Verfassungspatriotismus statt Nation? - Über Zusammenhalt und Freiheit in Einwanderungsländern

Statt Nationalbewusstsein sollen nach verbreiteter Vorstellung liberale Werte für Zusammenhalt sorgen. Doch ein solcher Verfassungspatriotismus kommt nicht ohne kulturelle Fundamente aus. Insbesondere in Einwanderungsländern.

Deutschlandfahne in einem Berliner Schrebergarten / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ronald G. Asch hatte den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Freiburg inne

So erreichen Sie Ronald G. Asch:

Anzeige

Deutschland ist ein Nationalstaat wider Willen. Zwar kam es 1989 überraschend doch noch zur Wiedervereinigung, die formal eine Wiederherstellung des 1870 geschaffenen und 1945 zusammengebrochenen Nationalstaates, wenn auch in territorial reduzierter und stark transformierter Gestalt darstellte, aber diese Entwicklung wurde von der politischen Linken – von einigen Ausnahmen abgesehen – in Westdeutschland nur widerwillig akzeptiert. Aber auch in den bürgerlichen Parteien hielt sich die Begeisterung zumindest bei den Jüngeren eher in Grenzen. Jedenfalls wurde Deutschland auch nach der Wiedervereinigung nicht zu einem „normalen“ europäischen Staat, der seine eigene Existenz und Geschichte ohne allzu große Vorbehalte akzeptiert.

Das unvermeidbar schwierige Verhältnis zur nationalen Vergangenheit nimmt sich aus der heutigen Sicht freilich nicht mehr gar so ungewöhnlich aus wie vielleicht vor 30 Jahren. Mittlerweile bestimmen auch in Ländern wie Großbritannien – das ohnehin mit Blick auf Schottland und Wales immer ein recht heterogenes Staatsgebilde war – vielfach Selbstzweifel die öffentliche Debatte über die eigene Nation. Einerseits ist es das Erbe der Kolonialzeit, das zunehmend kritisch gesehen und zur moralischen Erblast wird, andererseits auch die Erosion einer wie immer gearteten nationalen Kultur, die durch kulturelle Globalisierung und Homogenisierung gleichermaßen wie durch die zunehmende ethnische Heterogenität im eigenen Land geschwächt wird.

Begriff des Verfassungspatriotismus

Damit stellt sich freilich die Frage, was eine Gesellschaft noch zusammenhalten kann, wenn das kulturell und historisch fundierte Nationalbewusstsein immer brüchiger und schwächer wird. Eine klassische Antwort auf diese Frage ist gerade in Deutschland oft der Verweis auf das Modell des Verfassungspatriotismus gewesen: Bürger sollen sich vor allem den Freiheitsidealen und Partizipationsrechten, die die Verfassung garantiert, verpflichtet fühlen – und das soll sie auch motivieren, für ihr Land in Krisenzeiten einzustehen.

Als Dolf Sternberger diesen Begriff 1970 in die Debatte einführte, war er freilich noch unscharf; er wollte vor allem betonen, dass Bürger ohne von der Verfassung garantierte Freiheitsrechte eigentlich nur Untertanen seien, die sich daher auch nicht mit dem Staat, in dem sie leben, identifizieren könnten. Das war im Übrigen ein traditionelles Argument des frühneuzeitlichen Republikanismus, der den Monarchien und erst recht den Despotien mangels politischer Partizipation die Fähigkeit zur Entwicklung von Patriotismus generell absprach. Eine grundsätzliche Ablehnung eines auch kulturell konnotierten Nationalbewusstseins war damit zumindest nicht zwangsläufig gemeint.

Viele heutige Verfechter der Idee des Verfassungspatriotismus beharren aber darauf, dass allein die Verfassung mit den Werten, die in ihr ihren Ausdruck finden, politische Identität schaffen soll; unabhängig von allen kulturellen Faktoren und kollektiven historischen Erinnerungen oder sinnstiftenden nationalen Erzählungen, die vielleicht sonst ein Gefühl der Zusammengehörigkeit hervorrufen könnten. Aber ist ein solches Modell tragfähig? Diese Frage stellt sich heute dringender denn je, auch angesichts einer kaum zu steuernden Migration.

USA als Vorbild?

Oft wird auf die USA verwiesen, die heute mehr denn je ein kulturell sehr heterogenes Land sind, das dafür aber durch den ständigen Bezug auf den revolutionären Gründungsakt des Staates und einen wahren Verfassungskult, der zumindest in der Vergangenheit Züge einer Zivilreligion trug, geprägt ist. Der amerikanische Verfassungspatriotismus ist freilich ähnlich wie in Frankreich tendenziell missionarisch. Die USA beanspruchten für sich unter den Nationen in der Vergangenheit immer wieder eine Ausnahmestellung, als „city upon a hill“, als Vorbild für die ganze Welt, und mit dem Auftrag, auch den Rest der Welt durch das eigene Beispiel oder seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch durch eine interventionistische Außenpolitik zu Freiheit und Demokratie zu führen.

Dass dieses Auserwähltheitsbewusstsein, das bis auf die puritanischen Siedler in Neuengland im 17. Jahrhundert zurückgeht, leicht in sein Gegenteil umschlagen kann, ein Gefühl des Versagens und der eigenen Sündhaftigkeit, war freilich auch immer schon richtig, und momentan scheinen solche Gefühle zu dominieren. Aber dennoch sehen Amerikaner ihr Land meist nicht wirklich als „normale“ Nation unter anderen, sondern als Ausnahme, im Guten wie im Bösen.

Kosmos freiheitlicher Werte

Heute kann freilich auch dieses Bewusstsein der Exzeptionalität in Verbindung mit dem von allen Seiten stets wiederholten Bekenntnis zur Verfassung das Land ganz offenkundig kaum noch zusammenhalten; seit Ende des Bürgerkrieges war es kaum je so gespalten und polarisiert wie heute. Das lässt einen an die warnenden Worte des englischen Philosophen John Gray denken.

Der wies schon vor Jahren darauf hin, dass in einer Gesellschaft, die nur noch durch abstrakte juristische Normen und die legitimierende Kraft formaler Verfahren zusammengehalten wird, Recht und Gerichte, aber auch andere staatliche Institutionen, zwangsläufig immer stärker politisiert und von den Parteien instrumentalisiert werden, so dass am Ende die Entscheidungsverfahren selbst angezweifelt und delegitimiert werden – ein Prozess, den man in den USA bei den letzten Präsidentschaftswahlen gut beobachten konnte. Die Verfassung mag für einen Kosmos freiheitlicher und republikanischer Werte stehen, aber welche das sind und wie sie politisch zum Tragen kommen, darüber können sich Demokraten und Republikaner nicht einmal mehr ansatzweise einigen.

Ohne historische Fundamente hält es nicht

Letztlich bedarf ein auf die Verfassung und Freiheitsrechte konzentrierter Patriotismus eben doch kultureller und historischer Fundamente, die gewährleisten, dass auch politische Gegner sich als Teil eines größeren Ganzen sehen. Das war in älteren historischen Epochen auch oft genug der Fall.

Der Stolz auf spezifisch nationale Freiheitsrechte, in denen zugleich universale Werte ihren Ausdruck finden, ist ja keine Erfindung des Zeitalters der Amerikanischen und Französischen Revolution; er findet sich schon im 16. und 17. Jahrhundert. Es genügt hier auf das Ideal der „teutschen Libertät“ im Heiligen Römischen Reich, auf die Adelsfreiheit in Polen, den Freiheitsstolz der Niederländischen Republik oder das englische Beharren auf den singulären Freiheitsgarantien des Common Law und der englischen Mischverfassung als einer „monarchical republic“ zu verweisen.

Immer waren solche Identitätsentwürfe mit der Vorstellung verknüpft, dass die eigene Freiheitstradition eingebettet sei in eine sehr spezifische Kultur und Lebensweise und ihr Fundament in sozialen Strukturen ebenso wie in einer in ihrer Art unverwechselbaren Geschichte finde. Meist fehlten auch die entsprechenden Feindbilder nicht, ob es nun die „viehische spanische Servitut“ in Deutschland war oder die Verbindung von „Papismus“ und Holzschuhen (als Zeichen der Armut), für die angeblich der französische Absolutismus stand, im England des 18. Jahrhunderts.

Solche nationalen Feindbilder, die zugleich die Exzeptionalität des eigenen Landes als Träger freiheitlicher Werte hervorhoben, mögen uns als ein Anachronismus und als abstoßend erscheinen, aber kann ein Verfassungspatriotismus, der mehr als eine blutarme Fiktion sein soll, ganz ohne sie auskommen, namentlich in Krisenzeiten, wenn von den Bürgern Opfer verlangt werden?

Was der Freiheitskampf der Ukraine zeigt

Blickt man auf die heutigen Konflikte in Europa wird man rasch eines Besseren belehrt. Der Versuch der Ukraine, sich von der russischen Vormundschaft zu lösen, mag 2014 durch das Ziel motiviert gewesen sein, sich jene Freiheitsrechte zu sichern, die in der EU garantiert, in Russland den Bürgern aber verwehrt waren und sind, und eben nicht durch einen klassischen Kulturnationalismus. Mittlerweile hat der Konflikt aber auch eine stark kulturell-ethnische Dimension angenommen. 

Die russische Kultur und Literatur werden in der Ukraine zurückgedrängt, bis hin zum Verbot in Russland gedruckter Bücher zu importieren. Solche Maßnahmen kann man zurecht als überzogen und mit Blick auf die Geschichte der Ukraine sogar als eine Art kultureller Selbstamputation ansehen. Historisch gesehen freilich findet man so etwas auch in anderen neuen Nationalstaaten, die sich auf dem Wege der Sezession von größeren Imperien lösten, wie in Irland nach 1920. Offenbar bedarf es auch einer klaren kulturellen Identität, um die Menschen in dem Kampf auf Leben und Tod, in den die Ukraine jetzt verwickelt ist, zu motivieren; ein rein abstraktes Verfassungsideal ist da unzureichend. Dafür stirbt man nicht.

Im Übrigen hat das Schreckbild eines barbarischen, von jeher despotisch regierten Russland auch in Westeuropa durchaus wieder Konjunktur. Sicher, es mag in dieser Zuspitzung ein Zerrbild sein, aber Freiheitsideale sind nun einmal nicht einfach kulturell neutral. Und in der Tat sind nicht alle kulturellen Traditionen gleichermaßen mit dem Modell des modernen demokratischen Rechtsstaates kompatibel, wie man uns heute, wenn es nicht gerade um Russland geht, in kulturrelativistischer Weise gern darlegen will.

Die Frage des Zusammenhalts wird akut

Das wirft ernste Fragen vor allem für Staaten auf, die sich als Einwanderungsländer verstehen und dies faktisch auch sind. Eine Verfassungs- und Rechtsordnung braucht, um Bindungskraft zu entfalten, zumindest ein gewisses Fundament an bestimmten sozialen Konventionen, die stillschweigend den Umgang der Menschen miteinander im Alltag regeln, ohne dass jedes Mal die Gerichte oder staatliche Behörden eingreifen müssen.

Wenn das so ist, dann steht es um die Zukunft der Rechtsordnung nicht gut, wenn dieses Fundament erodiert, weil sich einerseits immer stärker radikal divergierende Lebensentwürfe auch unter der einheimischem Bevölkerung gegenüberstehen und andererseits Immigranten immer weniger dazu bereit oder in der Lage sind, sich an die Alltagskultur, die sie vorfinden, anzupassen.

Kein gemeinsames kulturelles Fundament

Das ist freilich ein Thema, das auch und gerade in Deutschland tabuisiert wird, weil man ja niemandem die eigene Kultur in welcher Form auch immer aufdrängen will und stattdessen an jeder Stelle Diversität und Buntheit feiert und diese Vielfalt durch immer strengere Antidiskriminierungs- und Inklusionsvorschriften versucht so gut wie möglich zu kultivieren und zu schützen. Damit bleibt die Rechtsordnung als einzige Integrationskraft, die sich dann aber wie in den USA leicht politisieren kann.

Erkennbar ist das bereits an der Einrichtung von Meldestellen für politisch vermeintlich inkorrekte Äußerungen und anderen Versuchen, die Meinungs- und Redefreiheit im vermeintlichen Kampf gegen „Hass und Hetze“ einzuschränken, auch, wenn wir hier noch nicht ein ähnliches Niveau wie z. B. in England oder gar in Schottland erreicht haben, wo „non crime hate incidents“ regelmäßig zu polizeilichen Interventionen führen. 

 

Das könnte Sie außerdem interessieren:

 

Aber vielleicht sind stärkere Freiheitsbeschränkungen in einer Gesellschaft, die kein gemeinsames kulturelles Fundament mehr besitzt, sondern nur noch durch Verfassung und Strafrecht mühsam zusammengehalten wird, sogar unvermeidlich. Sind nicht vielleicht unsere modernen Gesellschaften mit ihrem Mangel verbindlicher sozialer Konventionen und ihrer rasant zunehmenden ethnischen und sonstigen „Buntheit“ wirklich so heterogen geworden, dass wir uns kontroverse Debatten zu vielen Themen gar nicht mehr leisten können?  

Je mehr Konsens, desto mehr Freiheit ist möglich

Historisch gesehen, waren oft jene Gesellschaften besonders liberal, die sich offenen Streit tatsächlich glaubten leisten zu können, weil es jenseits des Streits im Alltag einen grundsätzlichen Wertekonsens und eine gemeinsame kulturelle Identität gab, die verhinderte, dass dieser Streit die gesellschaftliche Stabilität untergrub. Das galt jedenfalls für Großbritannien im 19. und frühen 20. Jahrhundert, um nur ein Beispiel zu nennen.

Wo sich in einer Gesellschaft hingegen Gruppen gegenüberstehen, die einander völlig fremd sind und die nichts außer einer formalen Rechts- und Verfassungsordnung und der Legitimation von Ordnung durch bloße Verfahren zusammenhält, stellt sich schon die Frage, ob nicht jedes „falsche“ Wort eine Provokation zu viel ist, die wie ein Funke in einem Pulvermagazin wirkt. Folgt man dieser Analyse, wird es schwer sein, den Sieg der Gegner der Meinungsfreiheit mit ihrem Kampf für eine umfassende Sprach- und am Ende auch Gedankenpolizei aufzuhalten, weil das Verlangen nach gesellschaftlicher Stabilität größer sein wird als die Sehnsucht nach Freiheit; jedenfalls wird das wohl für Deutschland gelten.

Dann hätte sich freilich ein scheinbar liberaler, postnationaler Verfassungspatriotismus, der durch das Bekenntnis zu Freiheitsrechten Integration gewährleisten soll, in sein Gegenteil verkehrt, weil die kulturelle Heterogenität, die er normalisieren will, ihrerseits mit wirklicher Freiheit nicht mehr vereinbar wäre.

 

Anzeige