Volksheld Stalin

Vergangenheitsbewältigung? Fehlanzeige! 60 Jahre nach dem Kriegsende wird der Diktator immer noch verehrt.

Das Erbe toter Diktatoren aus überwundenen Zeiten totalitärer Herrschaft dürfte eigentlich kein ambivalentes Thema mehr sein. In Deutschland sind es bestenfalls Randfiguren, die noch Hitler zu gedenken wagen. Nicht einmal die Überreste der Roten Khmer feiern noch das Angedenken an Pol Pot. Doch der 60. Jahrestag des russischen Sieges über Nazideutschland verdeutlicht, welch heikles Unterfangen es ist, Stalins Anteil an diesem Sieg zu bemessen. Tatsächlich wurde in Moskau heftig darüber debattiert, ob man dem toten Diktator nicht ein Denkmal errichten solle. In den Buchhandlungen des Landes finden sich eine Vielzahl politischer Biografien und historischer Bücher, die die Ära Stalin porträtieren. Die Mehrheit dieser Bücher und Autoren stellt Stalin in einem positivem Licht dar. Fragt man die Russen, wer in ihren Augen die wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts waren, landet Stalin nach wie vor auf dem ersten Platz – zusammen mit Lenin. Natürlich werden heute keine Städte und Dörfer mehr nach Stalin benannt. In den späten fünfziger Jahren wurden zudem zahllose Stalindenkmäler abgerissen. Dennoch wurden zahlreiche Symbole der Herrschaft Stalins sorgsam bewahrt, unter anderem die von ihm persönlich bewilligte Nationalhymne. Sicher hat Chruschtschows Aufdeckung der Verbrechen und des Personenkults Stalins 1956 großen Eindruck gemacht, sowohl auf die Sowjetunion als auch auf das Ausland. Doch unter vielen Mitgliedern der politischen Elite wie in militärischen Kreisen wurden Kruschtschows Enthüllungen erbost zur Kenntnis genommen. Dies führte wiederum zu zahlreichen Versuchen einer Rehabilitierung Stalins, insbesondere während der zwanzigjährigen Herrschaft Leonid Breschnews. Michail Gorbatschow führte die Aufdeckung der Verbrechen des Stalinismus fort und ermöglichte einen uneingeschränkten Blick auf jenes dunkle Kapitel, zu dessen Offenlegung Kruschtschow der Mut gefehlt hatte. Während der Präsidentschaft Boris Jelzins wurde diese Kritik noch lauter. Doch die Zerschlagung der ideologischen, politischen und ökonomischen Strukturen der Vergangenheit reicht nicht aus, um eine Erneuerung der Gesellschaft zu erreichen. Die russische Föderation ist und bleibt eine Ansammlung multinationaler Staatengebilde, deren Zusammenhalt davon abhängt, ob eine Vision übergeordneter Staatlichkeit und Nationalität entwickelt wird. In dieser Hinsicht bietet es sich für die Russen an, sich am Patriotismus festzuklammern. Lediglich zwei Ereignisse haben die Kraft, dieses Gefühl zu mobilisieren: die Oktoberrevolution von 1917 sowie der Große Vaterländische Krieg von 1941-1945, der die UdSSR und Russland zur Weltmacht machte. Da so viele seiner Teilnehmer noch aktiv sind, ist der Sieg über den Faschismus ein lebendiger Bestandteil unserer Erinnerung. Der diesjährige Siegestag ist für Russland voraussichtlich der letzte „runde“ Jahrestag, an dem viele tausend Veteranen teilnehmen konnten. Und natürlich wurde Stalins Name während der Feierlichkeiten zahllose Male genannt. Doch es wäre ein Fehler, diese öffentliche Anerkennung Stalins als wahres Verlangen nach allen Aspekten des von ihm erschaffenen Systems zu deuten. Vielmehr stellt sie für die Russen eine Möglichkeit dar, sich an eine Zeit großer Taten und womöglich sogar noch größerer Opfer zu erinnern. © Project Syndicate, Übersetzung: Max Conrad Roy Medvedev, ein Dissident während der Sowjetära, ist Historiker und Verfasser der Studie „Die Wahrheit ist unsere Stärke: Geschichte und Folgen des Stalinismus“

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