Uwe-Tellkamp-Doku - Der Fall Deutschland

Am vergangenen Mittwoch lief auf dem Kultursender 3Sat eine erstaunlich entspannte Dokumentation über Uwe Tellkamp, jenen Dresdner Schriftsteller, der im gängigen Jargon als „umstritten“ zu bezeichnen wäre. Das durchaus vorhandene Bemühen der Dokumentation, Tellkamp und dem Osten Deutschlands näherzukommen, mündet in einer gewissen Ratlosigkeit. Das war absehbar. Denn es gibt gar keinen Fall Tellkamp, sehr wohl aber einen Fall Deutschland. 

Uwe Tellkamp im Hof des „Buchhaus Loschwitz“ / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Am Anfang sieht man einen Mann Anfang 50 durch den Elbvorort Weißer Hirsch laufen: braune Lederschuhe, dunkelblaue Hose, hellblaues Hemd, Rucksack. Er spaziert hinunter zur Elbe, vorbei an Villen und durch kleine Gassen. Die Sonne scheint. Die Forsythien beginnen zu blühen. Offensichtlich ist es ein erster warmer Frühlingstag. Der Mann in Hemdsärmeln heißt Uwe Tellkamp, einst gefeierter Romancier, vielfacher Preisträger für seinen Roman „Der Turm“, nunmehr ein Autor, dem das Prädikat „umstritten“ anhaftet, wobei natürlich etwas ganz anderes gemeint ist. 

Über zwei Jahre hat der Regisseur und Dokumentarfilmer Andreas Gräfenstein Tellkamp begleitet, beobachtet, interviewt, mit Kollegen gesprochen, mit Journalisten und Kulturvertretern. Entstanden ist dabei ein erstaunlich entspanntes Porträt nicht nur Tellkamps, sondern auch des Dresdner Milieus, dem er entstammt und dessen Zerrissenheit symbolisch für die Zerrissenheit ganz Deutschlands steht. Gräfenstein – und es ist bezeichnend, dass man es lobend herausheben muss – verzichtet dabei auf jede Form der Vorverurteilung, subtiler Polemik oder unterschwelliger Kommentierung, die man auf Neudeutsch Framing nennt. 

Das gefällt naturgemäß nicht jedem. Ein Journalist von Deutschlandradio Kultur etwa bemängelte am letzten Dienstag die „intellektuelle und analytische Kapitulation dieses Films“. Konfrontieren, verurteilen, entlarven – so stellt sich der deutsche Haltungsjournalist eine gelungene Doku vor. Dass Gräfenstein diesem Reflex nicht nachkommt, ist bemerkenswert. 

Über den neuen Roman geht es nur am Rande

Der Film hebt leicht pathetisch an: „Dies ist die Geschichte eines gefeierten Schriftstellers, der wegen seiner öffentlichen Positionierung in Ungnade fiel und der nun mit einem lang erwarteten Roman auch als Autor wieder für Schlagzeilen sorgen möchte.“ Und tatsächlich kann man Gräfensteins Werk auch als Dokumentation der Entstehung eines Romans verstehen. Zu Beginn ist nicht einmal der Titel bekannt, dann ein vorläufiger, man sieht den Autor an seiner Schreibmaschine, vernimmt Gerüchte aus der Branche über den immer wieder verschobenen Erscheinungstermin und dann, am Ende des Films, hält Tellkamp sein Buch in der Hand: den 900 Seiten starken Roman „Der Schlaf der Uhren“, offiziell Anfang der Woche erschienen. 

Doch über den neuen Roman geht es selbstredend nur am Rande. Thema ist der Autor und sein Konflikt mit der etablierten medialen und kulturellen Öffentlichkeit. Alles begann am 8. März 2018 bei einer Diskussion in Dresden mit dem Schriftstellerkollegen Durs Grünbein. Im Laufe des Gesprächs behauptete Tellkamp, dass über 95 Prozent der Flüchtlinge nicht vor Krieg und Verfolgung fliehen, sondern um in die deutschen Sozialsysteme einzuwandern. Danach war alles anders, und aus dem gefeierten Romancier wurde ein Paria

Dass es so kam, ist ein Armutszeugnis für eine demokratische Öffentlichkeit und die Geschichte eines Scheiterns. Auf der einen Seite stand dabei der etablierte Kulturbetrieb, der mit dem „fremdenfeindlichen“, dem „rechten“ oder auch „neurechten“ Autor Tellkamp nichts zu tun haben wollte, ihn ausgrenzte und auslud. Auf der anderen findet sich Tellkamp zusammen mit der Buchhändlerin Susanne Dagen, die eine ganz ähnliche Biografie aufzuweisen hat – von der gefeierten und ausgezeichneten Buchhändlerin zur Aussätzigen des Kulturbetriebes.  

Über den Verlauf eines Lagerkollers

„Es interessiert die Leute nicht, was du sagst, sondern wie du es sagst“, beschwert sich Tellkamp in der Mitte des Films. Abgesehen davon, dass das ein für einen Schriftsteller und Stilisten eigenartiger Vorwurf ist, lässt er doch tief blicken. Tellkamps Verletzungen, seine Enttäuschung, seine Frustration, aber auch sein Misstrauen und sein Ressentiment sind in vielen Passagen mit Händen zu greifen. Gräfensteins Film ist auch die Dokumentation über den Verlauf eines Lagerkollers, der dann entsteht, wenn man nur noch in der eigenen Diskussionsblase verkehrt und die Übermacht der Etablierten gegen sich weiß. 

„Das war unser Land“, sagt Tellkamp nach etwa drei Minuten Film und meint damit die Elbauen, in denen er als Junge gespielt hat – tatsächlich aber ganz Dresden, wenn nicht die gesamte ehemalige DDR. Tellkamp und – so darf man vermuten – mit ihm viele Ostdeutsche fühlen sich kolonialisiert von einem Westen, dessen Werte sie ablehnen und als verlogen empfinden. Man kann das verstehen.  

Eine gewisse Ratlosigkeit am Ende

Gräfensteins Verdienst ist es, sich dem komplizierten Thema vorsichtig anzunähern. Denn es geht um viel mehr als um Meinungsfreiheit, wie der Untertitel suggeriert. Es geht um Identität, um politische Grundkoordinaten, um ein Verständnis von Kultur und Gesellschaft. Dafür lässt der Regisseur den Autor Ingo Schulze in der Rolle des Antipoden zu Wort kommen, den Theologen Frank Richter, den Kurator Paul Kaiser und die Journalisten Stefan Locke (FAZ) und Martin Machowecz (Zeit).

Dass man am Ende der Dokumentation von einer gewissen Ratlosigkeit erfasst wird, liegt weniger an dem Film selbst, sondern an dem „Fall“ Tellkamp, der eigentlich gar kein Fall Tellkamp ist, sondern ein Fall Deutschland. Denn die gesamte Debatte, der ganze unsägliche Streit, die Sprachlosigkeit, die Aggression, der auftrumpfende Moralismus – all das müsste nicht sein und wäre in einem anderen Land wohl auch unvorstellbar. Das macht die Sache allerdings nicht besser. 

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