkmenistan, Aserbaidschan, Georgien, die Türkei und Europa unter Umgehung der traditionellen russischen Routen miteinander verbindet. Die ersten wichtigen Gespräche über die Entwicklung des Mittleren Korridors fanden am 15. Juni in Brüssel statt.

 

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Aserbaidschan verfügt ebenfalls über wichtige bestehende Energieverbindungen nach Europa. Italien bezog im Januar und Februar dieses Jahres 43,3 Prozent der Ölexporte des Landes. Allerdings wird Aserbaidschan aufgrund seiner im Vergleich zu den zentralasiatischen Ländern begrenzten Ressourcen eher als Transitland denn als Lieferant gesehen. Aserbaidschan kann jedoch eine entscheidende Rolle bei der Steigerung der Gasexporte nach Europa spielen, insbesondere durch den Südlichen Gaskorridor, der die Baku-Tiflis-Erzurum-Pipeline, die Transanatolische Erdgaspipeline (TANAP) der Türkei und die Transadriatische Pipeline (TAP) umfasst. Die Ausweitung der Exporte über diesen Korridor erfordert jedoch erhebliche Investitionen, um die Kapazität der Pipelines zu erhöhen. Die TANAP beispielsweise wurde mit einer Kapazität von 16 Milliarden Kubikmetern pro Jahr konzipiert, während die TAP eine Kapazität von zehn Milliarden Kubikmetern pro Jahr hat. Zum Vergleich: Die russischen Gaslieferungen in die EU-Länder belaufen sich auf 175 bis 200 Milliarden Kubikmeter pro Jahr.

Wichtige Region für Russland

Für Turkmenistan hingegen ist Europa noch kein wichtiger Markt, da etwa 80 Prozent seiner Gasexporte nach China gehen. Es gibt jedoch Pläne, diese Lieferungen durch die vorgeschlagene Transkaspische Gaspipeline zu erhöhen, die an das TANAP- und TAP-System angeschlossen werden könnte. Das Übereinkommen von 2018 über den Rechtsstatus des Kaspischen Meeres könnte dazu beitragen. Nach dem von Aserbaidschan, Iran, Kasachstan, Russland und Turkmenistan unterzeichneten Abkommen ist für die Verlegung einer Pipeline entlang des kaspischen Meeresbodens nur die Zustimmung des Landes erforderlich, durch dessen Hoheitsgewässer sie verlaufen soll. Das Projekt, das rund fünf Milliarden Dollar kosten würde, hat eine geschätzte Länge von 300 Kilometern und eine Kapazität von 30 Milliarden Kubikmetern pro Jahr.

Für Russland ist das Kaspische Meer sowohl aus Sicherheits- als auch aus wirtschaftlichen Gründen eine wichtige Region. Aus sicherheitspolitischer Sicht trennt es Russlands südliche Grenzen vom Iran, verschafft Moskau eine Präsenz in der oft unbeständigen Kaukasusregion und dient als Standort, von dem aus Angriffe in Syrien gestartet werden können. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das Meer eine Verbindung zu den kaspischen Ländern und birgt große Reserven an natürlichen Ressourcen. Ende vorigen Monats besuchte der russische Präsident Wladimir Putin Aschgabat in Turkmenistan, um an dem kaspischen Gipfel teilzunehmen – seine erste Reise außerhalb Russlands seit Beginn des Krieges in der Ukraine. Putin erörterte mit den Präsidenten von Aserbaidschan, Iran, Kasachstan und Turkmenistan Möglichkeiten der Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen.

Russland wird die Region genau beobachten, um sicherzustellen, dass sich das Kräfteverhältnis nicht zu sehr zugunsten des Westens verschiebt. Im Moment ist Moskau aus mehreren Gründen nicht allzu besorgt über die Fähigkeit des Westens, seinen Einfluss zu untergraben. Erstens weiß der Kreml, dass eine rasche Steigerung der Energieexporte nach Europa nahezu unmöglich ist. Dazu müsste die Kapazität bestehender Pipelines erhöht oder neue gebaut werden – namentlich die Transkaspische Gaspipeline, die eine Investition von mehreren Milliarden Dollar erfordern würde und Jahre bis zur Fertigstellung bräuchte. Zweitens könnte die Teheraner Konvention – ein Rahmenwerk zur Verhinderung, Verringerung und Kontrolle der Umweltverschmutzung in der kaspischen Region, das von allen fünf Ländern am Kaspischen Meer unterzeichnet wurde – Moskau dabei helfen, Energie- und Infrastrukturprojekte auf Jahre hinaus zu verzögern.

Ernstzunehmende Konkurrenz

So plant Kasachstan beispielsweise, den kaspischen Meeresboden auszubaggern, um Schiffen den Zugang zu Ölplattformen zu erleichtern, wenn der Meeresspiegel sinkt. Das Projekt könnte die Meeresökologie beeinträchtigen, was Russland als Grund für eine Verzögerung bei der Umsetzung nutzen könnte. Hinzu kommt, dass das Kaspische Meer noch immer nicht vollständig abgegrenzt ist. Gemäß dem Übereinkommen über den Rechtsstatus des Kaspischen Meeres muss die Abgrenzung des Meeresbodens und des Meeresuntergrunds im Einvernehmen mit allen angrenzenden und gegenüberliegenden Staaten vorgenommen werden. Dies könnte jegliche Infrastrukturprojekte in der Region weiter erschweren.

Russland ist für sein wirtschaftliches Wohlergehen weiterhin in hohem Maße von Energieexporten abhängig, ebenso wie seine traditionellen Verbündeten am Kaspischen Meer. Langfristig wird Moskau jedenfalls vor der schwierigen Aufgabe stehen, seine Präsenz in dieser strategisch wichtigen Region auszubauen, die sich zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten auf dem Energiemarkt entwickeln dürfte.

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