Psychologie der Corona-Jahre - Die hyperkontrollierte Gesellschaft

Als „Massenformierung“ bezeichnet der Psychologe Mattias Desmet eine kollektive Hypnose, aus der auf Basis eines gemeinsamen Narrativs ein heroischer Kampf gegen ein Objekt der Angst entsteht. Liegt hier der Schlüssel zum Verständnis der Corona-Jahre?

Polizisten verhaften 2021 einen Maßnahmen-Kritiker in Belgien / dpa
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Autoreninfo

Michael Andrick ist Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. In seinem Buch „Erfolgsleere“ bietet er eine Erklärung für massenweisen, fraglosen Konformismus an.

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In seinem Buch „Die Psychologie des Totalitarismus“ schildert der Psychologe Mattias Desmet die Voraussetzungen und den typischen Verlauf von Massenbildung und warnt: Einmal in Gang geraten könne eine selbstverstärkende Dynamik ihren Lauf nehmen, die sich – wie man im 20. Jahrhundert an Stalinismus und Nationalsozialismus erfahren habe – bis zur Gründung totalitärer Staaten, ja bis zu deren Selbstzerstörung im wahnbeseelten Endkampf gegen eingebildete Feinde fortspinnen könne. 

Der Experte für Psychotherapie knüpft seine Überlegungen direkt an eine wenig originelle, wohl fast konsensfähige Kulturdiagnose der neoliberalen Gegenwart des Westens an. Das macht es dem hiesigen Leser subjektiv schwer, sich nicht gemeint zu fühlen – und vielleicht noch schwerer, sich mit Desmets systematischen Darlegungen zur Formierung einer Masse unvoreingenommen zu befassen. Das mag die bisherige Abwesenheit gründlicher Rezensionen in deutschen Medien erklären. Beschreibt und erklärt er die Erfahrung der Krisenjahre überzeugend, so stehen für alle Zeitgenossen bei der Corona-Politik unangenehme Fragen im Raum. 

Europas Moderne: Verlorenheit und Hyperkontrolle

Massenformierung ist der Prozess, in dem eine „sozial zerfallene Bevölkerung wieder zu einer Einheit“ findet, die von einem neuen Solidaritätsgefühl und einem Hang zu kollektivem Irrationalismus geprägt ist. Den „perfekten Nährboden für die Masse“ sieht Desmet in einer Bevölkerung, die stark von Vereinzelung, Sinnarmut, vagem Angstgefühl und latenter Aggression betroffen ist. Die meisten Gesellschaften des alten Westens erfüllten vor der Corona-Krise seines Erachtens diese Voraussetzungen vollkommen.

Desmet wählt treffende Illustrationen der kollektiven Gemütsverfassung: Großbritannien hat einen Einsamkeitsminister ernannt, während allgemein im Westen der Verbrauch von Antidepressiva neue Höchststände erreicht. Bestseller wie „Bullshit Jobs“ von David Graeber verarbeiten die aus Gallup-Umfragen bekannte Tatsache, dass mehr als drei Viertel der Arbeitnehmer gleichgültig oder gar mit Sabotagegeist einer als sinnlos erlebten Tätigkeit nachgehen. Und der Klima-Kollaps-Diskurs – so können wir ergänzen – behandelt die westliche Konsum-Zivilisation mittlerweile offen als Irrweg der Menschheitsentwicklung, den es schleunigst zu verlassen gelte.

Die ultimative Ursache für diesen Kulturzustand sieht Desmet in einer Ideologie aus Rationalismus und positivistisch verstandener Naturwissenschaft, die Europa seit der Aufklärung psychologisch mehr und mehr verwüstet und den Einzelnen aus allen sinnhaften Bindungen herausgelöst habe. Das mechanistische Denken, so führt Desmet höchst bedenkenswert aus, habe die zuvor als Hybris gesehene Überzeugung einer rationalen Kontrolle der Schöpfung im Sinne des Menschen zur positiv beleumundeten Standardmentalität gemacht. 

Innerhalb dieser Welt- und Menschensicht gibt es seines Erachtens auf jede auftauchende Ungewissheit nur eine Antwort: Ausarbeitung (oder einfach mutige Behauptung) einer technischen Lösung zur Beherrschung des Risikos und Anpassung des menschlichen Verhaltens an die so geschaffene neue Pflicht der Vernunft. Die westliche Moderne dränge ihrem Wesen nach zur „hyperkontrollierten Gesellschaft“ und sei der natürliche Entstehungskontext totalitärer Systeme.

Hier sind bei Desmet deutliche Anklänge an die Frankfurter Schule, besonders an die „Dialektik der Aufklärung" und die teils brachial-pessimistischen Aphorismen aus Adornos „Minima Moralia" zu hören. Immer wieder bezieht er sich auch auf Naturwissenschaftler wie Einstein, Heisenberg oder Schrödinger, die spät in ihrer Laufbahn „ein rationalistisches Weltbild hinter sich ließen“, einen „poetischen oder mystischen Diskurs“ aufnahmen und der Welt ihren voraufklärerischen Zauber wieder zugestehen wollten. 

Sind wir anfällig für Massenbildung?

In ihren großen Linien ist Desmets Neuzeit-Deutung, auf der seine Argumentation beruht, unangenehm überzeugend. Die westliche Zivilisation hat das Leiden am Mangel durch den Überdruss am Überfluss ersetzt. Die blanke Not wich dem subtilen Albdruck einer materiell durch und durch versorgten, aber seelisch richtungslosen Existenz. 

Viele stehen mit einem Gefühl der Leere vor den vollen Supermarktregalen und verspüren den flauen Frust, zwar alles Notwendige und noch Manches mehr zu besitzen – dies aber kaum freudig mit anderen teilen zu können. Die „erfolgreich“ digitalisierte Kommunikation tut einer gesunden Alltagsgeselligkeit Abbruch. Textnachrichten sind kein Gespräch von Mensch zu Mensch, und in Videokonferenzen sehen wir für Desmet weniger die Teilnehmer als ihre Abwesenheit. Das Vor- und Nachspiel im persönlichen Umgang, das Zugehörigkeit und eine menschliche Atmosphäre stiftet, haben wir aus der Kommunikation weitgehend technisch amputiert. Es wird tief vermisst.

 

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Politische Debatten und der Online-Austausch sind von latenter Aggression geprägt. Wie auch nicht? Das andauernde „Surfen“ (Wellenreiten) auf Online-Inhalten, die unsere Vorurteile pflegen und Skandale vornean stellen, kultiviert das Trennende. Starke Polarisierung der Diskussionen und die Beleidigung Andersdenkender können so kaum ausbleiben. 

Die Philosophie des Liberalismus, die den Staat auf die Rolle des Rechtegaranten konzentriert und das weitere dem Einzelnen aufträgt, hat in dieser Lage keine bordeigenen Trostmittel zu bieten. Die Fortschritte von Aufklärung und Naturforschung machen auch keinen Mut: Sie haben uns zusammen mit dem Liberalismus diese wohlversorgte, doch eher unglückliche Lebenswelt geschaffen. 

Und mitten im materiellen Überfluss Frust und Scham zu artikulieren, um sich zu erleichtern, fällt schwer; es fühlt sich undankbar an und widerspricht dem Bild des erfolgreichen Unternehmers seiner selbst, das nach Jahrzehnten neoliberalen sozialen Agenda-Settings vielen heute selbstverständlich ist. 

Die Krise als psychologischer Gewinn

Atomisierung, Sinnverlust und nervöse Reizbarkeit, nach Desmet Voraussetzung einer Massenformierung, sind in unserer Kultur also unleugbar vorhanden. Menschen, die in der Ruhelosigkeit eines unerfüllenden Individualismus leben, entwickeln eine Sehnsucht nach Orientierung, nach haltgebender Gemeinschaft und nach einem Ventil für aufgestaute Aggressionen. 

Genau hier kann nun die effektvolle mediale Verkündung eines Notstands überraschende und durchschlagende, ja regelrecht revolutionäre Wirkung entfalten. Die Kapitel, in denen Desmet den Vorgang der Massenformierung schildert, gehören zum Wuchtigsten und Beklemmendsten, was man zur Politik der jungen Vergangenheit und ihrer zögerlichen Reflexion in der Gegenwart lesen kann. 

Existenziell erleichtert und dankbar

Wird der strukturell belasteten Bevölkerung im Wege einer „öffentlichen Suggestion“ effektvoll mitgeteilt, dass eine allgemeine Bedrohung eingetreten sei, deren Überwindung entschiedenes und v.a. gemeinschaftliches Handeln erfordere – so fühlen sich viele existenziell erleichtert und dankbar. Die offizielle und dramatische Benennung eines Objekts der Angst und einer Strategie zu seiner Besiegung wird mental wie ein lang erwartetes Gewitter erlebt, das die Atmosphäre klärt. 

Der psychologische Gewinn des Krisenausbruchs, den Desmet unerbittlich ausbuchstabiert, liegt für viele von ihm Betroffene gleich auf mehreren Ebenen. Waren sie bisher schmerzlich vereinzelt, sind sie jetzt Teil eines Kollektivs; litten sie unter Sinnarmut, haben sie jetzt ein klares Ziel, das sie mit anderen verbindet; mussten sie bisher „frei flottierende Angst“ ertragen, so wird sie jetzt durch offizielle Ansage an ein Objekt gebunden – an die Terroristen z.B., an Russland oder eben an Corona. 

Nun beginne eine „von Pathos und Gruppenrhetorik getragene Mission“, erklärt Desmet, die Politiker und Journalisten aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus meist antrieben, statt sie zu bremsen. „Solidarität mit dem Kollektiv“ werde dann auch von den meisten Zögerlichen im Augenblick der Ungewissheit als wichtigste Pflicht akzeptiert, um nicht Gefahr zu laufen, mit unklaren Konsequenzen aus einer emotionalisierten Gruppe ausgeschlossen zu werden. 

Sinnstiftende Gefahrenabwehr

Die Maßnahmen zum Umgang mit dem Angstobjekt Virus haben – so legt Desmet schlüssig dar – die soziale Funktion eines Rituals, d.h. eines „symbolischen Verhaltens, dessen Ziel es ist, das Individuum der Gruppe zu unterwerfen“. Die Maßnahmen befolgen heißt gefühlt, seine Verlässlichkeit als Kampfgenosse zeigen, bedeutet, in der Gruppe in Sicherheit zu sein und zu bleiben; ja mehr noch: „Je absurder die Maßnahmen und je mehr sie einem abverlangen, desto besser erfüllen sie die Funktion eines Rituals.“ 

Diejenigen, denen die Notstandserklärung suspekt ist und die deshalb in die sinnstiftende Gefahrenabwehr nicht mit einsteigen wollen, sieht Desmet in prekärer Lage: Sie geben nun das unbewusst gesuchte Ziel für lang unterdrückte Aggression ab. Auch das ist für ihn – so hart es klingt – Teil des „psychologischen Gewinns“, den eine Gruppe, die der „kollektiven Hypnose“ der Massenformierung unterliegt, für sich verbucht und auch unbewusst verteidigen wird.  

Die Fundamentalisten und ihre Opfer

Wer nicht mitmacht trifft nach Desmets grober, mit klassischen Experimenten der Gruppenpsychologie untermauerten Rechnung bei Massenformierung auf ca. 30% der Bevölkerung, die dem Angst-Narrativ fundamentalistisch folgen: Ihre Wahrnehmung ist ganz auf „die Zahlen“, die „Infektions-Wellen“, die zu „brechen“ sind, auf „Abstandhalten“, „Masketragen“ und andere Ritual-Pflichten fokussiert. Abweichler werden als Gefährder wahrgenommen. 40-60% trauten sich nicht, von der offiziellen Linie abzuweichen, und der Rest widerstehe der Masse – stets nur ungefähr 10-20%.

Es ist eine Stärke des Humanisten Desmet, dass er keine pauschale Anklage an die weitgehend gehorsame Mehrheit formuliert, sondern psychologische Wirkzusammenhänge beschreibt und so eine Basis für Selbstbefragung und Verständigung schafft. So betont er, dass die katastrophalen Folgen „der Maßnahmen“ von den meisten nicht mutwillig ausgeblendet werden – sie können im Zustand kollektiver Hypnose nicht adäquat überdacht werden, egal, wie offenkundig sie sich abzeichnen. 

Dass es Senioren gab, die einsam sterben mussten, weil man sie vor einem Infekt „schützen“ wollte, und dass Kinder systematisch in ihrem Weltvertrauen verunsichert und oft dauerhaft seelisch geschädigt wurden, kommt in der Wahrnehmung einer Masse im sinnstiftenden „Kampf gegen das Virus“ nicht an. Es muss nicht böswillig ausgeblendet werden. 

Exzesse der Krisenpolitik

Das bedeutet für Desmet aber nicht, dass es keine Verantwortlichkeiten für die Exzesse der Krisenpolitik gebe. „Der Massenmensch“, so Desmet, „weiß in gewissem Sinne nicht, was er tut, doch das heißt nicht, dass man es ihm einfach so vergeben darf.“ Die Fundamentalisten forderten u.a. typischerweise konsequenten Gehorsam und die Disziplinierung, notfalls den Ausschluss oder die anderweitige Verfolgung von Abweichlern. Spätestens an diesem Punkt sind Fragen ethischer Verantwortung für ihn nicht mehr auszusparen.

Dissidenten würden bei Massenformierung schnell als „asozial und unsolidarisch“ oder gar „krank“ bezeichnet, und auch vorsichtig abweichende Anmerkungen zur Sache würden routinemäßig als „völlig unbegründet“ zurückgewiesen. Dem liegt nach Desmet eine psychologische Verlustangst zugrunde: „Leugner“ und „Verharmloser“ des Virus und regierungskritische Demonstranten, denen „die Maßnahmen“ unsinnig vorkommen, behindern für die fanatisierte Masse nicht nur das große, sie rauschartig beseelende Ziel der Pandemiebekämpfung. Sie werden auch aus einem anderen Grund gehasst: Die Oppositionellen drohen, sollten sie sich durchsetzen, die Gelegenheit zur billigen, oft beifallsbegleiteten Aggressionsabfuhr an den „Abweichlern“ zu beenden. 

Die Grausamkeit der Masse

Zu dieser psychologischen Analyse passt es bedrückend genau, dass Demonstranten und Impfunwillige in großen deutschen Medien und von Politikern regelrecht zu Unmenschen erklärt wurden. Michael Stempfle in der Tagesschau: „Die Mehrheit der Bevölkerung hat längst begriffen, dass es sich bei den radikalisierten Impfgegnern um Verfassungsfeinde handelt, die den demokratischen Staat ablehnen und für rationale Argumente nicht mehr empfänglich sind.“ Christian Vooren nennt Dissidenten in der Zeit „die Außenstehenden“ und schreibt ihnen pauschal „Antisemitismus und Rechtsextremismus, allgemeine Wissenschafts- und Verfassungsfeindlichkeit“ zu. 

„Impfen ist Liebe“ sagte die Kirche, was unzweideutig bedeuten sollte, es sei unchristlich, sich nicht mit den neuartigen Impfstoffen behandeln zu lassen. Impfunwillige sind „gefährliche Sozialschädlinge“, so Rainer Stinner (FDP) auf Facebook. Tobias Hans von der CDU erklärte: „Ihr seid jetzt raus aus dem sozialen Leben.“ Ein faktisches Berufsverbot für Ungeimpfte gilt in der Bundeswehr immer noch.

Die ungefähr 40-60% der Bevölkerung, die bei einer Massenbildung nach Desmets Überschlagsrechnung mitlaufen, ohne sich zu fanatisieren, werden auch schlimmste Misshandlungen der Dissidenten durch die kollektiv hypnotisierten Fundamentalisten zumeist nicht verhindern: Sie wagen es nach seinem Survey historischer Erfahrungen weit mehrheitlich nicht, sich dem entschiedenen Auftritt der Fundamentalisten entgegenzustellen, und laufen bis zum Ende mit. 

Gleichschritt der Extreme

Historisch, so lehrt uns Desmet mit häufigem Bezug auf Hannah Arendts Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, hat Massenformierung oft zu „Grausamkeiten gegen jene geführt, die der Masse widerstehen“. Diese Grausamkeiten würden typischerweise verübt, „als wären sie eine ethische, heilige Pflicht“ – denn mit diesen Grausamkeiten verteidigt die Masse die von ihr als erlösend erlebte Geschichte vom „solidarischen Kampf“ gegen eine gemeinsame Bedrohung. 

Der weitgehende Gleichschritt extremer und teils fanatisch vertretener Corona-Politik in den westlichen Industrieländern ist nicht zu verstehen, ohne Erkenntnisse der Totalitarismusforschung zu würdigen. Es darf allerdings keine vom deutschen Staat abhängige Totalitarismusforschung sein, wie das dröhnende Schweigen der deutschen Institute und Lehrstühle zum Thema Corona-Politik deutlich macht. Desmets Buch bietet die Gelegenheit, diese überfällige Diskussion zu beginnen und einen ehrlichen Blick in den Spiegel zu werfen. 

Mattias Desmet: Die Psychologie des Totalitarismus. Aus dem Niederländischen von Arne Braun. Europa Verlag. 272 Seiten. 24,00 €

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