Zukunft der SPD - Die liberale Verblendung

Die politische „Weiter so“-Stimmung reicht von den Linken bis zur FDP, mit Angela Merkel an der Spitze. Kritik am Kurs ist nicht gern gesehen. Aus diesem Klima muss sich die SPD befreien. Denn nur so kann der Partei der Neuanfang gelingen

Die „Ehe für alle“ ist der Sieg eines Freiheitskampfes / picture alliance
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Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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30. Juni 2017: Konfetti im Bundestag. Partys am Brandenburger Tor. Twitter und Facebook im Rausch. Berlin, ein Freudenhaus. Die Welt ein Regenbogen. 

Was war passiert? Die „Ehe für alle“ wurde beschlossen. So voller Leidenschaft und Enthusiasmus habe ich die liberale Elite des politischen Berlins noch nie erlebt. An diesem Tag hatte ich das Gefühl: Da glaubte ein Milieu gerade einen fundamentalen Sieg errungen zu haben. 

So falsch ist das nicht. Die „Ehe für alle“ ist ein Sieg: ein Sieg eines Freiheitskampfes. Für viele Menschen ist sie eine existenzielle Befreiung. Sie können heiraten und das ist auch gut so. Emanzipation war links, ist links und wird links sein. 

Kleinster gemeinsamer Nenner

Aber die Ehe für alle ist noch nicht die große Vision. Sie ist eher so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner einer liberalen Elite. Die liberale Elite berauschte sich zuletzt an einer liberal-postmodernen Gesellschaftspolitik. Diese erzeugte bei ihr die letzten großen Leidenschaften nach dem angeblichen Ende aller großen Erzählungen. Ein neues liberal-postmodernes Grundgefühl eroberte da zuletzt die Meinungselite, welches sie in die Welt trug. 

Worin bestand das Gefühl? Man muss sich nicht mehr verstehen, denn Vielfalt und Differenzen seien gut und befreiten die Gesellschaft. Man müsse die Differenzen halt nur aushalten. Toleriert euch und alles wird gut, das ist das Schlachtmotto der Postmoderne. 

In dieser Politik der liberalen Elite äußerte sich eine Life-is-good-Politik. Das „Ende der Geschichte“ wird politisch verwaltet. Kapitalismus und Demokratie hätten gesiegt. Der neue linksliberale Kulturkampf hinterließ daher den Eindruck: Die Elite findet die Welt schon ganz gut so. Man tat zudem so, als gebe es eine „Autobahn des Fortschritts“, so der Philosoph Pankaj Mishra. Nichts könne den liberalen Fortschritt aufhalten. Alles wird gut, habt nur Geduld, lehnt euch zurück und seht dem Liberalismus beim Siegen zu. 

Diese neue liberale Narration war und ist sehr angenehm, denn sie „bot eine Geschichte von schmerzloser Verbesserung“, wie Mishra treffend schreibt. Klassenkämpfe und Weltanschauungskämpfe wurden damit ad acta gelegt. Das Ende der Geschichte eben. 

Keine Schutzmacht gegen den Kapitalismus

Dass die Konservativen und Liberalen diese neue Narration nach 1990/91 schnell übernahmen und sich leichtgläubig dem neuen Liberalismus und seinen segensreichen Wirkungen öffneten, verwundert nicht. 

Doch dass gerade die Linke nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ihre Systemkritik aufgab, hat dem liberal-postmodernen Gefühl des nicht aufzuhaltenden liberalen Fortschritts erst so richtig zum Durchbruch verholfen. Man sprach nun von „New Democrats“, „New Labour“, einem „Dritten Weg“, einer „neuen Mitte“, einem „postideologischen Zeitalter“. Das war ein Neoliberalismus light. 

Nachdem die Linke ihre Rolle als Gegenmacht zu den Kapitalisten und als Schutzmacht für die kleinen Leute schleifen ließ, und sogar teilweise zum Helfershelfer des Kapitals avancierte, etablierte sich dann noch zusätzlich eine andere liberale Spielart unter den Mitte-Links-Parteien, nämlich ein postmoderner Liberalismus, der im Grunde nur Toleranz für Differenzen einfordert und ansonsten nahelegt, doch einfach das Leben zu genießen. Dieser postmoderne Liberalismus war die genannte letzte Leidenschaft der liberalen Elite. Diesen liberalen Werte-Kampf führt die Elite gegen die aus ihrer Sicht letzten Reste der Reaktionären in der Gesellschaft. In Deutschland ist ungewöhnlicherweise Angela Merkel zum Oberhaupt dieses Sonnenscheinliberalismus gewachsen. Dadurch wurde aus einem postmodernen Liberalismus von Mitte-Links ein Projekt von fast der ganzen deutschen politischen Elite.

Etikett der Schwarzmalerei

Durch diese Fokussierung kam es aber zu Ausblendungseffekten und zu Ausgrenzung von Kritikern. Bestes Beispiel dafür ist die Flüchtlings- und Migrationspolitik und die Politik offener Grenzen. Wer zuletzt nur den Anschein erweckte, er wolle differenziert die Probleme der Zu- und Einwanderung, die Problematik offener Grenzen und des freien Kapitalverkehrs hinterfragen, wurde leicht als „enfant terrible“ aus der Kommune der neuen liberalen Moralisten ausgeschlossen. Wer zuletzt über die Auswirkungen des weltweiten grenzenlosen Kapitalverkehrs, über innere Sicherheit, über No-Go-Areas, über Probleme mit bestimmten Migrantengruppen, über die sehr schwierige Frage der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, über Leitkultur, sprechen wollte, der wurde zur Kenntnis genommen. Aber doch aus dem inneren Zirkel der Weisheitsträger des „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) exkommuniziert.

Man bekommt als Kritiker des liberalen Moralismus mit der Ansicht, dass im Grunde doch sehr vieles sehr gut ist, unweigerlich eine Kassandra-Rolle zugeschrieben. In dieser Diskurshegemonie des postmodernen Liberalismus bekommt man das Etikett der Schwarzmalerei verpasst, wenn man kritisch sein will. Man muss mit dem Vorwurf leben, an dem so hart erkämpften Haus der Freiheit zu sägen und letztlich nur ein unbewusster Helfer der Populisten zu sein. Da man deren Positionen quasi eine demokratische Legitimation verleiht. Kritik ist oft nicht mehr gern gesehen. Aber genau das machte die Linke immer aus. Sie war immer kritisch. 

Aber unter den neuen Liberalen hat sich eine positive Psychologie etabliert. So einer positiven Psychologie, die im Grunde ein dauerhaftes „Wir-schaffen-alles“-Rufen und eine Auto-Suggestion ist, mag ich mich aber nicht anschließen. Denn es führt nur zu Verblendungs- und Ausblendungseffekten. Und genau das ist passiert: Man kann von einer liberalen Verblendung reden, die einer überparteilichen Fraktion aus dem liberalen Flügel der SPD, der Grünen, und der CDU, und der FDP sowieso passiert ist. 

Realistischer Kurs in der Integrationspolitik

Aber wer diese neue positive Psychologie des „Wir schaffen es“, nicht zu seiner Agenda machte, der war auf einmal nicht mehr „progressiv“. Das galt vor allem für Teile der „Linkspartei“, die aus dem Bund der Fortschrittlichen und Vorwärts-Laufenden ausgeschlossen wurde, als sei die Linkspartei nur ein Sammelbecken von Nostalgikern und Reaktionären. Gewiss, in der Linkspartei gibt es eine „crazy left“, die von ihrem Hass auf die Sozialdemokratie getrieben nur eine blinde „wahre Lehre“ forciert, die notwendig an der Realität zerschellen muss. Aber es war auch die – aus Sicht großer Teile der SPD-Funktionäre – Wortführerin dieser „crazy left“, Sahra Wagenknecht, die unentwegt für einen realistischen Kurs in der Integrationspolitik warb. 

Aber die Realisten konnten und können tun was sie wollten, sie wurden und werden als entrückt empfunden. Das traf ausgerechnet auch den Fraktionsvorsitzenden der SPD im Bundestag, Thomas Oppermann, der als einer der Wenigen, seit 2015 einen realistischen Kurs in der Integrationspolitik anmahnte. Sigmar Gabriel traf es auch, der in seiner Antrittsrede als SPD-Parteivorsitzender noch dafür warb, dort hinzugehen, wo es brodelt, riecht und stinkt. Gewiss, Sigmar Gabriel ist des Öfteren eigenen Widersprüchen erlegen, die ihn zuweilen erratisch haben wirken lassen. Gabriel scheiterte letztlich an sich selbst. Im Grunde gehört er aber zu den Realisten der deutschen Sozialdemokratie, die einen wachen Blick für die Probleme in der Welt haben.

„Deutschland, du musst nur glauben“

Ja, Sigmar Gabriel wollte auch immer ein Sozialliberaler sein. Und dieser Mitte-Sozialliberalismus war und ist das Problem der SPD. Aber Sigmar Gabriel ist kein liberaler Moralist. Wäre er mehr wie Sahra Wagenknecht gewesen, und hätte er sich nicht so oft von seiner eigenen Sprunghaftigkeit übermannen lassen, und wäre er mit einem linken Realismus konsequent gewesen, wäre er erfolgreich gewesen. 

Der SPD würde mehr Realismus gut tun, aber dieser Realismus wurde zuletzt von einer postmodernen Diskursverschiebung schlecht gemacht. So kam es, dass der Chor der Postmodernen – egal ob parteigebunden, journalistisch oder akademisch – Oppermann, Gabriel und Wagenknecht übertönte. So kam aus dem politischen Berlin die Botschaft: „Deutschland, du musst nur glauben. Denn wir schaffen das. Aber nur, wenn wir daran glauben.“ Die Pfarrerstochter Angela Merkel ist eine Priesterin dieser neuen liberalen Ideologie, die man neoliberalen Hegelianismus nennen kann: Alles wird besser, wir müssen nur warten.

Bedeutend an dieser Alles-ist-gut-Philosophie und diesem Glauben an den unaufhaltbaren liberalen Fortschritt ist nun aber: Das ist nicht mehr wirklich progressiv. Diese liberale Ideologie ist vielmehr konservativ. Im Grunde wird der Status quo verteidigt und idealisiert. Und in diesem Idealismus verfällt man dann noch der Naivität, dass alles von alleine besser wird. 

Wir brauchen einen Aufbruch

Das heute ist aber noch nicht die beste aller Welten. Das Ende der Geschichte ist noch nicht erreicht. Und es wird auch nicht von unsichtbarer Hand besser. Was wir brauchen, ist ein neuer Aufbruch. Fortschritt muss man dabei erkämpfen. Vor allem den sozialen. Die Linke muss das jetzt wieder verstehen. 

Parteipolitisch bedeutet das vor allem für die SPD nun einen radikalen Bruch und Aufbruch. Sie muss wieder eine linke Volkspartei mit dem Anspruch auf Demokratisierung der Wirtschaft und sozialer Einhegung des Kapitalismus werden. Ihr neues Credo dafür muss lauten: „Für die Menschen, nicht für die Märkte!“ Zuletzt muss die SPD in Fragen der Migrations- und Integrationspolitik sehr viel realistischer werden, und bei der Inneren Sicherheit eine härtere Gangart fahren. Wenn sie das tut, kann sie zu einer Partei der doppelten Sicherheit wachsen – soziale wie innere Sicherheit. Und wenn sie das schafft, hat sie wieder eine Chance. Aber auch nur dann.

Dieser Text basiert auf Nils Heisterhagens neuem Buch „Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen“, welches Anfang Mai im Dietz-Verlag erscheint, 352 Seiten, 22 Euro.

 

 

 

 

 

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