Atomkraftwerke - Wir hätten sie gebraucht

Am 31. Dezember gehen drei deutsche Kernkraftwerke in die Zwangsabschaltung, obwohl sich bereits die Erkenntnis durchsetzt, dass der Atomausstieg ein Fehler war. Die Klimaziele werden sich ohne Atomkraft nicht erreichen lassen, und Erneuerbare können den Energiebedarf eines Industrielandes nicht decken.

Nach 36 Jahren vom Netz genommen: Atomkraftwerk Grohnde bei Hameln / dpa
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Autoreninfo

Anna Veronika Wendland ist Historikerin und hat Teile ihrer Habilitationsschrift über die kerntechnische Moderne und die Geschichte der Reaktorsicherheit im nordwestukrainischen Kernkraftwerk Rivne geschrieben. Im Frühjahr 2022 erschien ihr Debattenbuch zum Atomausstieg.

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Sie sind alle weg, die Medienleute und Politiker, die das Kernkraftwerk Grohnde in den letzten Wochen besucht haben, oder sagen wir, eher heimgesucht. Es gab warme Worte vom Umweltminister, dessen Partei das Kraftwerk jahrelang als gefährlich verdammt hat. Plötzlich wollten sie alle die laufende Anlage noch einmal von innen sehen, die Journalisten, die sie vorher in den Ausstieg geschrieben haben. Ab einem bestimmten Punkt dachte die Belegschaft: Wo wart ihr alle, als wir noch eine Chance gehabt hätten?

Jetzt, zwischen den Jahren, kurz vor der Abschaltung, ist es ganz still geworden. Die meisten Beschäftigten in Verwaltung und Werkstätten haben Urlaub. Die Betriebsschichten sind unter sich. Sie ballen die Faust in der Tasche, und ihre Anlage fährt stoisch durch bis zum letzten Tag: 3900 Megawatt thermische Reaktorleistung, 1470 Megawatt elektrische Leistung am Generator. Im Reaktorgebäude herrschen tropische 32 Grad, die Rundgänger kommen selbst in den dünnen Overalls ins Schwitzen. Sie legen die Hand aufs Treppengeländer in den Niedergängen zu den Anlagenräumen und spüren die Vibrationen der schweren Hauptkühlmittelpumpen, die hinter roten Metalltüren ihren Dienst tun. 70 Megawatt braucht Grohnde für seinen Eigenbedarf, netto gehen derzeit 1400 Megawatt hinaus ins Landesnetz, hochgespannt auf 400 Kilovolt. In ein Land, das voller Unsicherheit ist über das, was die Zukunft bringen wird. Wird die Transformation gelingen? Werden uns Erneuerbare je versorgen können? Wann kommen die immer versprochen Speicherlösungen? Warum kommen sie so spät? Reicht der Strom? Werden Strom und Gas immer teurer?

Erkenntnisse, die langsam dämmern

Wir könnten das alles weiterhin haben. Die Atomkraftwerke haben dieselbe CO2-Bilanz wie Windkraft, 12 Gramm pro Kilowattstunde, sind aber so zuverlässig wie die Braunkohle. Sie könnten uns durch einen launischen Winter bringen, in dem über lange Zeiträume nicht genug Wind weht und die Solarenergie keine Rolle spielt. Es wäre sinnvoll gewesen, den Ausbau der Erneuerbaren auf diesem stabilen Sockel Kernenergie aufsetzen zu lassen. Längst ist diese Erkenntnis auch in Deutschland gedämmert. Immer häufiger wird es öffentlich thematisiert: Kein Industrieland der Welt ist auf einem überzeugenden Dekarbonisierungspfad – es sei denn, es nutzt Kernenergie oder Wasserkraft oder beides.

Doch Deutschland besitzt keine nennenswerte Wasserkraft, und die Kernkraft schafft es ab. Der Plan von 2011 wird gnadenlos durchgezogen – nicht, weil man ihn wirklich plausibel begründen könnte, sondern weil es der einzige Plan ist, den man hat in dieser ansonsten planlosen Energiewende. Die Stromkonzerne haben sich das teuer abkaufen lassen und halten still – auch sie schwimmen längst im Trend und beherrschen das Newspeak von der grünen, sanften, smarten neuen Stromwelt, deren Risiken mit viel Staatsgeld zugeschüttet werden. Die deutsche Atomindustrie beerdigt sich aus lauter Dankbarkeit lautlos selbst. Sie hat nie eine Vision über Klimaschutz mit Kernenergie entwickelt – vor Fukushima nicht und danach nicht, als noch Zeit gewesen wäre, Merkels Fehlentscheidung zu revidieren, beispielsweise nach der Unterzeichnung des Klimaabkommens von Paris 2015. Doch man gab sich lieber auf.

Deutschland vs. Wissenschaft

Deutschland entscheidet gegen die Wissenschaft, auf die hören zu müssen seine Eliten gratismutig bei so gut wie jedem Thema in jedes Mikrofon plärren – nur nicht bei der Atomkraft. Die Entscheidung von 2011 erfolgte ohne Datengrundlage über die wirklichen Ursachen des Unfalls von Fukushima, es war eine Entscheidung gegen die Evidenz. Das versuchten Merkel auch ihre eigenen Experten von der Reaktorsicherheitskommission zu erklären – vergeblich. Deutschland entscheidet sich auch gegen den Weltklimarat, der für die Erreichung des 2-Grad-Ziels eine deutliche Steigerung der Kernenergieleistung für notwendig hält. Es stellt sich gegen die Mehrheit der EU-Partnerländer: Hinter den Kulissen führt die Bundesregierung an der Spitze einer antinuklearen Achse Berlin-Wien-Rom einen erbitterten Kampf gegen die Aufnahme der Kernenergie in die EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzprodukte. Gestützt – oder getrieben? – werden unsere Ministerialen von Greenpeace, Anti-Atom-NGOs und der deutschen Klimabewegung, die mit ihrem jüngsten Aufruf „gegen Atomkraft und Erdgas“ einen neuen Gipfel in ihrer an Heucheleien nicht armen Geschichte erreicht hat.

Flankiert wird diese Attacke von deutschen Energiewende- und Klimaforschungs-Professoren, die sich in diesen Tagen angelegentlich mit dem zeitweisen Ausfall von vier französischen KKW befassen. Der endgültige Verlust von drei deutschen KKW und 30 Terawattstunden jährlicher klimafreundlicher Stromproduktion bewegt sie nicht. Stattdessen hören wir Nullsummenspiel-Predigten über die angebliche „Blockade“ der Erneuerbaren Energien durch die Kernenergie – wie so vieles in der deutschen Energiedebatte entbehren auch solche Behauptungen jeder Faktengrundlage, da nicht die Kernenergie Privilegien genießt, sondern die Erneuerbaren, und da die lastfolgefähige Kernenergie in den letzten Jahren ein ums andere Mal gezeigt hat, dass sie sogar sehr gut zu Erneuerbaren passt.

Doch während die Atomkraft mit ihrer guten Klimabilanz aus vollem Recht in der EU-Taxonomie gelistet werden könnte, ist es absurd, das Erdgas hineinzunehmen – jenes Erdgas, von dem die Bundesregierung uns nun auf Gedeih und Verderb abhängig machen möchte, weil es sonst kein anderes Backup für die variablen Erneuerbaren mehr gibt. Die Klimabewegung wiederum schreit sich die Seele aus dem Leib für ein Tempolimit, das allenfalls ein Zwanzigstel bis Dreißigstel jener CO2-Einsparung erbracht hätte, die man hätte mit dem Erhalt der deutschen KKW erzielen können.

Evidenz unerwünscht

Es wurden in diesem Jahr der verpassten Chancen immer dieselben Argumente gegen eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke vorgeschoben. Zuvorderst ein monströs überhöhtes Atommüll-Problem, das aber eigentlich gut lösbar ist. In der Fachwelt besteht hoher Konsens darüber, dass ein tiefengeologisches Langzeitlager die Lösung ist, in der Gesteine die Abdichtungs- und Wächterfunktion übernehmen, die sich seit Jahrmillionen nicht verändert haben und das auch in der nächsten Million Jahre nicht tun werden. In Finnland ist ein solches Endlager im Bau. Auch Zweifel an der Reaktorsicherheit werden als Argument angeführt – mit einer unwissenschaftlichen Irgendwas-kann-immer-passieren-Logik, welche die tatsächlichen Verhältnisse verschleiert. In Wirklichkeit gehört die Kernenergie im Vergleich der Energieindustrien, aber auch vor dem Hintergrund der Schadstoff- und Opferbilanzen anderer Industrien zu den besten Stromerzeugungsformen der Welt.

Hätte eine Anlage wie Grohnde in Tschernobyl und Fukushima gestanden – wir hätten wahrscheinlich von diesen Ortsnamen nie etwas gehört. Grohndes verbunkerte Sicherheitssysteme und Notstromversorgungen widerstehen dem 10.000-jährigen maximalen Hochwasser – Fukushima wurde nur für das 100-jährige maximale Flutereignis ausgelegt. Grohnde besitzt mannigfaltige andere Vorrichtungen, die, hätte es sie in Fukushima gegeben, an jedem der vielen Scheidewege die Abzweigung in den Unfallpfad blockiert hätten. Doch diese Evidenz interessiert die Regierungen im Energiewendestaat Deutschland nicht.

Und deshalb ist die deutsche Antwort auf Klimakrise und Energiepreisexplosion: mehr teures, weil derzeit knappes Erdgas und mehr Gazprom. Jeder russische Panzer, der zurzeit an der Grenze der Ukraine aufrollt, ist auch mit deutschem Gasgeld bezahlt. Jedes neue deutsche Gaskraftwerk, jeder Kubikmeter Gas in der Nord-Stream-2-Leitung ist auch ein russischer Militärstiefel im Nacken der Ukrainer – und eine Axt an der Wurzel unserer Klimaziele. Die Erfüllung von Träumen, diese Kraftwerke könnten irgendwann mit „Grüngas“ befeuert werden, liegt in ferner Zukunft – trotzdem werden uns diese Aussichten verkauft, als wären sie bereits morgen realisierbar.

Das grüne Dilemma

Das Dilemma könnte die Grünen zerreißen: Erreicht unser Land seine Klimaziele nicht, wird das das Ende ihrer Regierungsbeteiligung sein – möchten wir ohne Kernenergie, ohne Braunkohle und ohne Gazprom Klimaziele erreichen, bliebe nur noch ein Ausweg in Verbot und Verzicht, vielleicht Strommangel. Doch auch diesen reinen Wein den Leuten einzuschenken, scheut sich die Bundesregierung – verflogen wäre dann das locker-flockige Aufbruchs-Ambiente der grünliberalen Erneuerung.

In Europa und der Welt wartet man nicht auf uns. Viele Industrieländer des globalen Nordens haben die Signale gehört und engagieren sich wieder für Kernenergie – auch wenn vage Hoffnungen auf neue Reaktorgenerationen ziemlich schnell der Erkenntnis weichen werden, dass der Spatz in der Hand – ein seriell baubarer, sicherheitstechnisch ambitionierter Druckwasserreaktor der Generation 3+ – mehr wiegt als die Small-Modular-Reactor-Taube auf dem Dach. Kurz vor Weihnachten wurde der EPR im finnischen KKW-Block Olkiluoto-3 erstmals kritisch, im Januar soll er Strom ins öffentliche Netz speisen. Das lässt dann vielleicht die Pannen und Missstände auf den Langzeitbaustellen in Frankreich vergessen. KKW der Zukunft, egal welcher Größe, werden nur bestehen können, wenn sie hoch standardisiert und serialisiert, mit vereinheitlichten Genehmigungsverfahren heruntergebaut werden können.

Die fossile Hypothek

Auch das konnten die Deutschen mal: Anlagen wie Grohnde, Brokdorf und Isar-2 hielten ihre Zeit- und Kostenpläne ein. Doch als sie gelernt hatte, kostengünstig Kernkraftwerke zu bauen, hat die deutsche Industrie damit aufgehört – eingezwängt zwischen der Angstpolitik der Anti-AKW-Bewegung und der Lobbymacht der traditionalistischen Fossilokratie. An der Kohle hingen Arbeitsplätze und Identitäten: deswegen hing man an ihr. Die Kernenergie schuf nie Identitäten – außer bei ihren Gegnern. Auch deswegen ist die Kernenergie in Deutschland nie wirklich systemrelevant geworden – es gab immer die billige Kohle, die von SPD und Atomgegnern als „heimische“ Alternative zur Kernenergie euphemisiert wurde. Im heutigen Klimadesaster hängen sie alle drin, von ganz links bis zur CSU. Man muss ich nur die sorgenvollen Bundestagsanfragen der Grünen aus den 1980er-Jahren ansehen, in denen vor der Verdrängung der „heimischen Kohle“ durch die Kernenergie gewarnt wurde. Heute hindert ihr antinuklearer Gründungsmythos die Grünen daran, mutig den Schritt ihrer finnischen Parteifreunde zu gehen und zu sagen: Mittelfristig werden wir es ohne Kernenergie nicht schaffen, und ein Endlager brauchen wir in jedem Falle.

Diese grüne Blut-Schweiß-und-Tränen-Klimarede ist nie gehalten worden. Kein Habeck traute sich und sagte den Deutschen, dass buchstäblich alle sich von heiligen Kühen werden verabschieden müssen – die Hausbesitzer von ihren Ölheizungen, Autofahrer vom billigen Sprit und vom Dienstwagenprivileg, und die Grünen vom Atomausstieg. Dazu mochte sich keiner aufraffen – und daran werden wir scheitern, wenn kein Umdenken kommt.

Zerstörungsakt für den rechten Glauben

Grohnde, Brokdorf und Gundremmingen sind die drei Kernkraftwerke, die am Silvestertag in einer Art deutschem Autodafé stellvertretend für die Sünden der Atomindustrien in fernen Ländern büßen und den Energiewende-Glauben im eigenen Land festigen sollen. Der Zerstörungsakt, der uns bei Versorgungssicherheit und Klimaschutz zurückwirft, wird mit einer kruden Staatsraison rechtfertigt, derzufolge nur die Erneuerbaren Energien im Interesse der öffentlichen Sicherheit lägen. Ein weiteres Argument erinnert an schwarze Pädagogik: Der träge deutsche Michel könnte sich ja auf der klimafreundlichen Leistung der Kernkraftwerke ausruhen und beim Ausbau der Erneuerbaren nachlassen. Deswegen, so die Schlussfolgerung, muss die Atomkraft noch vor der Kohle weg: nicht obwohl sie CO2-arm ist, sondern weil sie CO2-arm ist. Unter der Peitsche der Stromknappheit bleibt dann tatsächlich nur noch die Flucht nach vorn in einen präzedenzlosen Ausbau der Erneuerbaren – und der Gaskraft. Spätestens hier wird offenbar, dass es nicht um den besten Weg zur Klimazielerreichung geht, sondern um die Etablierung der Erneuerbaren Energien als Selbstzweck. 

In Grohnde wird am Silvestertag alles nach Plan gehen. Man wird die Anlage abfahren, als ginge es in eine der über 30 Revisionen, die die Mannschaft im Rücken hat. Ab 18 Uhr fahren sie schrittweise die Steuerstäbe ein und gehen mit 10 Megawatt pro Minute runter, bis der Rückleistungsschutz kurz vor Mitternacht die Turbine schnellabschaltet, den Generatorschalter öffnet und die Anlage vom Netz trennt. Danach wird der Reaktor auf drei Prozent Leistung abgefahren und die Reaktorschnellabschaltung betätigt. Es werden viele Menschen auf der Kraftwerkswarte sein. Einige werden sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Dann werden sie norddeutsch-lakonisch sagen: „Jo, das war’s nun“, und den Primärkreislauf kaltfahren. Gegen Morgen werden die letzten Wölkchen aus den beiden Kühltürmen verwehen.
Es folgt ein langer Prozess mit vielen Tests und Prüfungen für die Systeme, die weiterhin gebraucht werden. Der Reaktorkern steht weiter im seinem Druckbehälter und wird nachgekühlt, bis er dann Anfang Februar ins Brennelementbecken umgeladen wird. Dann erst ist der Reaktor im technischen Sinne Geschichte – die kompakte kritische Anordnung, 4 Meter hoch, 2 Meter Durchmesser, welche die Anlage zur unbesiegten Weltmeisterin in der globalen Einzelblock-Stromerzeugung gemacht hat: Über 400 Terawattstunden Strom wurden erzeugt und dabei – setzt man voraus, dass sonst Kohlekraftwerke gebaut worden wären – rund 400 Millionen Tonnen Treibhausgase eingespart. In all den geschäftigen Routinen wird die Mannschaft zeitweise vergessen, dass es wirklich vorbei ist. Womöglich wird sich aber schon wenige Wochen, nachdem der Reaktorkern von Grohnde auf die Brennelement-Stellagen des Abklingbeckens verteilt worden ist, die Erkenntnis Bahn brechen: Wir hätten ihn gebraucht.

Hören Sie zum Thema Energieversorgung auch den Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“ 

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