Ausblick auf die Weltwirtschaft 2023 - Deglobalisierung, Stagflation und das chinesische Risiko

Wir erleben derzeit den Beginn einer neuen Ära in der Geoökonomie – und die damit verbundenen Trends werden sich im neuen Jahr fortsetzen und verstärken. Das bedeutet viele Probleme, von Stagflation bis hin zu einer unter Druck geratenden Tech-Branche. Aber es gibt auch Chancen. Vorausgesetzt, die Politik erkennt die Zeichen der Zeit.

Amerikanische Geisterstadt im Jahr 1937: Josephine, Pennsylvania / picture alliance
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Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Die Welt ist immer im Wandel, aber manche Veränderungen sind bedeutsamer als andere. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine wird wahrscheinlich als der Beginn einer neuen Ära in der Geoökonomie in Erinnerung bleiben. In Reaktion auf den Krieg hat der Westen Sanktionen gegen Russland verhängt und damit den Wirtschaftskrieg eskaliert, den der Kreml begonnen hatte, als er die Ukraine am Handel mit der Welt über seine Häfen hinderte. Moskau antwortete mit einer drastischen Reduzierung der Erdgasexporte nach Europa. Die Unsicherheit und die Vergeltungsmaßnahmen lösten eine Energiekrise aus. Und der Krieg lenkte die Aufmerksamkeit erneut auf die wachsende Kluft zwischen dem Westen und einem im Entstehen begriffenen revisionistischen Block unter Führung Chinas und Russlands. Es ist schwierig, einen Weg zurück zum Status quo ante bellum zu finden, aber einige wichtige Trends, die das nächste Jahrzehnt bestimmen werden, sind deutlich geworden.

Protektionismus und globale Neuausrichtung

Bereits in den Jahren vor Corona haben China, Russland, Iran und Nordkorea die wirtschaftliche, finanzielle, sicherheitspolitische und/oder geopolitische Ordnung in Frage gestellt, die die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hatten. Die scheinbar unaufhaltsame Globalisierung hatte begonnen, sich zu verlangsamen oder sogar umzukehren. Die Pandemie brachte die Dinge ins Rollen, beschleunigte das Reshoring (Zurückverlagerung der Produktion ins Ursprungsland) und das so genannte Friendshoring (Verlagerung der Produktion in befreundete Länder) und entzog den Entwicklungsländern ausländische Investitionen.

Der Krieg in der Ukraine und seine wirtschaftlichen Nebenwirkungen setzen die Entwicklungsländer noch mehr unter Druck. Im Jahr 2022 zögerten die meisten von ihnen es hinaus, sich zwischen dem Westen und Russland zu entscheiden – in der Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts, die ihren wirtschaftlichen Schmerz lindern würde. Ein Beispiel dafür ist aber auch Ungarn, das wie viele Entwicklungsländer von russischer Energie und anderen Rohstoffen abhängig ist, um seine Wirtschaft aufrechtzuerhalten – und daher vor einem Abbruch der Beziehungen zu Moskau zurückschreckt. Budapest hat sich bemüht, das Fortschreiten der westlichen Sanktionen gegen Russland zu verlangsamen. Andere Länder haben die Verabschiedung von Sanktionen gegen Russland ganz vermieden.

In Europa hat der Konflikt zwischen Russland und dem Westen das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Unternehmen in die nahe Zukunft erschüttert und es fast unmöglich gemacht, mit russischen Unternehmen Geschäfte zu machen. Andernorts wenden Unternehmen Zeit und Ressourcen auf, um zu prüfen, ob ihre Geschäfte Sanktionen nach sich ziehen werden, und suchen nach Alternativen, wann immer dies möglich ist. Das Schwarze Meer ist de facto ein Kriegsgebiet – was den Vorteil hat, dass Investitionen in die Infrastruktur auf dem Landweg interessanter werden, und den Nachteil, dass sich der Seehandel verteuert.

Risikofaktor China

So wichtig die Entwicklungen in Europa auch sind: China und seine innere Stabilität könnten im Jahr 2023 die bedeutendere wirtschaftliche Herausforderung sein. Angesichts zunehmender Proteste gegen Ende des Jahres hat die chinesische Regierung ihre Null-Covid-Politik aufgegeben, ohne einen Plan B zu haben. Es ist unklar, ob dies dem chinesischen Staatschef Xi Jinping Kopfzerbrechen bereiten wird, zumal die Lockerungen zeitlich zwischen dem Beginn des politischen Übergangs im November und dessen Ende im März liegen, wenn die meisten Beamten in ihren neuen Ämtern bestätigt sein werden. Unterdessen verschärfen die Vereinigten Staaten ihren Handelskrieg mit China.

Das Ergebnis wird wahrscheinlich eine schwache wirtschaftliche Erholung Chinas im Jahr 2023 sein. Die anhaltende Schwäche des Immobiliensektors hat die positiven Impulse in anderen Wirtschaftsbereichen überlagert, und die Angst vor einer Finanzkrise belastet die privaten Investitionen. Die zunehmende Jugendarbeitslosigkeit ist ein weiteres gefährliches Element in diesem Zusammenhang. Peking hat in jüngster Zeit Schritte unternommen, um die Liquiditätskrise des Immobiliensektors zu lösen, braucht aber politische Stabilität, um die Maßnahmen wirksam werden zu lassen.

 

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Das sind keine guten Nachrichten für die Weltwirtschaft. So sehr sich der Westen auch von den Ereignissen in China abkoppeln möchte, sind Europa und die USA immer noch von wichtigen Vorprodukten aus China abhängig. Der Stillstand in China hat zu Problemen in den Lieferketten geführt, und die politische und wirtschaftliche Instabilität des Landes könnte diese noch verlängern. Der Konsum und die Industrietätigkeit gehen in den Vereinigten Staaten sowie in Europa bereits zurück, und ein Ende der Energiekrise ist nicht in Sicht. Eine Krise in China würde alles nur noch schlimmer machen.

Stagflation und Greenflation

Neben der weltweiten Konjunkturabschwächung sieht sich die Welt zum ersten Mal seit den 1970er-Jahren gleichzeitig einer hohen Inflation gegenüber. Zu den Ursachen für diesen Inflationsschub gehören die zu lange beibehaltene, zu lockere Geld- und Finanzpolitik, die Umstrukturierung des Welthandels infolge der Pandemie und der drastische Anstieg der Kosten für Energie, Industriemetalle, Düngemittel und Lebensmittel als Konsequenz aus dem Ukrainekrieg. Verärgert über die ungleiche Verteilung der Globalisierungsgewinne forderten die Wähler mehr staatliche Unterstützung für die Arbeitnehmer und die Zurückgebliebenen. Wie gut gemeint diese Politik auch sein mag, sie birgt die Gefahr einer Inflationsspirale, wenn Löhne und Preise nicht mehr Schritt halten können. Der zunehmende Protektionismus schränkt auch den Handel ein und behindert den Kapitalverkehr, wodurch Verbesserungen auf der Angebotsseite eingeschränkt werden.

In dem Maße, in dem die Energiekrise eine hohe Inflation verursacht, werden Investitionen in erneuerbare Energien den Inflationsdruck abmildern. Der Ausbau der Kapazitäten für erneuerbare Energien wird jedoch einige Zeit in Anspruch nehmen, und in der Zwischenzeit wird zu wenig in die Kapazitäten für fossile Brennstoffe investiert. Letztere werden aber Vorrang haben. Darüber hinaus wird die grüne Transformation die Entwicklung neuer Lieferketten für bestimmte Metalle erfordern und die Energiekosten im Allgemeinen erhöhen, was zu einer sogenannten „grünen Inflation“ führt. Gleichzeitig altert die Bevölkerung nicht nur in den westlichen Industrieländern, sondern auch in China und einigen anderen Schwellenländern rapide

Die Zukunft der Technik

Der Krieg in der Ukraine hat auch in der Technologiebranche zu Verwerfungen geführt. Während die meisten Sektoren unter rückläufigen Investitionen und der schwierigen Gesamtsituation leiden, scheint es die Technologiebranche am stärksten zu treffen. Twitter zum Beispiel hat seine Belegschaft um 50 Prozent reduziert, und die Facebook-Muttergesellschaft Meta entlässt 11.000 Mitarbeiter, also etwa 13 Prozent ihrer Beschäftigten. Amazon hat Berichten zufolge 10.000 Stellen gestrichen, was etwa einem Prozent seiner weltweiten Belegschaft entspricht. In der Zwischenzeit ist FTX, die zweitgrößte Kryptowährungsbörse der Welt, die kürzlich noch mit 32 Milliarden Dollar bewertet wurde, zusammengebrochen. Die vollständigen Auswirkungen des Kollapses sind noch unklar, aber andere Kryptounternehmen haben die Auswirkungen bereits zu spüren bekommen.

Vorbei sind die Zeiten der frühen 2000er-Jahre, als die globalen Märkte relativ stabil waren und die auf billigen Arbeitskräften basierenden Lieferketten zuverlässig funktionierten. Damals waren die Unternehmen zunehmend auf das Internet angewiesen, um ihr Geschäft auszubauen, und die Tech-Firmen profitierten von den niedrigen Zinssätzen. Doch die Faktoren, die das schnelle Wachstum der frühen 2000er-Jahre begünstigten, sind heute zunehmend unbeständig, da die Weltwirtschaft in den ersten Phasen der Umstrukturierung steckt.

Wie Unternehmen in anderen Sektoren werden sich viele Tech-Unternehmen nicht erholen, während andere sich anpassen und langsam wieder auf die Beine kommen dürften. Es werden sich neue Möglichkeiten ergeben. Die Umstrukturierung der Fertigungs- und Lieferketten wird Technologie erfordern, und die Automatisierung wird zunehmen – vor allem, wenn die Bevölkerung altert. Noch wichtiger ist, dass die Regierungen wahrscheinlich die Gelegenheit ergreifen werden, die Technologiebranche in bestimmte Richtungen zu lenken. Es wurde viel über die Rolle der sozialen Medien in der Politik und bei der Gestaltung der Politik gesprochen, und infolgedessen hat der Gesetzgeber versucht, Dinge wie Datenschutz und Wettbewerb im Zusammenhang mit sozialen Medienplattformen zu regeln. Auch die Cybersicherheit ist ein Thema, das die Regierungen weltweit immer mehr beschäftigt und das mit der zunehmenden Raffinesse von Cyberangriffen wahrscheinlich auch in Zukunft eine Rolle spielen wird. Die Regierungen werden daher gezwungen sein, bei der Regulierung von Technologien, die nicht nur bei militärischen Zwecken zum Einsatz kommen, mehr Durchsetzungsvermögen zu zeigen.

Schlussfolgerung

Die wichtigsten Trends in der Geoökonomie für das Jahr 2023 und darüber hinaus sind miteinander verknüpft. Die Herausforderungen, die sie mit sich bringen, erfordern einen systematischen, kohärenten Ansatz, aber das politische Führungspersonal in vielen Ländern auf der ganzen Welt tut sich schwer, damit Schritt zu halten. Die Geschwindigkeit des Wandels erfordert ein anderes Instrumentarium, als es die Regierungen gewohnt sind, so dass sie versuchen (und manchmal daran scheitern) werden, sich an die neuen Realitäten anzupassen. Die Zusammenarbeit wird immer schwieriger, aber in einigen begrenzten Bereichen ist sie sogar stärker geworden – etwa im Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland nach der Invasion in der Ukraine.

Selbst wenn die Deglobalisierung an Fahrt gewinnt, wird die gegenseitige Abhängigkeit also nicht völlig verschwinden. Die Umstrukturierung selbst wird ein globaler Prozess sein. Es lässt sich einfach nicht umgehen, dass die Welt heute in einer Weise miteinander verbunden ist, wie es noch nie zuvor der Fall war. Unterschiedliche Sichtweisen werden miteinander in Einklang gebracht werden müssen, und der Platz der Menschen in der Gesellschaft, der über ihren wirtschaftlichen Wert als Verbraucher und ihren politischen Wert als Wähler hinausgeht, wird anerkannt werden müssen. Das menschliche Verhalten, und damit auch das Verhalten des Staates, wird von allem beeinflusst: von Politik und Wirtschaft über Kultur und Psychologie bis hin zur Technologie. Diese Komplexität wird die Herausforderungen und die möglichen Lösungen von morgen bestimmen.


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