Verfall und Untergang - Römisches Menetekel

Staatsverschuldung, Massenmigration, gesellschaftliche Spaltung - droht dem Westen heute ein ähnliches Schicksal wie einst dem Römischen Imperium? Zwei Neuerscheinungen scheinen diesen Schluss nahezulegen.

Giovanni Paolo Pannini: „Ruinenlandschaft mit Kolosseum und Konstantinsbogen und Allegorie auf den Untergang des Römischen Reiches“ (1757) / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

So erreichen Sie Thomas Mayer:

Anzeige

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“, geht ein viel zitierter Satz, der Mark Twain zugeschrieben wird. Auch wenn die Autorschaft umstritten ist, deutet die Popularität dieser geflügelten Worte doch darauf hin, dass an ihnen etwas dran sein könnte. Tatsächlich laden die gegenwärtigen Herausforderungen des Westens im Allgemeinen und der Europäischen Union im Besonderen zu der Frage ein, ob sie sich auf die Geschichte des Niedergangs des Römischen Reiches reimen. 

In ihrem jüngst erschienen Buch über den Untergang von Imperien finden Peter Heather und John Rapley erstaunliche Parallelen zwischen den Entwicklungen des Römischen Reiches und des heutigen Westens. In beiden Fällen habe der geopolitische Machtgewinn Veränderungen angestoßen, die den Aufsteigern den Wind ins Gesicht bliesen und im Fall Roms zum Untergang führten. Zwar halten die Autoren Edward Gibbons Meisterwerk vom „Verfall und Untergang des römischen Imperiums“, das in den Jahren von 1776 bis 1788 erschien, für teilweise überholt. Doch erzählt Gibbon dort von Entwicklungen, die für die Europäische Union von heute erstaunlich aktuell klingen. 

Seit einigen Jahren erleben wir geopolitische Machtverschiebungen, die der Europäischen Union erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Das Bemühen Chinas, den USA die globale Hegemonie abzuringen, und der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine haben daran erinnert, wie wichtig militärisches Potenzial zur nationalen Selbstbehauptung ist. Gleichzeitig haben die zahlreichen Konflikte in Vorderasien und Afrika eine Migrationswelle nach Europa ausgelöst. Die Einwanderer, insbesondere aus den muslimischen Ländern, integrieren sich nur widerwillig. Sie neigen dazu, Parallelgesellschaften zu bilden, und drohen die europäische Gesellschaft zu spalten. Diese ist aber zu wohlstandsverwöhnt, politisch zerstritten und finanziell überschuldet, um erneut aufrüsten zu können. Sie vermag aufgrund moralistischer Skrupel die Außengrenzen gegen unkontrollierte Einwanderung nicht mehr zu schützen und ihre Werte gegen das zum Teil archaische Weltbild islamischer Einwanderer zu behaupten. 

Die Staatschulden wuchsen, die Inflation stieg – im alten Rom

Gegen Mitte des ersten Jahrtausends stand Rom vor ähnlichen Herausforderungen. Viele Römer wollten sich den harten Militärdienst nicht mehr zumuten, sodass das Heer zunehmend auf fremdländische Legionäre mit zweifelhafter Staatsloyalität zurückgreifen musste. Der Aufstieg der teilweise fundamentalistisch geprägten christlichen Religion führte zum Konflikt mit den griechisch-römischen Wertvorstellungen und zur inneren politischen und gesellschaftlichen Zersplitterung. Die Schulden wuchsen dem Staat über den Kopf, die Währung zerfiel und die Inflation stieg. 

Die Soldaten ließen sich nicht gern mit wertlosen Münzen bezahlen. Daher ging man dazu über, die direkten Steuern zu erhöhen. Aber es wurde immer schwieriger, diese einzutreiben. Dem Staat fehlten die Mittel, neue Straßen zu bauen, die öffentliche Infrastruktur zu erhalten oder für Sicherheit zu sorgen. Wer konnte, verbarrikadierte sich auf seinen Landgütern und versorgte sich selbst. 

 

Mehr von Thomas Mayer:

 

Als der asiatische Stamm der Hunnen im vierten Jahrhundert n. Chr. in Europa einfiel, trieb er die Goten gegen die Grenzen des Römischen Reichs. Zunächst gewährte ihnen der oströmische Kaiser Valens Asyl. Da sie sich aber von den Römern schlecht aufgenommen fühlten, begannen sie, diese zu bekriegen. Als das Imperium dann auch noch in Britannien und Gallien unter Druck kam, nutzte der Gotenkönig Alarich dessen Schwäche, um im Jahr 410 die Stadt Rom zu überfallen und zu plündern. In den folgenden Jahren wurde das weströmische Reich dann von den „Barbaren“ gekapert und 476 vollständig übernommen.  

Gibbon notiert: „Die römische Welt wurde von einer Flut von Barbaren überschwemmt.“ Gleichzeitig faulte sie von innen her: „Die römische Regierung erschien ihren Feinden von Tag zu Tag weniger furchteinflößend, ihren Untertanen jedoch immer verhasster und bedrückender. Die Steuern wurden mit der öffentlichen Not vervielfacht, und die Ungerechtigkeit der Reichen verlagerte die ungleiche Last von ihnen auf das Volk, das sie es um die Nachsicht betrogen, die manchmal sein Elend hätte lindern können.“ Ersetzt man die „Reichen“ mit den „moralisierenden politischen Eliten“, erhält Gibbons Text eine beunruhigende Aktualität. 

Wie dem Imperium könnte der Kontrollverlust über die Immigration Europa den Rest geben  

Die Römer fühlten zwar, wie die Immigration dem Reich zusetzte, aber die wenigsten sahen den Untergang kommen. Der Althistoriker Michael Sommer erzählt, wie Sidonius Apollinaris, sowohl Staats- und Kirchenmann als auch fleißiger Briefschreiber, noch im Jahr 455 eine Lobrede auf seinen Schwiegervater Avitus hielt, der sich mit Unterstützung des Gotenkönigs Theoderich zum römischen Imperator hatte ausrufen lassen. Die Schicksalsgöttinnen hätten Rom ein glückliches Zeitalter bereitet, befand Sidonius – und das, obwohl die Goten schon mit dem Schicksal Roms spielten. Sie ließen Avitus im Stich, und er wurde 456 gestürzt. Sidonius floh nach Gallien. Von dort aus beklagte er in seinen Briefen den um sich greifenden Verfall. „Die Straßen sind nicht mehr sicher, weil die Völker in Bewegung geraten sind.“ Und bei den Goten machten ihm „streitsüchtige, versoffene und ekelhafte Kreaturen“ zu schaffen, „wie man sie so leicht nicht wieder trifft“. In einer zunehmend „barbarisierten“ Welt beklagte er den Verfall der Bildung. Den Untergang des Imperiums erlebte er als Verlust von Sicherheit, Wohlstand, Zivilisation und Kultur. 

Heather und Rapley diagnostizieren „imperiale Lebenszyklen“. Mit dem Aufstieg des Imperiums wächst auch die Macht der Peripherie. Die Mittel zum Widerstand gegen die Peripherie werden knapp. Der Staat überschuldet sich. Kommt ein exogener Schock hinzu, geht das Imperium in die Knie. Wie Rom ist heute auch Europa durch geopolitische Machtkämpfe, innere politische Zerrissenheit und zerrüttete Staatsfinanzen unter Druck. Und wie dem Imperium könnte ihm der Kontrollverlust über die Immigration den Rest geben.  

Edward Gibbon fragte sich Ende des 18. Jahrhunderts, ob dem Europa seiner Zeit ein dem römischen Reich ähnliches Schicksal drohen könnte. Er verneinte die Frage und behielt damit Recht. Michael Sommer ruft heute dazu auf, „mehr Antike zu wagen“. Wie würden wir Gibbons Frage jetzt beantworten? Es ist es keineswegs ausgemacht, dass Europa das Schicksal Roms erleiden muss. Die Römer schlafwandelten im Zeitlupentempo in den Untergang. Aber wir wissen, was ihnen geschah. Wir können daher aus ihren Fehlern lernen und den Reim der Geschichte brechen.  

Anzeige