Wissenschaft im Ukrainekrieg - „Kein deutscher Wissenschaftler weiß, was im Kreml vor sich geht“

Auch im Ukrainekrieg gilt: Follow the Science! Doch wie unabhängig sind Historiker, Friedensforscher und Politikwissenschaftler? Und in welchem Spanungsverhältnis stehen Wissenschaft und Diplomatie? Ein Interview mit der Historikerin Sandra Kostner.

Studenten der Europa-Universität Viadrina warten auf den Beginn einer Videoverbindung mit Wolodymyr Selenskyj / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Dr. Sandra Kostner ist Historikerin an der PH Schwäbisch-Gmünd. 2020 gründete sie zusammen mit damals 24 weiteren Wissenschaftlern das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Zusammen mit dem Historiker und Migrationsforscher Stefan Luft veröffentlichte Sie in diesem Jahr den Sammelband Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“.

Frau Kostner, spätestens seit der Corona-Krise ist die wissenschaftliche Politikberatung in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Dabei wird oft vergessen, dass es nicht nur Medizin und Naturwissenschaften sind, die Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Auch im Ukrainekrieg lässt sich die Politik gerne beraten. Warum braucht Politik Wissenschaft? 

Die Politik bedient sich gerne der „richtigen“ Wissenschaft. Und das ist natürlich stets die Wissenschaft, die die jeweils präferierten Positionen absichert und die das entsprechende Handeln legitimiert.

Was kann Wissenschaft denn leisten, was Politik und Diplomatie in Sachen Krieg und Frieden nicht leisten können?

Im Idealfall ist Wissenschaft nicht in demselben Korsett, in dem sich die Politik befindet. Wir reden beim Ukrainekrieg ja vor allem über Geopolitik. Und vermutlich gibt es kaum einen Bereich, der so sehr von Machtinteressen durchwoben ist wie eben dieser doch sehr besondere politische Bereich. Man sieht das ja etwa beim Verhalten und der Positionierung Deutschlands im aktuellen Krieg: Es fällt der deutschen Politik offenbar sehr schwer, eigene Interessen zu formulieren und sich gegenüber den Ansprüchen anderer Staaten, etwa der USA, zu behaupten.

Und die Wissenschaften wären hier freier?

In den Wissenschaften ist man zumindest von der Theorie her frei zu denken und zu forschen, was man für richtig und wichtig hält. Nun zeigt sich natürlich bei diesem Thema, dass das Korsett der Politik auch stark auf die Wissenschaften abfärbt. Denn natürlich sind Wissenschaftler von Forschungsgeldern abhängig. Zudem wollen sie publizieren und zu Tagungen eingeladen werden. Und sie möchten nicht der medialen Verurteilung zum Opfer fallen, weil sie zu Forschungsergebnissen kommen, die den präferierten Narrativen zuwiderlaufen. Ich vermute, dass es diese Abhängigkeiten und die Sorge vor einem Reputationsverlust sind, die viele Kollegen davon abhalten, Forschungsfragen in den Blick zu nehmen, die zu Ergebnissen führen könnten, die zeigen, dass westliche Geopolitik eine Mitverantwortung am Ukrainekrieg trägt.

Würden Sie sagen, dass hier in den vergangenen Jahren und ganz unabhängig vom aktuellen Krieg der Druck auf die Wissenschaften zugenommen hat?

Was die Geopolitik betrifft, würde ich das im Vergleich vor allem zur unipolaren Phase, die von der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1992 bis ungefähr 2016/17 dauerte, bejahen. Während der unipolaren Phase war klar, dass die USA die unangefochtene Weltmacht waren, was das geopolitische Spannungspotenzial und damit auch den Druck, sich „seiner“ Seite zuzuordnen, deutlich verringerte. Das hat sich in Bezug auf Russland schon im Jahr 2014 verändert, als Russland infolge des Maidan-Putsches die Krim annektierte. Russland agierte mit diesem Schritt erstmals ganz offen gegen die geopolitischen Interessen der USA, wodurch es zum Systemgegner wurde und eine neue Runde geopolitischen Kräftemessens eröffnet wurde. Seit Washington China zum Systemrivalen erklärt hat und den weiteren Aufstieg Chinas zur Weltmacht unterbinden will, hat das geopolitische Konfliktpotenzial massiv zugenommen, was sich auch in der Wissenschaft in dem Sinne bemerkbar macht, dass der Druck gestiegen ist, so zu forschen, dass es den geopolitischen Interessen des US-geführten Westens entspricht.

Der Druck wuchs also spätestens mit dem Aufstieg Chinas an.

Genau. Und seither tritt eine geopolitische Neuordnung ein. Solche Phasen der Neustrukturierung sind immer besonders gefährlich. Und es sind solche Phasen, in denen die geopolitischen Gegenspieler versuchen, die eigenen Reihen zu schließen. Das bedeutet, dass Analysen, die das Agieren der eigenen Seite kritisch sehen, weil ihm Konflikt- und Eskalationspotenzial zugeschrieben wird, als eine Art der Illoyalität gedeutet und sanktioniert werden. Es entsteht ein Bekenntnisdruck, der über Politik und Medien transportiert wird und sich auch auf Wissenschaftler auswirkt. Wenn die eigene Seite als die Gute dargestellt wird, die von Werten geleitet agiert und Freiheit und Demokratie verteidigt, während auf der anderen Seite das abgrundtief Böse steht, ist es schwer für Wissenschaftler, sich dieser Art von moralischer Nötigung zu entziehen. Sie überlegen sich dann gründlich, ob sie mit Positionen nach außen gehen, die dem gängigen Narrativ widersprechen.

Nun sind „gut“ und „böse“ aber keine wissenschaftlichen Kategorien. Wissenschaftliche Kategorien sind These und Antithese, Verifikation und Falsifikation, falsch und richtig …  

Sandra Kostner

„Richtig“ ist aber spätestens mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine noch einmal sehr deutlich zu einem moralischen „Richtig“ geworden. Es geht um die Frage, ob man auf der richtigen Seite des „Wertewestens“ oder auf der Seite der Autoritären und der Diktatoren steht. So hat es ja auch schon Joe Biden am Beginn seiner Amtszeit formuliert: Demokratie oder Autokratie. Das macht es auch für Wissenschaftler schwer, eine Situation nach den nüchternen Fakten zu bewerten und danach zu fragen, was genau passiert ist und wie sich eine Situation aufgeschaukelt hat, bis sie schließlich in einem Krieg eskaliert ist. Wer dies tut, kommt schnell in den Verdacht, dass er der anderen Seite zuarbeite. Das ist vor allem dann der Fall, wenn wissenschaftliche Forschung mithilfe von Quellen zeigt, dass westliche Geopolitik ihre Rolle zum Kriegsausbruch beigetragen hat. Dann ereilt Wissenschaftler schnell der Vorwurf, Putin zu unterstützen, weil Putin die Geopolitik des Westens ebenfalls kritisiert. In der Wissenschaft hat das in erster Linie „sanfte“ Sanktionen zur Folge: Sie werden nicht mehr zu Tagungen eingeladen, bekommen keine Forschungsgelder mehr und werden so letztlich irrelevant. 

Was Sie da schildern, wären natürlich besonders drastische Fälle. Aber wird nicht in der Regel das allermeiste, was publiziert wird, schlicht und einfach ignoriert?

Das stimmt. Wer ignoriert wird, den nimmt man nicht als Gefahr wahr, weil man entweder in dem jeweiligen Forschungsbereich nicht über beträchtliches Renommee oder weil man über keine große Öffentlichkeit verfügt. Wer aber bekannt ist und dennoch abweichende Analysen publiziert, der wird zur Gefahr und notfalls mit öffentlichen Sanktionen belegt. Das konnte man am Fall Ulrike Guérot ja gut beobachten.

Vieles ist darüber damals in den Medien geschrieben worden. Wie aber hat der „Fall Guérot“ in die Wissenschaften selbst zurückgewirkt?

Selbst wenn man nicht die Ansichten von Guérot teilte, überlegte man sich fortan zum Thema Ukrainekrieg zweimal, was man öffentlich sagte und publizierte. Der große Freiraum, den man als Wissenschaftler eigentlich haben sollte, wurde auf diese Weise in einer Art Selbstzensur beschnitten. Viele hatten Angst, dass sie in Situationen kommen könnten, die potentiell karrieregefährdend wären und die einen Reputationsverlust bedeuten könnten. Denn wer wollte sich schon als Putin-Propagandist durch die Republik treiben lassen?

Jetzt haben wir eigentlich die meiste Zeit über inhaltliche Probleme von Wissenschaften im Feld des Politischen gesprochen. Gibt es darüber hinaus aber nicht auch massive strukturelle Probleme, die die in Artikel 5 des Grundgesetzes zugesprochene Wissenschaftsfreiheit mehr und mehr gefährden? 

Ich glaube, dass die neoliberalen Hochschulreformen, von denen ja nicht nur Deutschland betroffen war, zu Lasten der Freiheit gegangen sind. Man hat die Wissenschaft immer mehr von Drittmittel- Akquise abhängig gemacht. In der Medizin wuchs somit der Einfluss der Pharmaindustrie; und in den Politikwissenschaften sowie in der Friedensforschung wurde man noch abhängiger von öffentlichen Fördertöpfen. Wenn Sie beobachten, dass sich die Politik sehr eindeutig positioniert, dann werden Sie in der Wissenschaft nicht zur Abweichung tendieren – auch dann nicht, wenn es inhaltlich vielleicht geboten wäre. Da muss man schon sehr für ein Thema brennen und absolut davon überzeugt sein, dass das, was man herausgefunden hat, auch richtig und den Preis des Engagements wert ist.

Wir alle haben doch irgendwo einen Punkt, an dem uns der Preis für abweichende Analysen zu hoch wird. Man muss als Wissenschaftler schließlich immer schauen, dass man in den für die Fachdisziplin wichtigen Journals publizieren kann. Und man muss Drittmittel einwerben, wobei auch hier gilt, dass man diese Mittel von bestimmten Geldgebern einwerben muss, wenn man in der Wissenschaft vorankommen möchte oder eine entsprechende Reputation im eigenen Fach haben möchte. Die Wahrscheinlichkeit, diese Gelder zu akquirieren, sinkt, wenn sie politisch oder ideologisch inopportune Forschungsfragen bearbeiten.

Wenn durch diese strukturelle Verengung am Ende aber immer öfter jene Wissenschaftler das Wort führen, die das öffentliche Narrativ inhaltlich stützen und weitertransportieren, bekommt dann nicht der Diskurs mehr und mehr Tote Winkel und blinde Flecken? Erzeugen Gesellschaft und Politik letztlich nicht ihre eigenen, möglicherweise sogar gefährlichen Wissenslücken? 

Objektiv und die Interessen des Landes umfassend und längerfristig im Blick habend, lautet die Antwort darauf: ja. Nur: Politiker handeln hier eher danach, was ihnen subjektiv in einer konkreten Situation von Nutzen ist. Das haben wir ja auch bei der Coronapolitik gesehen. Wie bei Corona lastet bei geopolitischen Fragen ein enormer Druck auf den Politikern, sodass es für sie besonders wichtig ist, sich von „der“ Wissenschaft bestätigen zu lassen, dass ihr Handeln richtig ist. Wissenschaft wird hier zu einer politischen Legitimationsinstanz. Diese Politisierung von Wissenschaft hat allerdings zur Folge, dass die von Ihnen erwähnten Wissenslücken und blinden Flecken entstehen.

Eine dieser gravierenden Wissenslücken wurde jüngst in einem Statement von Annalena Baerbock sichtbar: In einem Interview zur fehlenden Wirksamkeit der Sanktionen gegen Russland sagte sie, dass die Sanktionen eigentlich hätten greifen müssen, dass aber die Logik in Demokratien eine andere sei als die Logik in Autokratien. Mal abgesehen davon, dass die Aussage an sich zu hinterfragen wäre, muss man nicht darüber nachdenken, ob sie eventuell falsch beraten war?

Ich glaube, es ist für Wissenschaftler extrem schwierig, sich in einer moralisch aufgeladenen Situation hinzustellen und faktenbasiert zu argumentieren, dass die Sanktionspolitik den eigenen Interessen schaden werde und schon aus diesem Grund problematisch ist. Zusammen mit meinem Kollegen Stefan Luft habe ich genau das bereits im Mai 2022 beschrieben. Doch damals wollte das leider niemand hören.

In dem selben Artikel, aus dem dann später auch eine Aufsatzsammlung entstanden ist, stellen Sie die Frage, warum Diplomatie in diesem Krieg bis dato so verächtlich gemacht worden ist. Nun war just in dieser Woche in den Agenturen zu lesen, dass selbst der ukrainische Präsident Selenskyi seine Bereitschaft habe erkennen lassen, über die Zukunft der Krim zu verhandeln. Fühlen Sie sich da im Nachhinein bestätigt?

Krieg ist in der Regel immer das Versagen der Diplomatie. Schon vor diesem Hintergrund war unsere damalige Frage sehr berechtigt; zumal die westliche Seite schon vor dem Krieg dem Kreml zu verstehen gegeben hat, dass man die russischen Sicherheitsinteressen nicht berücksichtigen werde. Aber eines will ich auch sehr deutlich sagen: Als Wissenschaftler machen wir ein Diskursangebot. Unser Buch beansprucht nicht, „die“ Wahrheit zu kennen. Es ist vielmehr ein Angebot zum Diskurs, zur Vielfalt und Perspektiverweiterung. Es wäre fahrlässig, wenn man behauptete, man wisse genau, was aktuell zu tun sei. Erstaunlich viele Wissenschaftler haben in den vergangenen Monaten mit einer unglaublichen Selbstsicherheit über den Krieg gesprochen, die ich als Wissenschaftlerin wirklich irritierend finde, einfach deshalb, weil Wissenschaft von der fortwährenden Suche nach Wahrheit lebt. Diese ist nie abgeschlossen, man erschließt zum Beispiel neue Quellen, und man muss seine Erkenntnisse revidieren. Kein deutscher Wissenschaftler weiß genau, was im Kreml vor sich geht. Das kann niemand wissen, weshalb man nicht den Eindruck erwecken sollte, dass man es dennoch tut. Etwas mehr Bescheidenheit stünde manchem allzu sehr zu Kurzschlüssen Neigendem gut zu Gesicht.

Sandra Kostner/Stefan Luft: Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht". Westend Verlag. 336 Seiten. 24 €.

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