Ukraine-Krieg - Das böse Erwachen

Man hat Russland militärisch unterschätzt. Diese Botschaft ist nicht neu. Doch statt die Gefahr zu sehen, hat man sich außenpolitisch verrannt. Die sicherheitspolitischen Konsequenzen dieser Fehleinschätzung könnten sich noch als fatal erweisen.

Zerstörtes Gebäude in der Oblast Donezk / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Vor ziemlich genau einem Jahr, zehn Monate nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, erschien im britischen Economist ein Interview mit Oleksandr Syrskyi, Generaloberst und Oberbefehlshaber des Ukrainischen Heeres – dem strategischen und operativen Kopf hinter der Verteidigung Kiews im März 2022 und der Erfolge um Charkiw im darauffolgenden September.

In jenem Interview im Dezember 2022 betonte Syrskyi sehr klar: „Jeder, der Russland unterschätzt, muss mit einer Niederlage rechnen“. Wenn so ein klarsichtiger und fähiger Militär eine solche Aussage macht, müsste man eigentlich ins Nachdenken kommen.

Doch Nachdenken war im Westen ab dem 24. Februar 2022 eher verpönt. Man hatte sich zu bekennen. Und das möglichst lautstark, aufgeblasen und gedankenlos. Die berechtigte Empörung über den russischen Angriff auf die Ukraine mündete nicht selten in ein obsessives Säbelrasseln, begleitet von rüstungspolitischen und militärischen Forderungen, die irgendwo zwischen Größenwahn und Spiel mit dem Feuer hin und her oszillierten.

Trotz erheblicher Fehler und Schwächen

Forciert wurde die Neigung zur Realitätsverweigerung bei vielen westlichen Medien und Politikern durch die Anfangserfolge der Ukraine. Die gelungene Abwehr des russischen Vorstoßes auf Kiew und die Erfolge um Charkiv im Herbst 2022 verleiteten viele Beobachter dazu, die Russen zu unterschätzen. Hinzu kam noch eine geschickte Propaganda der Ukraine, der es mit spektakulären aber operativ bedeutungslosen Einzelaktionen gelang, das Bild von den schlauen Ukrainern und den etwas tumben Russen am Leben zu halten.
 

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Tatsächlich jedoch gelang es der russischen Armeeführung, trotz erheblicher Fehler und Schwächen, immer wieder, auf die Herausforderungen zu reagieren, vor die sie die taktischen Fähigkeiten der Ukrainer und die technischen Möglichkeiten westlicher Waffensysteme stellten. In Moskau verabschiedete man sich schnell von dem Traum, Kiew im Stil der Amerikaner, also mit einer smarten und Shock-and-Awe-Strategie („Schrecken und Furcht“), zum Aufgeben zu zwingen. Stattdessen besann man sich auf alte Stärken: Zähigkeit, Rücksichtslosigkeit und gewaltige Ressourcen an Menschen und Material.

Militärische Think Tanks wiesen früh auf die Entwicklung hin. Das britische Royal United Service Institute (RUSI) analysierte in verschiedenen Reports immer wieder die Lernfähigkeit der russischen Armee. Die amerikanische RAND Cooperation kam nach wenigen Monaten Krieg zu dem Ergebnis, dass er für keine der beiden Seiten zu gewinnen ist. Und auch Einzelexperten wie der vorbildlich nüchtern analysierende Oberst Reisner vom österreichischen Bundesheer warnten immer wieder davor, die russische Armee zu unterschätzen.

Wer genau hat Putin brutal unterschätzt?

Doch in Deutschland berauschte man sich am Bild von den einfältigen und demoralisierten Russen, die von den smarten und tapferen Ukrainern in einem heroischen Freiheitskampf niedergerungen werden. Insbesondere die Presseerzeugnisse aus der Berliner Axel-Springer-Straße überboten sich darin, die ukrainische Armee zu feiern und die Russen als mediokren Gegner darzustellen. Umso mehr überraschte die gestrige Schlagzeile bei Bild Online: „Putin wurde brutal unterschätzt.“ Und ein paar Zeilen weiter konnte man lesen: „Jetzt ist klar: Die Ukraine, aber auch die USA, haben Putin und seine Armee dramatisch unterschätzt.“

Wie bitte? Wer genau hat Putin dramatisch unterschätzt? Die Amerikaner sicher nicht. Die haben lediglich die Ukrainer immer nur so weit ausgestattet, dass sie sich der Russen erwehren konnten – aber mit keiner Patrone mehr. Die Ukraine? Ganz sicher nicht. Wenn man in der Lage war, zwischen (übrigens: vollkommen legitimer) ukrainischer Propaganda und der Realität zu unterscheiden, wenn man nicht auf Wolodymyr Selenskyj hörte (dessen Aufgabe es ist, gute Stimmung zu machen), sondern auf führende Militärs (deren Aufgabe es ist, die Lage objektiv zu beurteilen), dann sollte einem immer klar gewesen sein, in was für einer schwierigen Lage die Ukraine war und ist.

Es wird nicht eintreten

Nein, wenn einer Putin unterschätzt hat, dann waren es einige naive, geblendete und mitunter ignorante Medien hierzulande. Doch nun gibt es das böse Erwachen. Was jetzt? Die Lage ist verfahren. Dass die Ukraine den Krieg gewinnt, wie nicht zuletzt deutsche Hobby-Amazonen wie Strack-Zimmermann oder Baerbock fordern, ist ausgeschlossen. Was immer man unter „gewinnen“ versteht – es wird nicht eintreten. Ziel muss es sein, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert. Und das bedeutet: Den Status quo militärisch wahren und stabilisieren.

Doch allein dieses Minimalziel kann sich angesichts der Gesamtlage als schwer umsetzbar erweisen. All das war schon vor anderthalb Jahren absehbar. Einfache Faktoren wie Bevölkerungszahl, Rüstungsproduktion und militärgeschichtliche Erfahrung sprachen für sich. Doch statt realistisch an das Problem heranzugehen und die Kuh schnell vom Eis zu bringen, hat man sich im Westen ideologisch verrannt. Nun droht, selbst im Fall eines Waffenstillstandes in der Ukraine, eine langfristige militärische Bedrohung, auf die Westeuropa und insbesondere Deutschland nicht im Ansatz vorbereitet sind.

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