Die teuerste Stadt der Welt

London, Paris, Zürich? Alle ein teures Pflaster, keine Frage. Aber nicht so teuer wie Oslo.

Die Spendenbox der Heilsarmee ist gut gefüllt. Neben zahlreichen Ein-Dollar-Noten sind in der Halbkugel aus Plexiglas mehrere Fünf-Euro-Scheine erkennbar, mindestens ein halbes Dutzend. Ein erster Hinweis auf den Reichtum der Stadt und ihrer Bürger? „Die wurde seit Monaten nicht geleert“, antwortet Rune Havsten. Den Mitarbeiter am Information Desk des Flughafen Gardermoen überrascht nicht, dass Oslo die teuerste Stadt der Welt sein soll: „Reisende sagen uns das schon lange.“ Doch im Jahr 2006 behauptet es erstmals auch die Economist Intelligence Unit, die Analysefabrik des britischen Economist. Nach 14 Jahren zieht Oslo an Tokio vorbei, verkündete das Wirtschaftsblatt (siehe Tabelle auf Seite 104). Am Geldautomat erscheinen daher 1000 Norwegische Kronen eine gute Wahl, kleinere Beträge werden auch gar nicht ausgegeben. Schnell wird klar, warum: Ein belegtes Baguette mit kleiner Cola kostet am Kiosk gegenüber 70 Kronen, bei einem Wechselkurs von rund acht zu eins sind das knapp neun Euro. „Man muss die Scheu vor dem Geldausgeben verlieren“, sagt Hans-Jörg Trenz mit einem wissenden Lächeln. Aus seinem Büro im zehnten Stock des Eilerts Sundts Hus geht der Blick von der Anhöhe des Universitätsgeländes über die Stadt auf den Oslo-Fjord mit seinen kleinen Inseln. Der deutsche Sozialwissenschaftler wechselte 2005 nach der Habilitation in Berlin an das Europa-Institut der Universität Oslo. Trenz macht vor allem die hohe Mehrwertsteuer von 25 Prozent und ein schmales Warenangebot in dem bevölkerungsarmen Land mit nur 4,6 Millionen Einwohnern für die hohen Preise verantwortlich. Er erinnert sich gut an erste ernüchternde Besuche im Supermarkt: exorbitante Preise insbesondere für Gemüse, Milchprodukte und Fleisch, wenig Auswahl. Für norwegische Kollegen sei das Preisniveau jedoch kein Thema, hat er festgestellt. „Die haben in der Familie in der Regel zwei Einkommen, zwei Autos, eine Hütte in den Bergen, ein Sommerhaus am Meer und oft ein eigenes Boot“, beschreibt er seine Wahrnehmung der norwegischen Mittelschicht. Auch die hohen Steuern würden hier klaglos akzeptiert. „Ich habe sogar den Eindruck, viele Norweger sind stolz darauf, dass sie diese Steuern zahlen können.“ Trenz’ Thesen bestätigt ein Besuch im Supermarkt „Mini Pris“: Eine Dose Carlsberg-Bier kostet drei Euro, Heineken wird für 5,50 Euro pro Liter verkauft, eine Packung Zigaretten für 9,40 Euro. Während Alkohol und Tabak aufgrund drastischer Konsumsteuern besonders teuer sind, verdanken die norwegischen Tomaten ihren stolzen Preis von vier Euro pro Kilo einem konsequenten Agrarprotektionismus: Italienische Tomaten haben den gleichen Preis wie jene aus norwegischen Gewächshäusern. Selbst kleine Cocktail-Tomaten gibt es aus heimischer Produktion für 87,60 Kronen pro Kilo, mehr als zehn Euro. Auch Käsesorten aus Frankreich oder Holland sind mindestens so teuer wie das heimische Konkurrenzprodukt. Echte Luxusgüter sind in der norwegischen Hauptstadt hingegen schwer zu finden, die zentrale Einkaufsmeile Karl Johans Gatan kommt funktional und schmucklos daher. Gucci, Prada & Co haben in Oslo keine eigenen Geschäfte. Den preistreibenden Nationalstolz offenbaren aber nicht nur Tomaten und Milchprodukte. Man findet seine Spuren auch auf den Speisekarten im ehemaligen Werftviertel Aker Brygge, das mit seinen am Fjord gelegenen Restaurants und Geschäften in moderner Architektur zu einem Magneten für Einheimische und Touristen geworden ist. Das subventionierte Walfisch-Steak kostet hier weniger als der üblicherweise konkurrenzlos günstige Hackfleischbraten. Die schwedische Kellnerin bringt also Walfisch mit Spinat und Kartoffelspalten für 30 Euro, dazu den günstigsten Wein der Karte, einen Chablis für zehn Euro. Der Tag endet mit Erdbeeren und Vanillesoße für elf Euro. Øyvind Såtvedt will sich durch die Preisnotizen des Vortages nicht beeindrucken lassen, ein Beleg für teures Leben in Oslo sieht er darin schon gar nicht. Der Berater des regierenden Stadtkommissars Erling Lae arbeitet in einem Büro im Erdgeschoss des Osloer Rathauses, gegenüber dem Mosaiksaal, in dem die Friedensnobelpreise verliehen werden. Er zitiert eine Studie des Forschungsinstituts Synovate MMI: „Ein Bürger von Oslo braucht durchschnittlich eine Stunde und 59 Minuten, um das für die Lebensmittel einer Woche notwendige Einkommen zu verdienen. Das sind 40 Minuten weniger als in Stockholm und fünf Stunden und 43 Minuten weniger als in der estnischen Hauptstadt Tallinn.“ Es sei völlig klar, dass Oslo nicht durch geringe Kosten oder niedrige Steuern im internationalen Wettbewerb der Städte erfolgreich sein könne, sagt Såtvedt. Doch in seinen Gesprächen mit Unternehmern spielten Steuerbelastung und Arbeitskosten nur eine nachrangige Rolle: Krippen- und Kindergartenplätze, ein guter öffentlicher Nahverkehr und ein interessantes Kulturangebot stünden ganz oben auf der Wunschliste. Såtvedt steht auf, greift ein Buch aus dem Regal und legt „The Rise of the Creative Class“ von Richard Florida auf den Tisch. In seinem Bestseller aus dem Jahr 2002 erkläre der Soziologe, dass künftig die Unternehmen den kreativen Menschen folgten, nicht die Beschäftigten den Unternehmen, und dass die kreative Klasse als Kern zukunftsfähiger Wertschöpfung sich vor allem in Städten mit hoher Lebensqualität ansiedele. Såtvedt ist davon überzeugt, dass diese Analyse richtig ist: „Wir wollen Oslo zu einer attraktiven Creative City machen.“ Im siebten Stock des westlichen Rathausturmes stimmt Oppositionsführer Rune Gerhardsen mit diesem Ziel überein. Im hohen Preisniveau der Stadt sieht auch der Sozialdemokrat kein Problem, schließlich gehörten die Norweger auch zu den Spitzenverdienern der Welt. Das norwegische Sozialprodukt pro Kopf sei mit rund 34600 Euro das zweithöchste der Welt, hinter Luxemburgs 56900 Euro, aber vor den drittplatzierten USA mit 33600 Euro. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern, darauf weist der Volkswirt ausdrücklich hin, sei die Einkommensverteilung im egalitären Norwegen sehr flach: „Bad jobs werden hier besser bezahlt als irgendwo sonst auf der Welt, top jobs eher schlecht.“ Gibt es überhaupt Probleme in Oslo? Gerhardsen, dessen Vater Einar von 1945 bis 1965 das Land als Premierminister regierte, muss kurz nachdenken. Ja, man habe eine „Invasion“ ausländischer Bettler erlebt, die von Schlepperbanden mit Touristenvisa ins Land geschmuggelt worden seien. Auch die wachsende Zahl von Prostituierten aus Osteuropa und Afrika bereitet dem 60-Jährigen Sorgen. Doch insgesamt ist Gerhardsen sehr stolz auf die Dynamik Oslos, das er von 1991 bis 1997 als Stadtkommissar regiert hat. Die Einwohnerzahl habe im vergangenen Jahr um drei Prozent auf jetzt 540000 Einwohner zugenommen. Viele Norweger ziehen in die boomende Hauptstadt, obwohl die Immobilienpreise hier zwei- bis dreimal so hoch sind wie im Rest des Landes. Mietwohnungen gibt es kaum, aber Kredite zum Wohnungskauf werden aufgrund der erwarteten Wertsteigerung selbst an Studenten problemlos vergeben. Die Wirtschaft Norwegens wächst seit drei Jahren ohne Unterbrechung, in vielen Branchen werden Arbeitskräfte langsam knapp. Allein im vergangenen Jahr sind 30000 Bürger der neuen EU-Mitgliedsstaaten in das dem Schengen-Raum zugehörige Norwegen gekommen. Vor allem Polen sind in Bauwirtschaft und Landwirtschaft inzwischen unersetzbar. Am Hafen von Oslo warten Fahrrad-Rikschas mit polnischen Werbeaufdrucken für Sprachkurse. Der Optimismus der norwegischen Hauptstadt ist in allen Gesprächen spürbar, sei es mit Studenten vor der modernen Universitätsbibliothek, mit Call-Center-Mitarbeitern in ihrer Mittagspause am Hafen oder abends mit hinter ihren Laptops versteckten Grafik-Designern in den Kneipen des Szene-Viertels Grüner-Løkka. Ein wichtiger Grund für die kollektive Zuversicht ist der ständig wachsende Kontostand des Landes. Hinter zwei unscheinbaren Schiebetüren aus Bronze und verspiegelten Fenstern verbirgt sich am Bankplassen Nr. 2 die norwegische Zentralbank. Hier wird nicht nur die Geldpolitik des Landes gemacht, hier werden auch die milliardenschweren Einnahmen des nach Saudi-Arabien und Russland größten Öl- und Gasexporteurs der Welt verwaltet. Im Dezember 1969 wurden die ersten Vorkommen in der Nordsee entdeckt, die Förderung begann rechtzeitig zum ersten Ölpreisschock 1973, seit 1975 wird exportiert. 1990 richtete die Regierung einen Ölfonds ein. Als 1996 der Staatshaushalt erstmals einen Überschuss aufwies, wurden die ersten zwei Milliarden Kronen eingezahlt. Seitdem wird gespart. Von der Empfangshalle mit hellgrauem Marmor und schwarzen Ledermöbeln führt Ingvild Svendsen durch die Sicherheitsschleuse in ein schmuckloses Besprechungszimmer. Für die Ökonomin ist es keine Frage, dass die jahrelange Deflation in Japan für Oslos Spitzenposition als teuerster Stadt der Welt vor Tokio verantwortlich ist. Norwegen sei in den vergangenen Jahren nicht teurer geworden. Das Land bemüht sich nach Kräften, die makroökonomischen Effekte seines Ölreichtums zu minimieren. Als mit dem Vermögen auch die Ideen zu seiner Verwendung wuchsen, wurde der Ölfonds volkspädagogisch geschickt in „Pensjonsfonds“ umbenannt und 2001 einem sehr weitsichtigen Regelwerk unterworfen. „Nur der jährliche Netto-Anlageertrag des Fonds, rund vier Prozent des Vermögens, darf in den Staatshaushalt fließen. Auf diese Weise bleibt die Substanz unangetastet. Sie wächst, solange die Ölvorkommen reichen, und stellt danach eine konstante Einnahmequelle dar. Damit können wir einen Teil der künftigen Rentenansprüche finanzieren“, erklärt Svendsen. Das Vermögen betrug bei der letzten Bilanzierung im Sommer 2006 bereits 1505 Milliarden Norwegische Kronen, rund 190 Milliarden Euro. Im Haushalt für 2006 wurden knapp neun Milliarden Euro Ölertrag eingeplant. Ingvild Svendsen berichtet mit erkennbarem Stolz darüber, dass der Fonds von Experten der OECD als Musterbeispiel für einen klugen Umgang mit Bodenschätzen gepriesen wird. Erst kürzlich habe sich eine Delegation aus Kasachstan hier darüber informiert, wie man die Gewinne eines kurzen Ölzeitalters in ein ewig fließendes Einkommen verwandelt. Aber Norwegen ist kein Petrostaat, der sein Wohlergehen nur dem schwarzen Gold verdankt. Svendsen blättert im Monatsbericht der Zentralbank, zeigt dann eine Statistik, der zufolge das Land ohne Berücksichtigung des Ölsektors seit 2003 jährlich real um rund vier Prozent wächst. Das Erfolgsgeheimnis der norwegischen Volkswirtschaft fasst sie mit der Formel „Wasserkraft plus Weltwirtschaft“ zusammen: Erstens habe das Land schon lange vor dem ersten Tropfen Öl seine Wasserfälle als kostengünstige Energiequelle entdeckt. Das staatliche Wasserkraftunternehmen stelle der Wirtschaft den Strom konkurrenzlos günstig zur Verfügung. Zweitens sei der Heimatmarkt so klein, dass viele Betriebe eine profitbale Größe nur mit einem hohen Exportanteil erreichen könnten. Norwegische Unternehmen seien daher schon lange international sehr erfolgreich, das Land ein Gewinner der Globalisierung. Von der Zentralbank läuft man nur wenige Minuten bis zur Festung Akershus. In der Nähe legen die kleinen Fähren der öffentlichen Verkehrsbetriebe ab. Auf der Fahrt hinaus zu den Fjordinseln fällt der Blick auf das am Kai liegende Kreuzfahrtschiff „Marco Polo“, das einzige sichtbare Zeichen für Reichtum. Norwegens Hauptstadt protzt nicht mit Luxus für wenige – sondern dadurch, dass es den alten Traum westeuropäischer Sozialstaaten, Wohlstand für alle, immer noch lebt. Wenn das Land die Nerven behält und seinen Pensjonsfonds nicht plündert, wird dieser Traum noch lange weitergehen. Nils aus dem Moore leitet das Cicero-Ressort Kapital

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