Deindustrialisierung - Chemieindustrie: Dampf im Kessel

Die Bundesrepublik verdankt der Chemieindustrie einen beachtlichen Teil ihres Wohlstands. Doch mit einer verfehlten Energiepolitik treibt Deutschland seinen drittgrößten Industriezweig aus dem Land.

BASF-Chemiepark in Ludwigshafen am Rhein / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Stefan Laurin ist freier Journalist und Herausgeber des Blogs Ruhrbarone. 2020 erschien sein Buch „Beten Sie für uns!: Der Untergang der SPD“.

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Salpeter war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein gefragter Rohstoff. Die aus Sedimentgesteinen gewonnene Stickstoffverbindung diente als Düngemittel und zur Sprengstoffherstellung. Doch die natürlichen Vorkommen waren begrenzt, und Deutschland war auf den Import von Salpeter angewiesen. Bis es dem Chemiker Fritz Haber, Sohn eines jüdischen Chemikalienhändlers aus Breslau, gelang, Stickstoff aus der Luft zu binden und Ammoniak herzustellen. Bei der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) entwickelte Carl Bosch darauf aufbauend eine Methode zur großindustriellen Ammoniaksynthese. Im September 1913 nahm die erste Haber-Bosch-Anlage in Oppau bei Ludwigshafen ihren Betrieb auf und lieferte bald 40 Tonnen Ammoniak am Tag.

Diese Erfindung brachte Haber und Bosch den Nobelpreis ein, trug zur weltweit führenden Rolle der deutschen Chemieindustrie bei und sichert bis heute die Ernährung der Menschheit. Nur in dem Land, das sie hervorbrachte, wird die Ammoniaksynthese wohl bald keine Rolle mehr spielen. Der Grund: Sie findet bei hohen Temperaturen und unter hohem Druck statt. Das kostet enorme Mengen an Energie. Und die ist inzwischen Mangelware.

Einer der größten Standorte Deutschlands

Die BASF, größter Chemiekonzern der Welt, hat wegen der hohen Gaspreise eine seiner beiden Ammoniakanlagen am Stammsitz in Ludwigshafen stillgelegt. Erdgas wird dort als Energieträger und als chemischer Rohstoff gebraucht. Die SKW Stickstoffwerke Piesteritz in Sachsen-­Anhalt, Deutschlands größter Ammoniak­hersteller, haben ihre Produktion bereits deutlich gedrosselt. Branchenexperten halten es für möglich, dass Ammoniak bald gar nicht mehr im Inland produziert wird.

Denn er lässt sich gut verflüssigen und in Tankschiffen über die Weltmeere transportieren. Oder in Pipelines. Er kann dort hergestellt werden, wo Energie günstiger und zuverlässiger zur Verfügung steht. Vordenker der Transformation Richtung Klimaneutralität begrüßen das. In der Chemiebranche selbst wachsen die Zweifel und die Verzweiflung. Nicht wegen des Ammoniaks, das ist nur ein Beispiel. Sondern weil der gesamte Industriezweig, nach Auto- und Maschinenbau der drittgrößte des Landes, um seine Zukunft bangt – und das Gefühl hat, von der Politik nicht ernst genommen zu werden. In Marl etwa.

Die knapp 85.000 Einwohner große Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets ist mit dem Steinkohlebergbau und der Chemieindustrie groß geworden. Auguste Victoria, die letzte Zeche der Stadt, schloss 2015. Die Chemie ist geblieben. Der Standort ist einer der größten Deutschlands. 10 000 Menschen arbeiten im Chemiepark Marl auf sechs Quadratkilometern Fläche. Und man sieht dort, was so charakteristisch für diese Branche ist: Verschiedenste Anlagen großer und kleiner Firmen sind eng miteinander verwoben. Was die eine erzeugt, wird in einer anderen weiterverarbeitet. Abfallprodukte gibt es so gut wie keine. Jeder Stoff, der bei einem chemischen Verfahren übrig bleibt, kann wieder für ein anderes genutzt werden.

Trotzdem macht sich Fährmeister Sorgen

Im Chemiepark Marl stehen 100 unterschiedliche Produktionsanlagen, die durch 1200 Kilometer Rohrleitungen miteinander verbunden sind. Weitere Pipelines binden die BP-Raffinerie in Gelsenkirchen, das Stahlwerk von Thyssenkrupp in Duisburg und mittelständische Unternehmen in Dorsten an. Der Chemiepark ist Teil einer gewaltigen Wertschöpfungskette, eine Nachhaltigkeitsmaschine. Was in Gelsenkirchen für die Produktion von Benzin und Diesel nicht benötigt wird, nutzt man in Marl zur Herstellung von Grundstoffen für die Reifenproduktion.

„Wir sind Teil eines Industrie­netzwerks“, sagt ­Adriane Fährmeister, Betriebsratsvorsitzende des Evonik-Gemeinschaftsbetriebs in Marl. „Wenn ein Teil wegbrechen würde, würden es alle sofort merken.“ Fährmeister vertritt 7000 der 10 000 Beschäftigten, die anderen arbeiten bei anderen Unternehmen, die allerdings alle einmal Teil des großen Chemiebetriebs waren, der 1938 als Chemische Werke Hüls AG gegründet wurde und dann immer wieder seinen Namen änderte: Hüls AG, Degussa – im Laufe der Jahrzehnte hingen viele Schilder am großen Werkseingang an der Paul-Baumann-Straße.

Die Jobs im Chemiepark sind begehrt. Evonik kann sich seine Auszubildenden aussuchen. Ein Schlosser verdient hier nach Abschluss der Ausbildung 3800 Euro brutto im Monat, und zwar 14 Mal im Jahr. Dazu kommen Zusatzversicherungen und viele weitere Vorteile. Trotzdem macht sich Fährmeister Sorgen: „Evonik verkauft immer mehr Unternehmensteile. Zwar sind die Arbeitsplätze durch den Kündigungsschutz bis 2032 abgesichert, aber das Kernunternehmen, das ja einst alle Anlagen hier vor Ort betrieb, wird immer kleiner.“ Nun überlegt sich Evonik, den Bereich Technology & Infrastructure auszugliedern. Ob er verkauft wird, ist noch offen. Bei Technology & Infrastructure arbeitet Tanja Soschinski, die sich auch im Betriebsrat engagiert: „Wir wissen nicht, was passiert und was langfristig aus uns wird.“

Motor des westdeutschen Wirtschaftswunders

Jahrzehntelang ging es der chemischen Industrie in Deutschland sehr gut. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie ein Motor des westdeutschen Wirtschaftswunders und kannte eigentlich nur eine Richtung: nach oben. Ihre Zentren, die sich noch während der Kaiserzeit entlang des Rheins gebildet hatten, waren trotz der Bombardierungen weniger stark zerstört als befürchtet, erklärt der Wirtschaftshistoriker Ralf Peters, der im Konzernarchiv von Evonik arbeitet. „Mit dem Marshallplan unterstützten die Westalliierten den industriellen Wiederaufbau. Das Interesse, die chemischen Anlagen schnell wieder in Betrieb zu nehmen, war groß.“ Und als Rohstoff stand nun Erdöl zur Verfügung, das günstiger als die heimische Steinkohle war und sich einfacher verarbeiten lässt.

„Es gab eine regelrechte Ölschwemme. Das billige Erdöl hat der Chemie ab den frühen 1950er Jahren einen Boom beschert, der bis nach der Ölkrise in den 1970ern anhielt“, so Peters. Die zur Produktion benötigte Energie kam weiterhin aus Kohlekraftwerken, nach und nach stellte die Industrie auf Erdgas um.

In den 1980er Jahren geriet die erfolgsverwöhnte Branche dann aber unter öffentlichen und politischen Druck. Anlass war der Brand einer Lagerhalle des Chemiekonzerns Sandoz bei Basel. Mit dem Lösch­wasser gelangten rund 30 Tonnen Pflanzenschutzmittel in den Rhein und vergifteten Fische flussabwärts bis Mannheim. Es war das Jahr des Reaktorunfalls von Tschernobyl. Die erstarkte Umweltbewegung und ihr damals noch junger parlamentarischer Arm, die Grünen, reagierten auf das Großunglück und die nur schleppende Informationspolitik des Unternehmens und der Behörden mit umfangreichen Protesten. Wenige Jahre später kam eine Serie von Störfällen bei der Frank­furter Hoechst AG hinzu. Der gravierendste: Am Rosenmontag 1993 regnete ein gelbes, klebriges und giftiges Chemikaliengemisch über Teile der Stadt nieder.

 

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„In dieser Zeit übte die Politik massiven Druck auf die chemische Industrie aus, verschärfte die Vorschriften und forderte mehr Investitionen in Umweltschutz und Sicherheit“, sagt Historiker Peters. „Natürlich hätte das die Unternehmen dazu veranlassen können, in andere Länder zu gehen, in denen die Umweltvorschriften laxer sind. Aber sie blieben.“ Warum das so war? „Großchemische Anlagen zu bauen und ins Laufen zu bringen, ist sehr aufwendig. Eine Autofabrik ist dagegen ein Kinderspiel.“ Es habe daher ein großes Interesse gegeben, die Anlagen in Deutschland weiterlaufen zu lassen – auch weil man dazu eine gut eingearbeitete Belegschaft braucht.

Die deutschen Chemiekonzerne gingen trotzdem in die Welt. Denn nach dem Ende des Kalten Krieges begann in den 1990ern die Phase der Globalisierung. BASF, Bayer und viele andere Firmen bauten Werke in Nordamerika, Asien und Osteuropa und eroberten sich dort neue Märkte. Auch hoch spezialisierte mittelständische Unternehmen, von denen es in der Chemiebranche zahlreiche gibt, eröffneten neue Standorte in anderen Ländern. Den industriellen Kern im Heimatland schwächte das nicht. Im Gegenteil: Firmen, die im Ausland erfolgreich waren, investierten auch in Deutschland.

Ergebnislos verlaufender Chemie-Gipfel

Das ist der Trugschluss, dem nun einige erliegen: Weil die deutsche Wirtschaft in der Vergangenheit sehr widerstands- und anpassungsfähig war und dadurch jeder Krise getrotzt hat, wird sie das auch in Zukunft so sein. Dass aus der Chemie­industrie seit Monaten ein Alarmruf nach dem anderen kommt, scheint in der Bundesregierung niemanden wirklich zu kümmern. Als handle es sich um leere Drohungen und übertriebenes Getöse, um politische Zugeständnisse und Subventionen zu erzwingen.

Ende September trafen sich die Spitzenvertreter der Branche zum weitgehend ergebnislos verlaufenden Chemie-Gipfel im Kanzleramt. Der Vorstandsvorsitzende des börsennotierten Spezial­chemiekonzerns Lanxess aus Köln, Matthias Zachert, hatte die Ampelkoalition kurz zuvor in einem Interview mit der Welt überraschend deutlich kritisiert. „Die chemische Industrie leidet unter den zu hohen Energiekosten, einer überbordenden Bürokratie und Regulierungswut sowohl in Berlin als auch in Brüssel und an zu hohen Industriesteuersätzen. So haben wir in Deutschland vier- bis fünfmal höhere Energiekosten als in unseren Wettbewerberregionen“, sagte Zachert. „Wenn das so bleibt, werden wir als Lanxess nicht mehr in Deutschland investieren. Dann werden wir quasi auswandern.“

Auf die Nachfrage, was genau er mit dieser Drohung meine, schob der Spitzenmanager nach: „Wir werden eine schleichende Abwanderung erleben. Unrentable Betriebe in Deutschland werden schließen müssen. Investitionen werden nicht mehr in Deutschland stattfinden, sondern anderswo. Produkte, die hier nicht mehr konkurrenzfähig hergestellt werden können, kommen dann demnächst aus den USA, China oder anderen Märkten. Wahrscheinlich in den wenigsten Fällen von den ausländischen Töchtern deutscher Unternehmen, sondern eher von unseren internationalen Wettbewerbern.“

Deutliche Worte

Es ist ungewöhnlich, dass sich Industriechefs so deutlich zu Wort melden. Zwar zweifeln viele von ihnen an der bürokratischen, wohlstandsgefährdenden Wirtschafts- und Transformationspolitik der Europäischen Union und der Bundesregierung. Doch dies offen auszusprechen, trauen sich die wenigsten. Aus Angst vor den Finanzmärkten, denn dort kommt die Erzählung vom klimaneutralen Totalumbau noch immer gut an. Und aus einem betriebswirtschaftlichen Opportunismus heraus: Wer von Subventionen profitieren will, widerspricht nicht dem, der sie verteilt.

Die Debatte um den Industriestrompreis zeigt, wohin die Reise geht. Denn die Idee ist offensichtlicher Irrsinn. Man muss kein Wirtschaftsnobelpreisträger sein, um das zu erkennen. Erst wird Energie durch politische Entscheidungen mutwillig verknappt und verteuert, dann sollen die desaströsen Folgen dieser Milliarden verschlingenden Politik mit weiteren Milliarden notdürftig kaschiert werden. Gewerkschaften und Industrieverbände kämpfen dafür mit aller Kraft. Ohne den Industriestrompreis, einen staatlichen Zuschuss zu den Stromkosten energieintensiver Großbetriebe, sei Schluss mit der Chemie in Deutschland, warnen sie.

Liberale Ökonomen und Regierungsberater wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm hingegen sträuben sich vehement gegen die Strompreissubvention. „Wenn wir auf eine klimaneutrale Produktion umstellen, haben wir in einigen Bereichen schlicht keinen Standortvorteil mehr. Die Strompreise werden mittelfristig hoch bleiben, auch ein Industriestrompreis hilft nicht. Der ist mit sechs Cent je Kilowattstunde veranschlagt. Gute Standorte mit erneuerbaren Energien kommen auf unter zwei Cent“, rechnet Grimm vor. „So oder so wird eine Verlagerung der energieintensiven Produktion kommen. Wir hätten also – wenn sich das durch den Industriestrompreis verzögert – nur viel gezahlt und nichts gewonnen.“

Laborangestellte in Piesteritz im Jahr 1958 / dpa

Die Nürnberger Ökonomin spricht damit offen aus, was Apologeten der Energiewende oft nicht wahrhaben wollen: Das Märchen vom billigen Strom durch Wind und Sonne bleibt ein Märchen. Zumindest in Deutschland. Und weil die Bundesrepublik anders als die meisten anderen Industriestaaten beim Abschied von fossilen Energieträgern auf die CO2-arme Kernkraft verzichten will, werden bestimmte Industriezweige hier keine Zukunft haben. Wozu sie also noch durch Milliardensubventionen an den staatlichen Tropf hängen und künstlich am Leben halten?

Veronika Grimm schlägt stattdessen vor: „Gemeinsam mit der Chemieindustrie sollte man überlegen, wie man Importe von energieintensiven Grundstoffen wie Ammoniak oder Methanol in großen Mengen anstoßen kann. Dabei sollte man gleich auf die Diversifizierung von Lieferbeziehungen achten, um neue Abhängigkeiten zu vermeiden.“

Bei Michael Vassiliadis, dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), stoßen solche Überlegungen auf Widerspruch. „Natürlich kann man Grundstoffe irgendwo in der Welt kaufen. Aber wollen wir das? Wollen wir uns wirklich auf Importe verlassen? Und wenn das bei uns wegbricht, was machen wir dann stattdessen? Diese Fragen werden gar nicht diskutiert. Es passiert einfach, als Unfall.“ Die Stimmung unter den Gewerkschaftsmitgliedern sei deshalb gekippt. „Am Anfang waren die Arbeitnehmer in der Chemieindustrie aufgeschlossen und engagiert; sie wollten ihren Beitrag zur Transformation leisten. Inzwischen überwiegen Sorge und Fassungslosigkeit. Sie glauben nicht mehr daran, dass es klappt. Das Vertrauen in die Politik ist auf einem Tiefpunkt.“

Was Ökonomen und Politiker, die vom Schreibtisch aus über den radikalen Umbau eines ganzen Industriezweigs fabulieren, nicht berücksichtigen: „Chemiewerke sind wie Schweizer Uhrwerke“, sagt Vassiliadis. „Sie lagern nichts mehr zwischen, sondern alles ist miteinander verbunden. Wenn da von unten etwas wegbricht, geht das vielleicht noch. Aber wenn in der Mitte jemand wegbricht, bricht alles weg.“ Mit „von unten“ meint der Gewerkschafter die energieintensive Herstellung jener Grundstoffe wie Ammoniak, die – wenn die Energiekosten in Deutschland hoch bleiben – bald nur noch im Ausland stattfindet. Dass dann aber auch „in der Mitte“ der eng vernetzten Chemieproduktion etwas wegbrechen könnte, ist eine reale Gefahr.

Schleichende Deindustrialisierung

Vor der warnen nicht nur Arbeitnehmervertreter wie Vassiliadis, sondern auch nüchtern ökonomisch denkende Branchenkenner wie Markus Mayer, Chemieexperte bei der Baader Bank. „Wenn die Grundstoffindustrie abwandert, hat die Folgeindustrie keinen Grund hierzubleiben“, sagt Mayer. „Es ist eine Frage der Effizienz. Bestimmte Chemikalien werden aus Nebenprodukten von anderen hergestellt. Das macht im Zusammenspiel Sinn, alleine aber nicht mehr.“ Das zweite Problem, das Mayer sieht, ist kein rein wirtschaftliches, sondern eher ein politisches: „Europa läuft in neue Abhängigkeiten hinein.“

Auf dieses Argument legt man auch beim Verband der Chemischen Industrie (VCI) Wert, der Seite an Seite mit der Chemiegewerkschaft für den subventionierten Industriestrompreis kämpft. „Natürlich können Sie Grundstoffe wie Ammoniak auf dem Weltmarkt kaufen. Aber es ist eine elementare strategische Frage, ob Europa wirklich auf eine eigene Düngemittelproduktion verzichten sollte. Zumal Ammoniak ja auch von Ad Blue bis zur Kopfschmerztablette unentbehrlich ist. Wir meinen: Das ist keine gute Idee“, sagt VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup.

Aus den Mitgliedsunternehmen seines Verbands höre er keine guten Nachrichten. „Viele Mittelständler, die zum Teil schon in der fünften Generation ihr Familienunternehmen führen, sagen, dass sie sich nach anderen Standorten umschauen. In Asien und den USA zum Beispiel“, so Große Entrup. „Die werden ihren Stammsitz in Deutschland nicht sofort aufgeben, aber sie investieren hier nicht mehr, sondern woanders.“

Damit beschreibt der Verbandsgeschäftsführer die Stimmungslage in weiten Teilen der deutschen Industrie. Und damit eine Gefahr, die in der Bundespolitik offenbar noch nicht ganz erkannt worden ist: die einer schleichenden Deindustrialisierung. Sie ist eine direkte Folge der deutschen Energiepolitik. Um sie zu stoppen, wäre ein Innehalten notwendig und das Eingeständnis, dass der bisherige Weg der Energiewende eine Sackgasse ist. Doch zu so viel Ehrlichkeit fehlt es den Verantwortlichen an Mut.

Selbst Wirtschaftsvertreter wie Wolfgang Große Entrup trauen sich nicht, das Grundproblem zu benennen. Der geforderte Industriestrompreis sei ja nur „eine Brücke von kurzer Dauer“, gibt er eins zu eins die Position von Wirtschaftsminister Robert Habeck wieder. Diese Brücke soll in ein utopisches Himmelreich führen, in dem Wind-, Solarstrom und „grüner“ Wasserstoff üppig und günstig zur Verfügung stehen. „Wir glauben an die Ausbauziele der Bundesregierung“, sagt Große Entrup.

Er muss das wohl so sagen. Denn ansonsten hieße die Wahrheit: Der Industriestrompreis wird eine Dauersubvention, mit der sich die einst stolze chemische Industrie, die einen erheblichen Beitrag zum Wohlstand dieses Landes geleistet hat, vom politischen Willen der Regierenden abhängig macht.

Industrieland Deutschland

Im Chemiepark Marl macht man sich derweil keinerlei Illusionen. „Chemie, das muss jedem klar sein, wird niemals eine komplett CO2-freie Industrie werden“, sagt Ali Simsir, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender des Evonik-Gemeinschaftsbetriebs. Das sei technisch unmöglich. „Aber die Produkte, die wir hier in Marl herstellen, finden sich zum Beispiel in Windrädern, speziellen Autoreifen und in Elektrofahrzeugen. Wir helfen der Gesellschaft, wesentlich mehr CO2 einzusparen, als wir erzeugen.“ Und dann spricht Simsir aus, was der Kern des Ganzen ist: „Deutschland muss sich überlegen, ob es ein Industrieland bleiben will.“

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