Alternativen zur Währungsunion - Raus aus der Dauerkrise: Plan B für den Euro

Der Euro droht zur Weichwährung zu werden. Grundlegende Regeln wurden völlig ungeniert gebrochen und Italien treibt zum x-ten Mal führungslos dahin. Sollte der Euro tatsächlich scheitern, wird niemand sagen können, es habe keine Alternativen gegeben. Der Wirtschaftswissenschaftler Dirk Meyer hat diese bereits seit den 1990er-Jahren erarbeitet.

Geht der Euro baden? / dpa
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Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Mario Draghi scheitert in Rom als Regierungschef. Und zur selben Stunde macht die EZB verbotene Staatenfinanzierung zum offiziellen Programm. Spätestens aus der Sicht von heute, mit dem Wissen der Ereignisse und Entscheidungen dieser Woche, war es ein schreckliches Versagen. Als er hätte sein Veto einlegen müssen, wie es seines Amtes gewesen wäre, wich er ängstlich zur Seite, um einen Frontalzusammenstoß mit dem Bundeskanzler zu vermeiden. Der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank, in jener Nacht zum 26. März 1998 noch im Vollbesitz seiner Kräfte als Hüter der deutschen Währung, wusste, dass es mit Italien schiefgehen würde. Er wusste aber auch, dass ihm mit einem negativen Votum ein Machtkampf mit Helmut Kohl drohte, den er – so die damalige Überzeugung von Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer – nur verlieren könne. 

Bundeskanzler Kohl hatte bei Tietmeyer am 13. Februar 1998 eine Stellungnahme zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion bestellt - und zugleich klargemacht, welches Ergebnis er im Gutachten aus Frankfurt am Main erwartete: ein zustimmendes, inklusive Italien und Belgien. Und dies, obwohl diese die angeblich heiligen Beitrittskriterien schon damals meilenweit verfehlten. Was auch Kohl natürlich nach zwei Jahren hitzigen Streits über Sinn und Unsinn des Euro sehr genau wusste. 

Kohls Drohung zeigte gewünschte Wirkung

Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber erklärte, der Kanzler werde sich über eine kritische oder gar ablehnende Euro-Stellungnahme - es ging schließlich um nicht weniger als um die Aufgabe der D-Mark - nicht hinwegsetzen können. Kohl erwiderte aufgebracht, dass das letzte Wort die Politik haben werde, denn die Regierung, nicht die Bundesbank entscheide über die Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion, daran, so Kohl, führe kein Weg vorbei. Darauf wiederum reagierte die Bundesbank verstimmt und warnte ein weiteres Mal vor Traumtänzereien. Seit 1990 hatte sie sich immer wieder als Bremserin, ja als Saboteurin des großen Projektes einer europäischen Währung beschimpfen lassen müssen, gehe es ihr doch lediglich, so der ständige Vorwurf von Ex-Kanzler Helmut Schmidt, egoistisch um die Sicherung ihrer eigenen Macht. 

Anders als Siemens-Vorstand Heinrich von Pierer (Der Euro stärkt den Handel und mehrt den Wohlstand) oder Fußball-Bundestrainer Berti Vogts (Der Euro ist ein Steilpass in das nächste Jahrhundert) hatte sich Tietmeyer eineinhalb Jahre zuvor geweigert, sich als Testimonial für eine Werbekampagne in den Tageszeitungen zugunsten der Währungsunion zur Verfügung zu stellen. Das führte im November 1996 zu einem Eklat. Die EU-Kommission in Brüssel machte den Vorgang öffentlich und ließ wissen, man sei empört über die Haltung der Bundesbank. 

Tietmeyer und die Schokoladen-Euros

Deren Chef sah sich ein weiteres Mal unter Rechtfertigungszwang: Ich möchte meine unabhängige Position bewahren, denn die Menschen vertrauen der Bundesbank. Werbekampagnen sind nicht mein Geschäft. Schokoladen-Euros und was es da alles gegeben hat. In der konkreten Situation hätten die Menschen auf die Bundesbank in besonderer Weise geschaut, begründete Tietmeyer später seine Weigerung. Hätte er sich als Zeugen für den Euro abbilden lassen, wäre sein Haus, so glaubte er, nicht mehr in der Lage gewesen, zu sagen: Die Kriterien sind nicht erfüllt.

Genau so kam es dann aber trotzdem: Die Bundesbank konnte es nicht sagen. Jedenfalls sagte sie es nicht. Denn die Drohung von Helmut Kohl, notfalls die von ihm selbst in Auftrag gegebene Expertise der Bundesbank zu übergehen, hatte den Zentralbankrat in ein aus seiner Sicht schicksalhaftes Dilemma gestoßen. Als ehemaliger enger Mitarbeiter (Sherpa) glaubte Tietmeyer den Bundeskanzler gut genug zu kennen, um zu wissen, dass er seine Ankündigung wahrmachen und die Bundesbank als lahme Ente blamieren würde, auf deren Votum man neun Monate vor der geplanten Einführung des Euro als Buchgeld nichts mehr geben müsse. 

Tietmeyers Überlegung: Würde der Euro zusätzlich zu aller Skepsis in der Bevölkerung und im Ausland, speziell in den USA, mit dem Makel eines amtlichen Mißtrauensvotums der Bundesbank starten müssen, werde sich das zum Beispiel in einer Schwäche gegenüber dem US-Dollar ausdrücken (wie sie dann trotzdem nach dem 1. Januar 1999 prompt einsetzte). An dieser Hypothek wollte wenigstens der Zentralbankrat nicht schuld sein; in solchen Startvoraussetzungen erkannte er keinen Sinn. 

Letztlich eine politische Entscheidung

In der längsten und hitzigsten Sitzung seiner Geschichte bis spät in die Nacht, so Tietmeyer später zum Autor, erkannte und diskutierte der Zentralbankrat mit langen Tabellen und erschütternden Zahlen stundenlang die Nichteignung speziell von Italien, die ihm nach eindeutiger Faktenlage nur eine Ablehnung des vorgesehenen Teilnehmerkreises erlaubt hätte. Doch dazu fehlte ihm die Courage. Stattdessen erfand er das Postulat zusätzlicher, verbindlich einzugehender substantieller Verpflichtungen, die Italien und Belgien einzugehen hätten. Dieses aber wurde nie realisiert, womit sich der Vorbehalt aus Frankfurt als vollkommen nutzlos erwies. Auch das ahnte bereits in jener Nacht die Bundesbank, zog sich in ihrer Not aber auf das Argument des Bundeskanzlers zurück: Die Auswahl der Teilnehmer bleibt letztlich jedoch eine politische Entscheidung. 

Die entsprechenden Protokolle rückte die Bundesbank erst 2012 angesichts einer Klage des Autors vor dem Frankfurter Verwaltungsgericht auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes und nach einem internen Machtwort von Präsident Jens Weidmann heraus. Darin fanden sich dann überraschend auch eine ganze Reihe von Protokollerklärungen von Teilnehmern, in denen sie ihr eigenes Abstimmungsverhalten wenigstens für die Geschichtsbücher ausführlichst problematisierten. 

Das Bundeskanzleramt verweigert demgegenüber bis zum heutigen Tage die Herausgabe des dazugehörigen Kabinettsprotokolls vom 27. März 1998, in dessen Sitzung dann - mit dem Gutachten der Bundesbank als Hauptargument - Deutschlands Aufgabe der D-Mark und der Beitritt der Bundesrepublik zum Euro beschlossen wurde, denn der Kernbereich exekutiven Handelns habe vertraulich zu bleiben.        

Konzepte für Neuanfang in zwei Bänden        

In der aktuellen Lage tritt ein weiteres Mal ein Hamburger Professor der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr auf den Plan mit einer grundlegend erweiterten und aktualisierten Neuauflage früherer Studien und Überlegungen zu Zustand und Zukunft des Euro. Der Wirtschaftswissenschaftler Dirk Meyer (64) forscht und schreibt zu diesem Thema seit Ende der 90er Jahre. Mit der Krise um Griechenland 2012 intensivierte er seine Arbeiten, die 2020 in ein erstes Kompendium zur Europäischen Währungsunion mündeten, das sich aber wegen der rasanten Entwicklungen im Zuge der Corona-Pandemie bis hin zu einer Fiskalunion wiederum schnell als ergänzungsbedürftig erwies, weshalb er jetzt im Wiesbadener Springer-Wissenschaftsverlag eine überarbeitete und auf zwei Bände aufgeteilte Neuauflage vorstellte. Band I enthält eine Analyse und Bestandsaufnahme, Band II Reformoptionen und Konzepte für einen Neuanfang. 

Lernen aus der Geschichte

Meyers Antrieb: Indem wir aus der Geschichte von Währungsunionen und zentralistischer politischer Steuerung lernen, können wir zukünftige Generationen vor vermeidbaren Erblasten bewahren. Das klingt nett und zunächst wenig verfänglich, zumal sein Band I selbst für Volkswirte und Währungsexperten harter Stoff ist, denn Meyer lässt kein Detail und keine auch nur entfernt relevante Quelle aus, wenn es darum geht, historische und aktuelle Währungsunionen zu röntgen und analytisch im Hinblick auf alle möglichen Faktoren für Erfolge und Misserfolge zu zerlegen. 

Umso mehr geht es dann aber in Band II zur Sache. Meyer traut sich ausführlicher und substantiierter als je zuvor in seiner Forscherlaufbahn, am Dogma der Irreversibilität zu rütteln und Alternativen zum Euro in seiner heutigen, krisenbehafteten Form zu entwickeln und ihre Chancen zu beschreiben, indem er rechtliche Möglichkeiten eines Ausscheidens aus dem Euro und die Rückübertragung der Währungssouveränität vorstellt und problematisiert, wohl wissend, dass die Verträge einen Austritt aus der Eurozone explizit nicht vorsehen. Gleichwohl untersucht er, welche legalen Varianten eines Verlassens der dritten Stufe [der Währungsunion] dennoch möglich und welche weiteren Schritte hin zu einer eigenen Währung notwendig wären

Es droht ein chaotischer Zerfall

Wissend um die Feindseligkeit, die jedem Akteur entgegenschlägt, der ein wie auch immer geartetes Ende der Währungsunion im jetzigen Zuschnitt auch nur zu thematisieren wagt, wird Meyer wahrscheinlich sogar absichtlich sachlich und trocken bis zur Erschöpfung des Stoffes. Noch in der letzten Fußnote zeigt sich sein Bemühen, das Problem einer weniger denn je funktionierenden Währungsunion wissenschaftlich so solide und tiefgründig wie irgend denkbar aufzuarbeiten und maximal zu entemotionalisieren. 

Sollte der Euro einst in einem chaotischen Prozess zerfallen, wofür nach dieser Woche mehr denn je spricht, weil grundlegende Regeln völlig ungeniert gebrochen werden und Italien zum x-ten Male führungslos dahintreibt, vorgeblich, um eben Staatspleiten zu verhindern und den Erhalt der Euro-Zone zu sichern, dann immerhin, das ist Meyers Verdienst heute schon, wird niemand sagen können, es habe keine vernünftige Alternative gegeben. 

So ist die maximale Vernunft- und Regel-Basiertheit seiner Arbeit Qualität und Schwäche zugleich. Sie mutet in ihrem unpolitischen, gesetzestreuen Ansatz fast naiv an und könnte sich dereinst doch als letzter Rettungsanker erwiesen, als wissenschaftliches Lender of the last Resort, wenn die Vertragsbrüche der Europäischen Zentralbank an ihr Ende gekommen sind, weil das Vertrauen aufgebraucht ist und Anleger und Bevölkerung nicht mehr mitspielen, Wohlstandstransfers vom Souverän nicht länger hingenommen werden.

Dabei hat Dirk Meyer das Schicksal historischer Währungsunionen, der dauerhaften und der zerbrochenen, stets vor Augen. War eine Desintegration, also eine Rückabwicklung der Währungsverschmelzung, nicht geregelt, fand sie nur zu oft statt unter teilweise chaotischen Umständen und - so Meyer - unnötig hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Insbesondere die unkontrollierte Nutzung der gemeinsamen Währung durch das jeweilige Austrittsland bewirke eine Desintegrationsinflation und einen Austrittswettlauf weiterer Mitglieder

Hauptsächlich politische Gründe, vornehmlich nationalistische Strömungen in den Teilnehmerländern, seien aus historischer Sicht als Auslöser für den Zerfall der Währungsgemeinschaften erkennbar. Der Vergleich mit dem Italien des Jahres 2022 liegt auf der Hand. Ob Frankreich vielleicht schon in fünf Jahren eine ähnliche Entwicklung nehmen wird, ist nach den jüngsten Wahlergebnissen dort unsicherer denn je. 

Allerdings erkennt auch Professor Meyer einen wesentlichen Unterschied zu den Lehren aus der Geschichte in einem - jedenfalls heute noch vorhandenen - starken politischen Integrationswillen der Repräsentanten der supranationalen EU und verschiedener nationaler Regierungen der EWU-Mitgliedstaaten, gerade auch von Deutschland, während er das Interesse der Bevölkerung an der Währungsunion und ihrem Erhalt dagegen als eher verhalten einschätzt. Im Hinblick auf einen Erhalt des Euro negative Faktoren erkennt Meyer in unverändert starren Arbeitsmärkten, großen regionalen Unterschieden der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums sowie stark nachlassender Haushaltsdisziplin in verschiedenen EU-Staaten - allesamt das Gegenteil des vor 25 Jahren versprochenen. 

Abgestufte Desintegration als Ideal

Eines immerhin weiß auch dieser Autor: Denkbar, aber für das friedliche Miteinander in der EU völlig inakzeptabel, wäre eine einseitige Austrittserklärung. Vielmehr habe jeder Beendigung der Mitgliedschaft idealerweise ein abgestufter Prozess der Desintegration vorauszugehen; das verlange bereits die Pflicht zum gemeinschaftsfreundlichen Verhalten im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Nur: Eine dramatische Zuspitzung der Zahlungsschwierigkeiten eines Landes dürfte auch illegale Wege zumindest nicht ausschließen. So kann man das auch nennen. Wenn es aber, so Meyers immer wieder aufscheinende Mahnung, keine Austrittsregelungen gebe, weil man mit solchen Regeln - so das gängige Argument - ein solches Ereignis überhaupt erst denkbar und damit wahrscheinlicher mache, werde die Desintegration noch teurer als unvermeidlich. 

Die Tschechoslowakei sowie Südafrika/Namibia hätten dagegen gezeigt, wie es auch vernünftig gehe und welche Kosten dadurch vermieden worden seien. Meyer: Unter dem Aspekt geringer Fehlerkosten erscheint deshalb eine Verankerung des Austrittsrechts mit konkreten Regularien eines Ausstiegs dringend geboten" - was auch Angela Merkel als Bundeskanzlerin vor zwölf Jahren im Bundestag gefordert habe: Ein Vertragswerk, in dem es in der ultima ratio sogar möglich ist, ein Land aus dem Euroraum auszuschließen, wenn es die Bedingungen langfristig immer und immer wieder nicht erfüllt. 

Dass dieselbe Kanzlerin ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble sechs Jahre später beinahe in den Rücktritt getrieben hätte mit ihrer Weigerung, Griechenland zumindest zeitweise aus der Währungsunion auszuschließen, vergisst Meyer zu erwähnen. Der grassierende Rinderwahn auch und gerade in der deutschen Politik im Hinblick auf unsere gemeinsame Währung ist schlicht nicht sein Ding, sondern eher seinen Methoden unzugängliche terra incognita. Dabei stünde der Euro höchstwahrscheinlich jetzt besser da, wäre seinerzeit ein Exempel statuiert und der Beweis angetreten worden, dass sich diese Schicksalsgemeinschaft nicht jeden Betrug und jeden Vertragsbruch gefallen lässt. Erst recht stünde heute Italien anders da. Ein Ausschluss Griechenlands hätte für die Währungsunion das Zeug zum Game Changer gehabt, diese Behauptung ist erlaubt.  

Doch Meyer gibt die Hoffnung nicht auf, formuliert Mindestanforderungen an Regularien eines Scheidungsparagraphen, plädiert für das Recht auf Austritt aus dem Euro bei gleichzeitigem Verbleib in der Europäischen Union und gegenseitige Konsultationen, die insbesondere auch die Rückführung der Euro-Banknoten (Geldbasis) umfassen müssten, um einen konfliktarmen Austritt sicherzustellen. Meyer beschreibt vor allem, und das ist der wertvollste Teil dieser Arbeit, ein weiteres Mal ein Konzept nationaler Parallelwährungen als interessante Alternative zu einem 'harten' Ausscheiden aus der EWU

Europa-Recht kreativ auslegen 

Meyer: Neben dem weiterhin als Währung bzw. Zahlungsmittel gültigen Euro könnte jeder Mitgliedstaat autonom eine eigenständige Landeswährung einführen. Der Euro wäre dann nicht länger Monopolwährung und die Europäische Union nicht länger alleine zuständig für die Währungspolitik der Euroländer. Voraussetzung wäre, so der Autor, eine kreative Auslegung und Anwendung des geltenden EU-Rechts. Dies gelte auch für seine Idee, dass sich mehrere Eurostaaten zum Austritt mit dem Ziel der Einführung einer gemeinsamen Nord- bzw. Südwährung zusammenfinden oder die Einführung einer gemeinsamen Parallelwährung zum Euro planen. Selbst für eine solche Lösung der Dauerkrise des Euro fände sich laut Meyer im geltenden Recht eine Grundlage, etwa im Sinne der Verwirklichung einer verbesserten monetären Konvergenz dieser Staaten, quasi eine Weiterentwicklung des alten Schäuble-Lahmers-Vorschlags eines Europas der zwei Geschwindigkeiten.

Immer wieder stolpert Professor Meyer in seiner Abhandlung aber über das Problem, dass die EU sehr langsam arbeitet, eine grundlegende Reform der Währungsunion dagegen innerhalb von Minuten nach ihrer Ankündigung, ja schon nach ersten Gerüchten Ausweich- und Vermögensrettungsaktionen von Millionen von Akteuren zur Folge hätte - Kapitalflucht, Bank run, Euro-Verlagerungen in aufwertende Länder und vieles mehr bis hin zu offenem Aufruhr bei zu erwartenden Wohlstandsverlusten, wie sie etwa bei einem Alleingang der Nordländer für die Südländer unvermeidlich wären. 

Euro-Beendigungsgesetz

Mit den gängigen zeitintensiven Verfahren oder gar Volksabstimmungen wäre hier ausser einer langen, zerstörerischen Phase der Unsicherheiten nichts zu gewinnen. Meyer betrachtet diese Tatsache rechtlich aus allen denkbaren Perspektiven und kommt zum Schluss, dass die Grundentscheidung für einen Wechsel des Währungssystems über Nacht an einem Wochenende erfolgen müsste. Das hindert ihn freilich nicht daran, auch detailliert über ein nationales Währungsgesetz zu sinnieren, um die Bundesbank wieder in ihre alten Rechte und Pflichten vor 1999 einzusetzen: 

Hierzu bedarf es der demokratischen Legitimation durch ein Referendum und / oder eines parlamentarischen Gesetzesbeschlusses. [...]. Durch ein Euro-Beendigungsgesetz würde die Eigenschaft des Euro als gesetzliches Zahlungsmittel für das Gebiet der Bundesrepublik aufgehoben und durch eine neue Währung ersetzt werden. Dieses Gesetz hätte zugleich den Umtauschkurs festzulegen und damit den rekurrenten Anschluss an die neue Währung sicherzustellen. [...] Während im Fall Deutschlands oder einer Nordeuropäischen Währungsunion die Gründe des Austritts sowie die relative Wirtschaftskraft im Verhältnis zur Union nur einen flexiblen Wechselkurs ökonomisch sinnvoll erscheinen lassen, käme im Fall Griechenlands und der anderen, eher kleineren Defizitländer neben einem Zusammenschluss zu einer mediterranen Währungsunion auch eine Anbindung an den Euro mit oder ohne Bandbreiten infrage.

Dramatische Folgen in Minuten

Wie man sieht, sind wahrscheinlich die wenigsten der Meyer'schen Überlegungen und Skizzen praktisch brauchbar - alleine schon deshalb, weil bereits jede Andeutung etwa einer deutschen Aufkündigung des Euro-Konstrukts sofort dramatische Folgen hätte weit über die Eurozone und Europa hinaus. Und doch ist es gut, dass es sie nun gibt, wenn auch in der Form noch stark optimierungsfähig und auf das Wesentliche einzudampfen und entschlacken, um es halbwegs allgemeinverständlich zu machen. So werden es Fachleute zur Kenntnis nehmen und in die Schublade legen, um es bestenfalls am Tag X hervorzuholen und zu schauen, wie es auch anders ginge als in einem chaotischen und voraussichtlich dann auch gewalttätigen Zerfallsprozess, denn es ginge für jeden einzelnen um die materielle Existenz. Der Grundfehler der organisierten Verantwortungslosigkeit für den Wert der Währung müsste auf jeden Fall behoben werden, wenn eine Neuordnung gelingen soll - und daraus ergibt sich alles Weitere. Im Moment geht die Tendenz aber verstärkt in die Gegenrichtung: weitere Verantwortungsdiffusion.    

Aber man mache sich nichts vor: Das gesamte, ohnehin fragile Weltwährungssystem stünde in einer finalen Euro-Krise vor einer kompletten Neubestimmung. Alle anderen Währungen würden vermutlich mindestens solange stark aufwerten, bis sich ein Konsens herausgebildet hat, wohin die Reise mit einer Rückkehr zu wieder nationalen Währungen und / oder Nord- und Süd-Euro-Zonen geht, und die Verunsicherung wäre alleine schon wegen der gigantischen Target-Salden, deren Wert in Frage stünde, nicht nur in den Südländern der Eurozone historisch. 

Deutschland darf nicht schuld sein

Es bleibt deshalb dabei: Der Euro wird scheitern, aber um Gottes Willen darf Deutschland nicht daran schuld sein, sonst werden Italiens Rentner schon ein paar Tage später vor der Bundesbank stehen, angefeuert von Italiens Populisten, um die dort gelagerten Goldvorräte herauszuverlangen. Möglicherweise waren die deutschen Rentner dann aber bereits schneller, weil näher dran. Fakten wie das Scheitern von Mario Draghi am vergangenen Donnerstag, also fast zur selben Stunde, in der die EZB sich zu einer ersten Korrektur ihrer erratischen Zinspolitik durchringen konnte, wobei sie diese Korrektur im selben Atemzug wieder zu neutralisieren versucht, indem sie die zwangsläufige Fragmentierung der Zinssätze im Euro-Raum mit ihrem neuen Transmission Protection Instrument (TPI) möglichst umgehend wieder nivelliert, werden dann keine Rolle spielen. 

Verantwortlich für ein Scheitern der Währungsunion werden stets die anderen sein, also die anderen Länder. Es war aber diese Fragmentierung, die der skeptischen Bevölkerung einst als Heilmittel gegen unsolide Haushaltspolitik gerade Italiens versprochen worden war: Steigen die Zinsen, werden die Italiener schon zur Vernunft kommen, weil ihre Schulden für sie sonst noch teurer werden. Dieser Mechanismus wird nun bewusst und vor aller Augen und vor allem auch - mangels Widerspruch - mit dem Segen der Bundesregierung in sein Gegenteil verkehrt. 

Deutschland wird italienischer

Kritik am neuen Trick der EZB, Unheil jetzt gegen noch größeres Unheil später einzutauschen, kommt bisher verhalten aus einigen Medien und politisch alleine von Oppositionsführer Friedrich Merz: Die EZB würde damit endgültig die vertragliche Grundlage verlassen, auf der vor gut zwanzig Jahren die Währungsunion gegründet wurde. Den deutschen Mitgliedern des EZB-Rates wäre die Beteiligung an diesem Schritt sogar ausdrücklich untersagt." Als es um den Euro für Italien ging, hieß es hier beruhigend: Keine Sorge, Italien wird deutscher werden, dafür wird bereits der Zwang zu Disziplin sorgen. Inzwischen kommt es, auch Merz wird es nicht entgangen sein, dagegen umgekehrt. Immerhin deutet er eine Verfassungsklage an; Joachim Nagel darf sich am Diebsgrund in Frankfurt-Ginnheim auf einen ähnlichen Gewissenskonflikt einstellen wie sein Vorvorgänger Tietmeyer. 

Eine Rückkehr zur Schuldenbremse wird so oder so mit jedem Tag unwahrscheinlicher. Deutschland wird italienischer und der Euro damit auch dank dieser Bundesregierung zur Weichwährung. Glaubt sie vielleicht, Spannungen zwischen den Volkswirtschaften zu mindern, die Europäische Währungsunion auf diese Weise vor einem Zerfall zu bewahren? Ihre Politik, die an dieser Stelle Züge von Größenwahn trägt, geht jedenfalls mit Entlastungen und Rettungsplänen für alles und jeden in diese Richtung.   

Dirk Meyer: Europäische Union und Währungsunion in der Dauerkrise - Szenarien für die Zukunft des Euro (Band I und II). 2., erweiterte Auflage, Springer-Fachmedien

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