Ukraine-Krieg bei Anne Will - Frieden schaffen - aber mit oder ohne Waffen?

„Mehr Waffen für die Ukraine – ist das der Weg zum Frieden?“, hieß es am Sonntagabend bei Anne Will. Darüber diskutierten SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, Grüne-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann, CDU-Politiker Ruprecht Polenz, der Soziologe Harald Welzer, der jenen viel diskutierten Offenen Brief gegen schwere Waffenlieferungen unterzeichnet hat – sowie der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk. Vor allem Melnyk und Welzer dürften in diesem Leben keine Freunde mehr werden.

Diskussionsrunde zum Ukraine-Krieg bei Will: „Nicht diskreditieren, Herr Melnyik“ - Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Wir verteidigen Recht und Freiheit – an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor. Das nicht zu tun, hieße zu kapitulieren vor blanker Gewalt – und den Aggressor zu bestärken. Wir helfen, damit die Gewalt ein Ende finden kann“, sagte am Sonntag Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Fernsehansprache anlässlich jenes Jubiläums am 8. Mai, an dem der vollständigen Kapitulation der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und damit dem Ende eines Krieges gedacht wird, in dessen Verlauf schätzungsweise 65 Millionen Menschen starben.

Wie üblich in diesen Tagen und in all den Diskussionen über die Rolle Deutschlands im Ukraine-Krieg, ist Scholz' Aussage mit Blick auf die jüngst im Bundestag beschlossene Lieferung schwerer Waffen für die einen richtig und wichtig. Für die anderen aber – darunter die Unterzeichner eines Offenen Briefes an den Bundeskanzler – ist sie widersprüchlich, weil Scholz mit dem Gesagten eben auch nochmal bekräftigt hat, dass er Frieden schaffen will nicht ohne – sondern mit Waffen. Es ist nicht das einzige (vermeintliche) Paradoxon in dieser Gesamtdebatte. Auch, dass die Grünen zu den größten Verfechtern von Waffenlieferungen gehören, ist ein solches – aber doch ein ganz entscheidendes.

Weil dem so ist, lautete Anne Wills jüngster Sendungstitel „Mehr Waffen für die Ukraine – ist das der Weg zum Frieden?“. Darüber diskutierten am Sonntagabend SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, Grüne-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann, der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, der Soziologe und Publizist Harald Welzer sowie Andrij Melnyk, bekanntermaßen Botschafter der Ukraine in Deutschland – und einer, der, sagen die einen, gerne kein Blatt vor den Mund nimmt, und dabei, sagen die anderen, es mindestens genauso gerne an Anstand vermissen lässt.

Ein Verhältnis von 4:1

Oberflächlich betrachtet, lag das Problem dieser Sendung bereits in der Besetzung des Podiums: Denn auf den ersten Blick war Welzer der einzige in der Runde, der gegen die Lieferung schwerer Waffen war, obwohl laut aktuellem ARD-Deutschland-Trend knapp die Hälfte der Deutschen dafür, die andere dagegen ist. Und so lässt sich an dieser Stelle erstmal die Frage in den Raum stellen, warum die Redaktion von Anne Will hier sehenden Auges ein Diskussionsverhältnis von 4:1 zusammengestellt hat, das die Verhältnisse der Debatte draußen im Land nicht wirklich spiegelt. Aber sei's drum, denn erst am Ende konnte man die Übermacht kurz spüren.

Welzer jedenfalls nannte die Ansprache von Olaf Scholz „hochgradig indifferent“. Polenz will dagegen erkannt haben, dass Scholz seine Regierung hinter sich sammle für die „Fortsetzung seines Kurses“. Und Kevin Kühnert startete diese Sendung mit einem kleinen mehr oder weniger passenden Bonmot, dass Scholz in den ersten vier, fünf Monaten seiner Amtszeit als Bundeskanzler „mehr kommuniziert“ habe als seine Vorgängerin Angela Merkel „in zwei Wahlperioden“ – und lobte Scholz unter anderem für dessen angeblichen Mut, das historische Datum des 8. Mai als Anlass für eine Ansprache zum Ende des Zweiten Weltkrieges und zum Krieg in der Ukraine gleichermaßen genutzt zu haben. Auch Haßelmann von den Grünen lobte Scholz. Wie auch sonst?

Dem ukrainischen Botschafter war Scholz' Rede dagegen zu unkonkret, wie er sagte. Melnyk forderte mit Verweis auf den Sieg der Alliierten gegen Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg zudem „weitere historische Entscheidungen“ des Deutschen Bundestages, darunter auch die Lieferung von Kampfflugzeugen, wie er zwischen den Zeilen erkennen ließ. Und wie auch immer man dazu stehen mag, machte Melnyk hier bereits einen Punkt, der seit Kriegsausbruch – wenn auch in unterschiedlicher Weise – wie der sprichwörtliche Elefant im Raum steht: Während die deutsche Bundesregierung einerseits zwar davon redet, die Ukraine bestmöglich unterstützen zu wollen, tut sie genau dies de facto eben nicht, weil das bedeuten würde, dass es bei der jüngst beschlossenen Lieferung von Gepard-Panzern und Panzerhaubitzen nicht bleiben dürfte. Das ein „Dilemma“ zu nennen, wäre deutlich untertrieben.

Zwei Briefe, eine Debatte

Ebenfalls auf Wills Themenzettel standen der eingangs erwähnte Offene Brief an Olaf Scholz gegen die Lieferung schwerer Waffen, der von Emma veröffentlicht und unter anderem von Welzer unterzeichnet worden war. Sowie ein weiterer Offener Brief, den wiederum Polenz unterzeichnet hat, und in dem sich die Verfasser eben genau für die Lieferung schwerer Waffen aussprechen. Welzer warnt etwa vor einem „unwillkürlichen Hineinrutschen“ Deutschlands in den Ukraine-Krieg als Kriegspartei und damit vor einem „Kontrollverlust“. Auch deshalb, weil „diese Frage der permanenten Aufrüstung", so Welzer, „kein logisches Ende“ habe. Welzer sieht daher die Gefahr eines „Abnutzungskrieges mit immer mehr Opfern“, wenn sich diese Aufrüstungspirale weiterdrehe.

Polenz hielt dagegen und schlug dabei einen Bogen vom „Gleichgewicht des Schreckens“ im Kalten Krieg zum Krieg in der Ukraine. „Das Ziel von Putin ist, die Ukraine als Staat auszulöschen“, so Polenz. Und weiter: „Wenn wir nicht wollen, dass eine Atommacht die Charta der Vereinten Nationen mit dem Nicht-Angriffsgebot permanent verletzt, weil jeder Angst hat, Widerstand zu leisten, dann darf er jetzt keinen Erfolg damit haben.“ Wenig überraschend, erhielt er dabei Schützenhilfe des ukrainischen Botschafters, der das Wort zunächst an Welzer richtete: „Es ist einfach jetzt für sie, da in ihrem Professorenzimmer zu sitzen und zu philosophieren ...“ Will unterbrach Melnyk prompt: „Nicht diskreditieren, Herr Melnyk. Es sind ja viele Menschen, die so sprechen.“

Quasi zur Kapitulation aufgefordert

Welzer selbst ertrug den ersten Seitenhieb stoisch, das Kinn auf die Faust gestützt. Als Melnyk kurz darauf die Position Welzers „moralisch verwahrlost“ nannte, reichte es dem Soziologen dann allerdings. Was folgte, war ein kurzer, sagen wir, selbstbewusster Vortrag Welzers, der Melnyk gar nicht schmeckte und der diesen kurz darauf mit „Ich bin kein Student“ kommentierte. Welzer sagte unter anderem: „Die Personen – Herr Polenz genauso wie ich, wie alle anderen Beteiligten, die sich zu diesen Dingen verhalten – tun es nicht aus Jux und Tollerei, sondern sie tun es aus einer ernsthaften Erwägung vor historischen Hintergründen mit wissenschaftlichem Wissen und mit genauso wenig belastbarer Perspektive, was die Zukunft angeht.“

Als Melnyk dann nachlegte, Deutschland habe eine Pflicht gegenüber der Ukraine wegen zehn Millionen Ukrainer, die von Nazi-Deutschland vernichtet wurden, konterte Welzer erneut: „Informieren Sie sich mal über meine wissenschaftliche Arbeit, dann müssen Sie mir mit diesem Argument nicht kommen. Das ist doch einfach borniert.“ Außerdem wehrte sich Welzer gegen den Vorwurf, er und die weiteren Unterzeichner des Offenen Briefes – darunter Alice Schwarzer, Juli Zeh und Martin Walser – hätten die Ukrainer quasi zur Kapitulation aufgefordert. Es gehe darum, so Welzer, neben die eine Logik, die Lieferung weiterer Waffen, eine andere Logik zu stellen, nämlich in Verhandlungen zu kommen. „Wie man daraus eine Forderung zur Kapitulation lesen kann, ist mir völlig rätselhaft.“

Angenehm besonnen

Angenehm besonnen äußerte sich kurz darauf Kevin Kühnert, der sich nicht an der „Textexegese“ beteiligen wollte, da er, so Kühnert, nicht wisse, „wo uns das hinführen soll“. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, viel in den sozialen Medien unterwegs ist, kann eine solch selbstbewusste Diskursverweigerung nur unterstützen. Denn eines der Hauptprobleme in der aktuellen Ukraine-Debatte ist eben auch, dass jeder meint, bei allen Themen direkt Position beziehen zu müssen, anstatt sich einzelnen Diskussionen hin und wieder auch zu entziehen. Oder zu sagen: „Pardon, ich weiß es einfach nicht, was hier richtig ist, was falsch.“

Kühnert jedenfalls sagte, er sorge sich um den inneren Zusammenhalt in der Gesellschaft. „An manchen Stellen droht es uns zu kippen in der Gesellschaft, was die Unterstützung auch angeht“, so Kühnert. „Manche, weil sie sich große Sorgen vor den steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen machen, und wir auch aufgefordert sind, uns auch darum zu kümmern. Andere, weil sie auch in ihren Freundeskreisen und zum Teil durch die Familie die Risse erleben, die wir in dieser Sendung auch haben: aufgehitzte Diskussionen, die so ein bisschen den Unterton tragen: Bist du solidarisch mit der Ukraine oder nicht?“, so Kühnert.

Er erlebe aber kaum Leute, die nicht solidarisch seien mit der Ukraine: „Sehr wohl streiten wir aber über den richtigen Weg. Und ich mache mir Sorgen, dass wir diese Kulturtechnik des Darüber-Diskutierens miteinander verlieren – und dass wir die Ernsthaftigkeit, die dabei notwendig ist, dass die uns ein bisschen abhandenkommt.“ Doch wo kluge Gedanken sind, da sind bekanntlich weniger kluge Gedanken nicht allzu fern. Insbesondere in der Politik. Auftritt Haßelmann: „Empfinden Sie das ähnlich, dass gerade eine Stimmung kippt?“, richtete Will das Wort an die Politikerin der Grünen. „Nein“, antwortete Haßelmann allen Ernstes – und jeder Zuschauer, der die Diskussionen der vergangenen Wochen intensiv verfolgt hat, dürfte fassungslos vor dem Bildschirm gesessen haben. Als Haßelmann dann kurz darauf noch die Diskussion von eben zuvor aufwärmte, indem sie den Offenen Brief von Welzer und anderen „anmaßend“ nannte, war der Glaube, nun würde die Diskussion auf eine Ebene der vielschichtigen Betrachtung des Themas gelangen, leider schnell wieder verflogen.

Keine Freunde mehr

Rasch drehte man sich dann also wieder im Kreis. Chance verpasst. Zurück zu den Briefen. Einmal mehr. Als wäre zu diesen nicht schon längst alles gesagt. „Es ist so schwierig, gegen Vorwürfe zu argumentieren, die in diesem Brief keinen Rückhalt haben“, sagte Welzer irgendwann gegen Ende dieser teils sehenswerten, teils zähen Diskussion am Sonntagabend. „Caren Miosga wartet schon“, moderierte Will sie schließlich ab, keine Minute zu früh. Im doppelten Sinne. Und sicherlich auch in der Gewissheit, dass Welzer und Melnyk in diesem Leben keine Freunde mehr werden.

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