Energie-Experte Michael Sterner - „Es ist eine Illusion, dass die Atomkraft zurückkommt“

Die Dynamik des Ausbaus erneuerbarer Energien sei immens und mittlerweile unabhängig davon, welche Parteien regieren, sagt der der Energie-Experte Michael Sterner. Einen Boom der Atomenergie in anderen Staaten hält er für illusorisch.

Photovoltaik-Anlagen vor dem Kernkraftwerk Emsland, 31.07.2022 / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jakob Ranke ist Volontär der Wochenzeitung Die Tagespost und lebt in Würzburg. Derzeit absolviert er eine Redaktions-Hospitanz bei Cicero.

So erreichen Sie Jakob Ranke:

Anzeige

Michael Sterner ist Professor an der Forschungsstelle Energienetze und Energiespeicher (FENES) der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg. Zuletzt veröffentlichte er den Bestseller „So retten wir das Klima“.

Herr Sterner, derzeit produziert die Energiewende einige Störgeräusche: Schleppender Netzausbau, hohe Strompreise, und die CO2-Bilanz ist auch zweifelhaft. Hand aufs Herz, wie sieht die Energieversorgung Deutschlands in zehn Jahren aus?

Wir werden massiv Wind und Sonne ausgebaut haben, weil das einfach die günstigsten Energieträger sind, mit dem größten Potential und dem geringsten Flächenverbrauch. Es ist immer dieser Dreiklang. Beim Ausbau erneuerbarer Energien geht es nicht mehr nur um Umwelt- oder Klimapolitik, sondern knallhart um Standortsicherung. Weltweit wird jeden Tag ein Gigawatt Leistung an Photovoltaik installiert – so viel wie vor 20 Jahren in einem Jahr. China hat allein letztes Jahr so viel Photovoltaik zugebaut, wie die Vereinigten Staaten insgesamt haben. Die Dynamik ist immens. Dieser globale Trend wird sich fortsetzen, egal welche Regierungen im Amt sind.

Die Kosten mögen – in der Erzeugung – konkurrenzfähig sein, aber zumindest der Flächenverbrauch ist doch bei Windenergie und Photovoltaik massiv, oder etwa nicht?

Wenn Sie sich mal auf Google Maps den Braunkohletagebau Garzweiler anschauen, der ist so groß wie Köln. Aber klar, nur für die Verbrennung hochverdichteter fossiler Energieträger brauchen wir relativ wenig Platz. Nur ist dieser Energietresor aus Kohle, Öl und Gas ratzfatz leer, und der in der Atmosphäre deponierte CO2-Müll verursacht den menschengemachten Klimawandel, der die Grundfesten unserer Öko- und Wirtschaftssysteme erschüttert und uns vom Planeten fegen kann. Es ist also gut und mehr als vernünftig, dass wir davon wegkommen.

Michael Sterner / dpa

 

 

Das Problem, gerade hinsichtlich der Kosten, ist ja, dass es nicht reicht, einfach nur Windkraftwerke und Solarpaneele aufzustellen. Für die Grundlast brauchen wir eine Backup-Lösung.

Genau. Um die schwankende Stromerzeugung durch Wind und Sonne auszugleichen, brauchen wir vier Elemente: Netze, Speicher, flexible Kraftwerke und flexible Lasten. Einen Teil der Schwankungen können wir kompensieren, indem wir den Bedarf verschieben, etwa das Elektroauto dann laden, wenn viel Strom produziert wird. Bei der Heizung klappt das schon weniger gut, wenn es kalt ist und alle mit Wärmepumpen heizen und noch die Heizstäbe angehen. Und die Industrie kann auch nur begrenzt den Bedarf verschieben. Netze sind wichtig, schaffen aber nur einen räumlichen Ausgleich, das heißt, sie bringen nichts, wenn europaweit kaum Wind weht. Und mit zwei bis drei Wochen „Dunkelflaute“ im Jahr dürfen wir rechnen, in denen wir trotz Flexibilität und Netzausbau eine Lücke von 60 bis 70 Gigawatt, im Extremfall 90 Gigawatt gesicherter Leistung brauchen. Wenn wir da nichts vorhalten, gibt's wirklich einen Blackout. Und auf das Ausland würde ich mich bei dieser Frage der nationalen Sicherheit nicht verlassen. Da wir aus Atom- und Kohlekraft aussteigen, brauchen wir Gaskraftwerke und Blockheizkraftwerke und entsprechende Speicher dahinter. Der Atom- und Kohleausstieg ohne Speichereinstieg führt in den Blackout. Die gute Nachricht ist, die Technologien dafür sind alle da. Darüber habe ich auch ein Buch geschrieben und diese Lösungen einfach erklärt, weshalb es ein Bestseller wurde.

Die Bundesregierung will erstmal zehn Gigawatt an wasserstofffähigen Gaskraftwerken zubauen. Das wird dann wohl kaum reichen, oder?

Kohlekraft sichert momentan 40 der 90 Gigawatt ab. Wenn wir da ausgestiegen sind, bleibt eine Lücke, die wir nicht mit 10 Gigawatt abdecken können. Andererseits ist es ein pragmatischer Anfang, was ich begrüße. Solche Gaskraftwerke sind das einzige, was jetzt schnell zu bauen ist. Für reine Wasserstoff-Kraftwerke haben wir noch keine Infrastruktur. Außerdem gibt es noch gar keine erprobten Wasserstoffkraftwerke, die auch mal über ein Jahr gefahren wurden und gezeigt haben, dass sie sicher über einen längeren Zeitraum funktionieren. Davon abgesehen wurden jetzt einige Sachen angekündigt, die wir teils seit 15 Jahren fordern. Zum Beispiel kostet es mittlerweile jedes Jahr vier Milliarden Euro, dass überschüssiger erneuerbarer Strom weggeschmissen wird. Der soll jetzt endlich für die elektrolytische Gewinnung von Wasserstoff genutzt werden dürfen, und entsprechende Hürden sollen fallen, was sehr sinnvoll ist. Wir haben das Konzept der Kopplung von Strom- und Gasnetzen, genannt „Power to Gas“, vor 15 Jahren erfunden und immer nur gehört: zu teuer, zu ineffizient. Aber ohne das packen wir keine Dunkelflaute! Jahrelang wurde der Netzausbau priorisiert und der Speicherbau vernachlässigt. Wir brauchen aber beides!

Von welcher Art Speicher reden wir?

Angedacht ist momentan, zusätzlich zum Wasserstoff-Import mit dem überschüssigen Strom per Elektrolyse Wasserstoff herzustellen, der dann – auch langfristig – gespeichert und bei Bedarf wieder verstromt wird. Allerdings haben wir noch keine Wasserstoffnetze. Und dazu hat reiner Wasserstoff nur ein Drittel der Energiedichte von Methan, einem Hauptbestandteil von Erdgas. Wenn man das bei den üblichen 200 bar Betriebsdruck speichert, hat man im Vergleich zu Methan nur ein Viertel der Energie im gleichen Volumen. Hätten wir im Winter 2022/23 Wasserstoff statt Erdgas in den Speichern gehabt, wäre es kalt geworden. Zudem wird ein Teil des Wasserstoffs in den unterirdischen Speichern zu Methan gewandelt und dabei wieder fossiles CO2 aus der Erde geholt. Und es dauert fünf bis zehn Jahre, bis Sie neue Wasserstoffspeicher genehmigt und gebaut bekommen. 

 

Mehr zum Thema:

 

Ich sehe also momentan nicht, dass die Konzentration auf reine Wasserstoffspeicher ein sinnvoller Weg ist. Würde man noch einen Schritt weiter gehen und den Wasserstoff in Methan umwandeln, verliert man zwar zehn bis 15 Prozent Wirkungsgrad, gewinnt aber dafür die ganze bestehende Gasspeicherinfrastruktur. Das kann direkt bei der Wasserstoffgewinnung erfolgen und somit grünes Gas über die Pipeline oder als LNG importiert werden. Oder wenn wir den Wasserstoff schon haben, könnte er darüber auch direkt an den Gasspeichern als grünes Gas mit den gleichen Eigenschaften wie Erdgas eingespeichert und beim Ausspeichern CO2 und Wasserstoff wieder über das Standardverfahren für Wasserstoffherstellung zurückgewonnen werden. Das ist technisch der einfachste Weg, große Mengen von Ökostrom zu speichern, um damit über die Dunkelflaute zu kommen. 

Aus meiner Sicht sollten wir deshalb nicht nur auf Wasserstoff setzen, sondern auch auf Power-to-Gas. Oder denken Sie an die Industrie: In der Zement-, Kalk-, Ziegel- oder Glasherstellung werden zum Beispiel riesige Öfen betrieben, die alle mit Erdgas laufen. Sollen die jetzt alle rausgeschmissen und durch Wasserstoffbrenner ersetzt werden? Schwierig, solange noch kein bezahlbarer Wasserstoff da ist. Der braucht das Wasserstoffkernnetz, wozu es noch bei keinem Unternehmen eine finale Investitionsentscheidung gibt – trotz Milliardenförderung aus Brüssel und Berlin. Warum? Weil ein hoher Eigenbehalt bei den Unternehmen bleibt und den Banken und Investoren wie Pensionsfonds das Verlustrisiko im Falle des Scheiterns zu hoch ist.

Einfach den überschüssigen Strom in Gas umwandeln und speichern, und schon passen Stromerzeugung und Verbrauch auch bei hundert Prozent erneuerbarer Energie wieder zusammen? Das klingt fast zu gut, um wahr zu sein … 

Technisch ist das kein Problem, genug Wind und Sonne dafür hat Deutschland. Und das CO2, das wir benötigen, um aus Wasserstoff Methan zu machen, ist momentan noch recht unkompliziert aus industriellen Prozessen zu beziehen, bei denen CO2 sonst einfach freigesetzt wird – etwa in der Zementherstellung oder aus Biogas. Es dürfte allerdings wirtschaftlicher sein, zumindest Teile des „grünen Methans“ aus Regionen zu importieren, die es noch billiger herstellen können. Auch dafür haben wir bereits die Infrastruktur – etwa die LNG-Terminals. Würde man stattdessen „grünen Wasserstoff“ importieren, bräuchte es neben neuer Infrastruktur auch noch die dazu nötigen Genehmigungsverfahren und Sicherheitsprüfungen. All das kostet Zeit und Geld. Wenn es technisch sicher und auch bezahlbar ist, wird auch eine reine Wasserstoffwirtschaft zum Laufen kommen. 

Viel Geld kostet die Energiewende auch dann noch, wenn man, wie von Ihnen dargestellt, die Erdgasinfrastruktur inklusive vorhandener Speicher nutzt, oder? Der Netzausbau soll ja rund 450 Milliarden Euro kosten, dazu kämen dann mindestens noch die Gaskraftwerke und die Elektrolyseure. Haben Sie eine Vorstellung, wie viel insgesamt auf uns zukommt?

Das ist pauschal schwer zu beziffern. Die meiste Zeit, wenn der Bedarf durch Wind und Sonne gedeckt wird, ist es sehr günstig und es fallen fast keine Kosten an. In den Zeiten der Dunkelflaute, wenn die Gasturbine mit dem gespeicherten Gas läuft, haben wir hohe Kosten. Im Schnitt können wir zwischen fünf und zehn Cent pro Kilowattstunde rechnen. Das ist für eine klimaneutrale Stromversorgung absolut wettbewerbsfähig.

Wer stellt denn am Ende sicher, dass die Elektrolyseure und Gaskraftwerke gebaut werden? Gerade wenn deren teure Energie nur selten gebraucht wird, lohnt sich ja ein Betrieb nicht.

Genau, deshalb braucht es dafür den Kapazitätsmarkt, der jetzt auch geplant wird. Das ist neben dem Strommarkt ein anderes System, das dafür sorgt, dass vorgehaltene Kapazität auch bezahlt wird. Einen solchen Markt gibt es bereits bei der Regelleistung, welche die Netzstabilität sicherstellt. Wir brauchen die Gaskraftwerke nicht dafür, dass sie möglichst viel laufen, sondern dass sie zur Verfügung stehen, wenn sie gebraucht werden. Wie die Feuerwehr, die Pleite wäre, wenn wir sie nur nach Einsätzen bezahlen würden. 

Wenn man sich jetzt mal das Gesamtpaket Energiewende anschaut, also dezentrale volatile Energieerzeugung, mit dem ganzen Rattenschwanz, der daran hängt – Netzausbau, neue Gaskraftwerke, Speicher, Elektrolyseure, Kapazitätsmarkt, aber auch die aufwändige verbrauchsseitige Flexibilisierung –, wäre es da nicht einfacher gewesen, mit dem bisherigen System im Wesentlichen weiterzumachen und zwecks Dekarbonisierung lediglich die Kohlekraftwerke durch Kernkraftwerke zu ersetzen, statt im Gegenteil auch noch daraus auszusteigen? Den deutschen Weg geht doch kein anderes Industrieland mit, stattdessen soll die Atomkraft vielerorts ausgebaut werden. Sogar in der EU gilt die Kernkraft mittlerweile als „strategisch“ wichtig für das Erreichen der Klimaneutralität.

Es ist eine absolute Illusion, dass die Atomkraft zurückkommt. Weltweit ist die Atomkraft auf dem absteigenden Ast: In den letzten 20 Jahren gingen 110 Reaktoren außer Betrieb und 103 neu ans Netz, also fünf pro Jahr. Selbst wenn alle Laufzeitverlängerungen weltweit so kommen wie genehmigt, wären für den Erhalt der gleichen Menge an Atomstrom immer noch zehn neue Atomkraftwerke zu bauen in den nächsten 27 Jahren: doppelt so viele wie bisher. Wer soll die bauen? Unabhängig davon haben wir in Deutschland nach wie vor kein Endlager, und bisher ist jeder hundertste Atomreaktor havariert – also Harrisburg, Tschernobyl und vier Blöcke in Fukushima bei insgesamt 600 gebauten Reaktoren. Hätten wir Fluggäste, wenn jedes hunderste gebaute Flugzeug in seiner Lebenszeit abstürzt?

Selbst wenn man mal davon absieht, bleiben immer noch das Kostenthema und die Zuverlässigkeit. 2022 sind in Frankreich 50 Prozent der Atomkraftwerke außer Betrieb gewesen, und wir haben 61 Prozent mehr Strom ins Ausland exportiert als importiert; EDF (die staatliche französische Elektrizitätsgesellschaft) ist mit 65 Milliarden Euro hoch verschuldet. Kernkraftwerke, die in Europa in letzter Zeit gebaut wurden, hatten, wie man in Finnland sehen kann, zehn bis 15 Jahre längere Bauzeiten und dreifach höhere Kosten als geplant. 

Auch eine neue Firma für Minireaktoren musste zugeben: Wir sind nicht konkurrenzfähig zu Wind- und Solarstrom. Hinkley Point in Großbritannien wurde nur gebaut, weil ein über 30 Jahre fixierter inflationsangepasster Abnahme-Strompreis samt EU-Bürgschaft dahinter steht. Das ist ja schon eine Bankrotterklärung. Sie finden hier keine seriöse Bank, keinen Pensionsfonds, der bei so einem hohen Risiko investiert. Selbst wenn wir Investoren finden: Wer soll sie bauen? Bei uns gibt es die Ingenieure nicht mehr. Die Amerikaner fallen aus, Westinghouse ist 2017 pleite gegangen und heute in der Hand von Firmen, die keine Erfahrung im Kraftwerksbau haben. Die Franzosen sind finanziell überfordert, die Südkoreaner sind auch pleite. Die chinesischen Atomfirmen sind von den Amerikanern geblacklistet worden, was eine Zusammenarbeit extrem schwierig macht. Die einzigen, die technisch und personalmäßig in der Lage wären, neue Atomkraftwerke in Europa zu bauen, sind die Russen. Und können Sie sich das in den nächsten 20, 30 Jahren vorstellen?

Sagen Sie es mir. Wie stellen sich die Polen, Schweden oder Niederländer das vor? Erstere wollen übrigens Westinghouse-Reaktoren bauen …

Naja, das sind Ankündigungen. Und die Realität schaut anders aus: Wer hat denn wirklich die finale Investitionsentscheidung getroffen? Keiner.

Das Gespräch führte Jakob Ranke.

 

Gerd Ganteför im Gespräch mit Axel Meyer und Michael Sommer 
„Was Kernenergie angeht, ist Deutschland etwas besonderes“ 

Anzeige