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Staatsfeind unter Willy Brandt

Peer Steinbrück wollte Politiker werden, seit seine Mutter ihn in den sechziger Jahren für die SPD begeisterte. Die Erfüllung dieses Traums war schwieriger als gedacht: Der Verfassungsschutz hielt den heutigen Finanzminister für einen potenziellen Terroristen.

Ulrike Meinhof und Holger Meins von der Roten Armee Fraktion hungern aus Protest in ihren Gefängniszellen. Deutschland erlebt den Kampf zwischen Terroristen und Staatsgewalt. Die Stimmung ist aufgeladen. Mit seinem Leben aber hat das alles nichts zu tun. Denkt er. Bonn im Jahre 1974. Peer Steinbrück verlässt die Wohnung in der Altstadt, in der er mit seiner Ehefrau Gertrud wohnt, die gerade schwanger ist. Im Bonner Bauministerium haben sie dem Siebenundzwanzigjährigen einen Werkvertrag für zwei Jahre angeboten, nachdem er dort schon einige Zeit gejobbt hat. Die Aufgabe ist nicht gerade üppig bezahlt, aber sie interessiert ihn. Er will in den Staatsdienst, und das könnte der Anfang sein. Er betritt das Büro seiner Abteilung für Raumordnung und Regionalplanung und ist schon bald wieder draußen. Er dürfe hier nicht mehr arbeiten, sagen die Männer von der Behörde. Warum – das ist ihm zunächst schleierhaft. Es dauert einige Minuten, bis der spätere Bundesfinanzminister Deutschlands begreift, dass der Verfassungsschutz ihn als potenziellen Staatsfeind einstuft, bis er feststellt, dass die Staatsanwaltschaft weiterhin ermittelt gegen ihn und seine sieben Mitbewohner aus Kieler Studentenzeiten. Er kann es immer noch kaum glauben: Sie alle sollen mit Terroristen sympathisiert haben. Wer unter diesen Verdacht gerät, wird per Radikalenerlass ins Visier des Verfassungsschutzes genommen und darf nicht in den öffentlichen Dienst. Peer Steinbrück wird arbeitslos. Was war geschehen? Der Fall liegt schon über ein Jahr zurück. Acht Studenten und Studentinnen wohnen zusammen in einer geräumigen Altbauwohnung in der Kieler Innenstadt: acht Zimmer, ein Bad und eine Küche. Einer von ihnen ist Peer Steinbrück, Student der Volkswirtschaftslehre. Sie haben sich zusammengefunden, um billiger zu leben und eine schöne Zeit zu haben. Anderswo kleben Plakate von Mao Zedong; anderswo stapelt sich der Abwasch; anderswo erproben Kommunen den Ersatz einer Kleinfamilie. Hier nicht. In Peers Zimmer zum Beispiel hängt das Poster von einem Schiff. Seine Freunde und er feiern zwar Partys, aber keine Orgien, und das Geschirr säubert die gemeinsam gekaufte Spülmaschine von Bauknecht. Ein Tag im Semester, morgens um halb sieben. Peer, der kein Freund von Traurigkeit ist und in der Schule eine Ehrenrunde gedreht hat – auch Mathematik gehörte damals nicht zu seinen Stärken-–, hat sich bis spät in die Nacht amüsiert und viel geredet. Wenn er in Stimmung ist, genießt er es, seine Umgebung mit allerlei Geschichten zu amüsieren, manchmal auch auf Englisch, und lacht dann dröhnend mit. Peer stammt aus einer weltoffenen Hamburger Familie mit vielen begeisterten Seefahrern, und das merkt man seinem Humor an: Schwarz ist er und ein wenig deftig. Politisch radikal ist hier niemand. Der Politischste von allen ist noch Peer. Ihm verdankt die WG zumindest eine gewisse Debattenkultur. Der hoch gewachsene Hanseat ist es, der die Diskussionen am Abendbrottisch anstößt, der sie moderiert, mit Inhalt füllt, auf den Punkt bringt, und, wenn er in Fahrt ist, möglichst wenige Leute zu Wort kommen lässt. „Junge, du musst später etwas machen, wobei du quatschen kannst“, sagt ihm seine Mutter oft. In diese studentische Idylle platzt die Staatsanwaltschaft hinein. Früh um halb sieben, als alle noch schlafen, klingelt es. Die Mitbewohnerin Veronique Lundgren öffnet und hört den Schrei „Aufstehen!“ Ein gutes Dutzend Polizisten stürmt hinein, um die Räume in einer Hektik zu durchsuchen, als gelte es, eine Bombe vor der Explosion zu entschärfen. Die Männer durchforsten alles Mögliche – auch Peers auffällig umfangreiche Bibliothek. Dann verschwinden sie wieder und vergessen eine Aktentasche. Dank ihr finden Peer und seine Freunde heraus, was der Grund dieses überraschenden Besuches ist: Nach der letzten Party hatten Nachbarn sie offenbar angezeigt, weil kurz davor eine Sparkasse in ihrer Nähe überfallen worden war. Aus der Akte erfahren sie auch, dass früher einmal Sympathisanten der Baader-Meinhof-Gruppe in ihrer Wohnung gelebt haben sollen. Peer hatte diese Episode in Kiel längst vergessen. Jetzt aber soll sie ihm monatelang zu schaffen machen. Er müht sich mit der Behörde ab, am Telefon mit dem einen Mitarbeiter, persönlich mit dem anderen – vergebens. Es ist, als renne er gegen Gummiwände. Die Staatsanwaltschaft will ihre Ermittlungen nicht einstellen. Absurd wird die Situation, als auch noch ein Mann der Bundeswehr in ihrer Bonner Wohnung vorbeischaut. Steinbrück habe doch seinen Wehrdienst als Zeitsoldat geleistet. Nun solle er bei einer Reserveübung mitmachen, worauf Steinbrück mit klaren harten Worten erwidert: „Wie stellen Sie sich das vor?! Ich bin ein potenzieller Staatsfeind.“ Ungerührt fragt der Mann zurück: „Sprechen Sie dienstlich mit mir oder privat?“ – „Privat und dienstlich“, entgegnet prompt Steinbrück. Von dem Mann hört er nichts mehr. Er könnte auch den interessanten Job annehmen, den ihm das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel anbietet. Aber er will nicht aufgeben. Seine Mitgliedschaft in der SPD befreit ihn ungefähr ein halbes Jahr später aus dem Behördenlabyrinth. Der Oppositionsführer der Kieler Sozialdemokraten, Klaus Matthiesen, erreicht, dass die Staatsanwaltschaft den Fall Steinbrück endlich abschließt. Damit beginnt die politische Karriere des Peer Steinbrück. Es ist die Zeit, in der auch Willy Brandt als Bundeskanzler einer Regierung zurücktritt, die eben jenen Radikalenerlass verabschiedet hat, der ihn ins Visier des Verfassungsschutzes gebracht hatte. Der Begeisterung des Norddeutschen für den Politiker Brandt und für seine Partei kann die Episode nichts anhaben. Ihn verehrt Steinbrück, schon seit er politisch denkt. Hamburg in den sechziger Jahren. Die Familie Steinbrück wohnt in einem Mietshaus aus der Jahrhundertwende in der gutbürgerlichen Gegend Uhlenhorst. Ernst Steinbrück, Peers Vater, ist ein Flüchtling aus Pommern, der sich als Architekt in Hamburg niedergelassen hat. Er ist ein pragmatischer Mann. Vor einigen Jahren hat er das Gebäude der Gothaer Versicherung an der Alster entworfen, inzwischen aber macht er Schadensgutachten für Gebäude. Dazu hat er sich entschieden, weil er sich in nüchterner Selbsterkenntnis nicht für einen außergewöhnlichen Architekten hält. Willy Brandt ist regelmäßig das Thema beim Abendessen der vier Steinbrücks: die Eltern und die Teenager Peer und sein jüngerer Bruder Birger. Peers Vater sagt nicht so viel, aber seine Meinung ist bekannt: Er wählt die Christdemokraten, früher mit, jetzt ohne den von ihm hoch geschätzten Konrad Adenauer. Aber die Mutter redet. Sie, die aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie stammt und von Hause aus liberal ist, hält viel von Willy Brandt und von seiner SPD. Darin unterscheidet sie sich stark von ihrem Umfeld, dem gehobenen Bürgertum, das in seiner post-Adenauerschen Ruhe nicht gestört werden will. Ob anderen ihre Meinung passt oder nicht, das hat sie ohnehin nie sonderlich interessiert. Lange redet sie nicht – sie ist zu bodenständig, um sich in Diskussionen zu verstricken. Aber dass Deutschland endlich die Ostverträge abschließen muss, dass dieses Land über seine Kollektivschuld nachdenken sollte, das muss man doch mal sagen. Und die Stellung der Frau in Deutschland sei doch beinahe ebenso merkwürdig wie dieser rückwärts gewandte Bund Deutscher Mädchen zur Nazizeit, dem sie glücklicherweise entfliehen konnte, indem sie bei der Verwandtschaft in Dänemark lebte. Diese Worte beeindrucken den jungen Peer. Schon als Teenager zieht ihn Willy Brandt mehr an als Elvis Presley oder Cat Stevens. Und mit 22 Jahren, 1969, tritt er in die SPD ein. Sein um viereinhalb Jahre jüngerer Bruder Birger dagegen ist weniger politisch. Aber als Teenager nimmt Peer den Bruder sowieso nicht ernst, sondern erst zu Studienzeiten, als Birger ein großer Segler ist, wie schon der Vater einer war. Auch Peer segelt gerne, aber mit noch mehr Leidenschaft sammelt er Schiffsmodelle und beschäftigt sich mit maritimer Geschichte, schnell wird er ein Experte auf diesem Gebiet. Mit Methode schreibt er zu WG-Zeiten politische Begriffe auf, um sie in einem Zettelkasten aufzubewahren. Ebenso systematisch erarbeitet sich der Mann mit dem Elefantengedächtnis die Geschichte der europäischen Seefahrt. Überhaupt stürzt er sich mit der Begeisterung eines Historikers auf die Ereignisse der Vergangenheit, und die jüngere Geschichte Europas wird sein Steckenpferd.

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