Was wusste der BND über den Wirecard-Betrüger? - Jan Marsalek in Moskau: Der Finanz- wird zum Geheimdienstskandal

Der größte Wirtschaftsskandal der Bundesrepublik wird immer mehr zum Agentenkrimi: Jan Marsalek, der schillernde Hauptverdächtige mit besten Kontakten in Politik und Sicherheitsbehörden, soll nach Moskau geflohen sein. Und der deutsche BND weiß schon seit Monaten davon.

Merkwürdig: Das BKA fahndet nach Jan Marsalek, während der deutsche Auslandsgeheimdienst dessen Unterschlupf längst kennt / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Die Fahndungsplakate hängen auf Polizeiwachen in ganz Deutschland: „Jan Marsalek, Ex-Vorstandsmitglied der Wirecard AG, steht in dringendem Verdacht, sich des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in Milliardenhöhe, des besonders schweren Falls der Untreue und weiterer Vermögens- und Wirtschaftsstraftaten strafbar gemacht zu haben. Aktuell befindet er sich auf der Flucht.“ Darunter zwei große Fotos des Gesuchten, einmal mit Taliban-Bart und einmal glattrasiert, und der dringende Aufruf: „Können Sie Hinweise zum Aufenthaltsort von Jan Marsalek geben?“

Die groß angelegte Öffentlichkeitsfahndung der Staatsanwaltschaft München und des Bundeskriminalamts hat sich inzwischen wohl erledigt. Vielleicht war sie sogar nur eine Scheinaktion. Denn deutsche Sicherheitsbehörden wissen längst, wo Marsalek, einer der Hauptverdächtigen im größten Börsen- und Finanzskandal der Bundesrepublik, steckt: in Moskau. Aber erst nachdem Bild darüber berichtete, bemühte sich Deutschland darum, an ihn heranzukommen. Die Münchner Staatsanwaltschaft hat der Zeitung zufolge ein Inhaftnahmeersuchen an die russische Regierung geschickt. Sie bitte um Festnahme und Auslieferung. Bestätigt wurde das bisher nicht.

Jan Marsalek ist eine schillernde Figur. Der Österreicher bewegte sich zwischen Halbwelt und großer Politik, im Geheimdienstmilieu und auf dem Börsenparkett. Als der mutmaßliche Milliardenbetrug um gefälschte Bilanzen des Zahlungsdienstleisters Wirecard aufflog und das als Aktiengesellschaft geführte Unternehmen 2020 zusammenbrach, tauchte der damals in München lebende Manager unter. Dass er nach Russland geflohen sein könnte, wurde zwar vermutet. Aber die Ermittler kamen ihm nicht richtig auf die Spur. Oder wollten sie es vielleicht gar nicht?

Russischer Geheimdienst soll ein Verhör angeboten haben

Am 11. April enthüllte die Bild-Zeitung, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst BND (Bundesnachrichtendienst), schon seit vergangenem Jahr ein Versteck des untergetauchten Ex-Wirecard-Vorstands in Moskau kennt. Er soll etwa 25 Kilometer vom Kreml entfernt in einer gut gesicherten Wohnanlage untergekommen sein und dort möglicherweise bis heute leben – unter Obhut des russischen Geheimdienstes FSB.

Anfang 2021 soll der FSB dem deutschen BND sogar angeboten haben, dass dieser Marsalek vernehmen könne. Die Offerte lief laut Bild jedoch ins Leere. „Das war ausgerechnet zu jener Zeit, als das Kanzleramt Merkels Zeugen-Vernehmung vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestags vorbereitete. Merkel hatte sich unvorsichtigerweise in China für Wirecard engagiert. Aussagen Marsaleks kurz vor der Merkel-Vernehmung und im aufziehenden Bundestagswahlkampf waren ein politisches Risiko. Wollte man das vermeiden?“, mutmaßt die Zeitung.

Dass die bayerischen Ermittler, die angeblich nichts von diesem Gesprächsangebot des FSB wussten, nun mit ihrer Auslieferungsbitte Erfolg haben werden, ist eher unwahrscheinlich. Russlands Präsident Putin weiß, welchen Wert sein Gast hat. Er wird Marsalek nicht ohne Not ziehen lassen. Interessant werden aber die innenpolitischen Reaktionen auf die neueste Wendung im verworrenen Fall Wirecard. Denn viele drängende Fragen zur Rolle deutscher Politiker und Behörden in dem Milliardenskandal sind nach wie vor offen. Auch der Bundestags-Untersuchungsausschuss konnte sie nicht beantworten.

Vom Wirtschaftskrimi zum Spionage-Thriller

In ihrem Sondervotum zum Abschlussbericht betonten die damaligen Oppositionsfraktionen FDP, Linke und Grüne: „Die Rolle der Sicherheitsbehörden und das große Interesse des flüchtigen Ex-Wirecard Managers Jan Marsalek an Sicherheitstechnologie sowie die Positionierung von Wirecard als potenzieller Zahlungsabwickler im Umfeld von Sicherheitsbehörden ist zudem nicht hinreichend geklärt.“ Der im Raum stehende Verdacht lautet, dass deutsche Spitzenpolitiker und womöglich auch Strafverfolger den mutmaßlichen Betrüger schonen, weil der Fall Wirecard nicht nur ein Wirtschaftskrimi, sondern auch ein Spionagethriller ist. Für Nachrichtendienste sind Zahlungsdaten eine wertvolle Informationsquelle. Dass Wirecard deshalb das Interesse des einen oder anderen Nachrichtendienstes weckte, keine abwegige Vorstellung.

Der grüne Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz – Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das die Nachrichtendienste des Bundes überwacht – äußert sich diplomatisch, aber mit Nachdruck. „Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, die genauen Hintergründe dieses krassen Betrugsfalles, eines der größten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, lückenlos aufzuklären“, teilt von Notz mit. „Hierzu gehört auch, den Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek und seine Komplizen in Deutschland juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Ich erwarte die schnellstmögliche Auslieferung. Alle verantwortlichen Stellen und Sicherheitsbehörden sind in der Pflicht, ihr Wissen bezüglich der Hintergründe vorbehaltlos offenzulegen.“

Was der BND gegenüber dem geheim tagenden Kontrollgremium zum Fall Marsalek und dessen Moskauer Unterschlupf bereits offengelegt hat, verrät der Grünen-Politiker zwar nicht. Aber dem letzten Satz seiner Stellungnahme ist zu entnehmen, dass er damit nicht zufrieden ist.

Kommt ein neuer Untersuchungsausschuss?

Es ist gut möglich, dass die nun bekannt gewordene BND-Verwicklung zu einem neuen Untersuchungsausschuss führen wird. Die Initiative dazu müsste diesmal aber wohl von der Union kommen, denn die führt nun die Opposition an. Dass Marsalek gute Kontakte zu CDU- und CSU-Politikern pflegte, ist da eher hinderlich.

Sein Komplize, der ehemalige Vorstandsvorsitzende Markus Braun, wird sich wohl bald vor Gericht verantworten müssen. Die Münchner Staatsanwaltschaft hat gegen den Ex-Wirecard-Chef und zwei weitere ehemalige Spitzenmanager Anklage erhoben. Der Vorwurf: Sie sollen seit 2015 die Bilanzen gefälscht und kreditgebende Banken um insgesamt 3,1 Milliarden Euro geschädigt haben – davon 1,7 Milliarden Euro an Krediten und weitere 1,4 Milliarden an Schuldverschreibungen. Brauns Verteidiger beteuern allerdings dessen Unschuld.

Laut Anklage waren die Wirecard-Bilanzen von 2015 bis 2018 falsch - eine geprüfte Bilanz für 2019 kam schon nicht mehr zustande. Im Juni 2020 meldete die einst als deutsches Technologie-Vorzeigeunternehmen geltende Wirecard Insolvenz an. Auslöser waren bis heute vermisste 1,9 Milliarden Euro, die angeblich auf Treuhandkonten verbucht waren.

Laut Ermittlungen waren dies jedoch Scheinbuchungen großen Stils. Wirecard wickelte als Zahlungsdienstleister Kreditkartenzahlungen an Ladenkassen und im Onlinehandel ab. Die mutmaßlich nicht existenten Milliarden wurden als Erträge von Partnerfirmen verbucht, die angeblich im Wirecard-Auftrag Zahlungen abwickelten.

Geschädigt wurden durch den Zusammenbruch nicht nur Banken und Investoren, sondern auch Zehntausende Aktionäre. Wirecard war nach dem Aufstieg in den Dax an der Börse 2018 zeitweilig über 20 Milliarden Euro wert.

mit dpa-Material


 

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