Ukraine-Krieg bei Anne Will - „Wenn wir keine Waffen bekommen, dann werden wir eben mit Schaufeln kämpfen“

Während die Kämpfe in der Ukraine andauern und die Kritik an Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg wieder lauter wird, diskutiert der Westen unter anderem über einen möglichen EU-Beitrittskandidatenstatus für das Land. So auch die Runde bei Anne Will am Sonntag. Zu Gast waren EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, die Bundestagsabgeordneten Michael Müller (SPD) und Johann David Wadephul (CDU) sowie die Politikwissenschaftlerin Claudia Major und Christoph Schwennicke, Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media.

Soll die Ukraine in die EU? Diskussionsrunde bei Anne Will am 19. Juni 2022. Zugeschaltet war auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba (Bildschirm) / Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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In den umkämpften Gebieten der Ukraine entwickelt sich der Krieg hin zu einem Abnutzungskrieg, bei dem die Russen, der materiellen Übermacht wegen, derzeit offenbar die besseren Karten haben. Von einer Artillerie-Überlegenheit der Russen von teilweise 70 zu eins und einem furchtbaren Bombenterror ist die Rede. Bis zu 30.000 Artillerie-Granaten sollen dabei täglich (!) auf die ukrainischen Soldaten niedergehen, sie zermürben und letztlich vielleicht auch demotivieren in ihrem Ansinnen, das eigene Land um jeden Preis zu verteidigen und dadurch vor der russischen Übernahme zu schützen.

Die Kritik an der Rolle des Westens, insbesondere aber an der Deutschlands im Ukraine-Krieg, ist derweil wieder spürbar lauter geworden. Obgleich zur Wahrheit freilich gehört, dass sie seit dem russischen Überfall am 24. Februar dieses Jahres nie leise war. Vom ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj kommen ebenso scharfe Worte wie aus Teilen der Opposition und sogar aus Teilen der Bundesregierung gibt es Kritik an Kanzler Scholz. Der Grund: versprochene, aber ausbleibende Waffenlieferungen – die die ukrainischen Truppen aber bräuchten, sagen Experten, um sich den russischen Angriffen ausreichend zu widersetzen. Eine Kritik, die sich Bundeskanzler Olaf Scholz diese Woche auch persönlich in Kiew abholen konnte, als er dorthin mit Emmanuel Macron und Mario Draghi gereist war. Natürlich mit warmen Worten im Gepäck, aber ohne versprochene Waffen.

Über die reine Symbolkraft hinaus

Was also tun? Endlich die versprochenen Waffen liefern! So dröhnt es lauter und lauter. Zudem soll der Kandidatenstatus zum EU-Beitritt der Ukraine dabei helfen, ein klares Signal an die ukrainische Bevölkerung zu senden und durch eine Westbindung eine stärkere Position gegenüber Russland für die Ukraine zu erreichen. Die Botschaft: Ihr gehört zu uns und ihr sollt deshalb auch Teil der EU werden. Also, irgendwann. Damit die Ukraine diesen Kandidatenstatus erhält, müssten gleichwohl am kommenden Donnerstag alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen. Bis es schließlich zu einem EU-Beitritt der Ukraine kommen könnte, würden dann nochmal einige Jahre vergehen, zehn Jahre, zwanzig Jahre oder mehr vielleicht.

Ob der rasche Kandidatenstatus sinnvoll ist – auch über die reine Symbolkraft hinaus –, was die Bundesregierung jetzt dringend tun müsste und mehr, darüber diskutierten am Sonntagabend bei Anne Will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, die Bundestagsabgeordneten Michael Müller (SPD) und Johann David Wadephul (CDU) sowie die Politikwissenschaftlerin Claudia Major, Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, und Christoph Schwennicke, Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media und unter anderem Kolumnist bei T-Online.

Kandidatenstatus als moralische Pflicht

Zuerst war Kommissionspräsidenten von der Leyen, zugeschaltet aus Brüssel, an der Reihe. Dabei ließ sie keine Zweifel aufkommen, dass die Ukraine bereit sei für einen Kandidatenstatus, auch, wenn die Ukraine derzeit bei weitem noch nicht alle Rahmenbedingungen für einen EU-Beitritt erfüllen würde. Stichwort: Korruption und den Einfluss der Oligarchen in dem Land. Aber: „Die Entwicklung in den letzten sechs Jahren geht in die positive Richtung. Die Ukraine gewinnt an Stabilität und an Kraft, sich gegen die Korruption zu stemmen“, sagte von der Leyen und lobte darüber hinaus die Fortschritte des Landes bei der Digitalisierung, bei der sich manch Mitgliedsland eine Scheibe abschneiden könne. Der Beitrittsstatus sei aber auch eine moralische Pflicht, so die EU-Kommissionspräsidentin. Kurzum: „Die Ukraine hat noch Arbeit vor sich, aber das ist zu schaffen.“

 

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Genauso sieht es freilich auch der ukrainische Außenminister, der einen Kandidatenstatus als „klare und einfache Botschaft“ an das ukrainische Volk werten würde. Diesen der Ukraine nicht zu geben, wäre, so Kuleba, dagegen ein „historischer Fehler“. Mindestens das mit der moralischen Pflicht wollte wiederum Schwennicke nicht gelten lassen. „Politik sollte nicht von Moral aufgeladen sein, sondern von Realismus und Pragmatismus geprägt sein“, so Schwennicke. Gegen einen Kandidatenstatus sei er nicht, sagte er. Gleichwohl solle man hier nicht in „große Hast“ verfallen. Dabei verwies er unter anderem auf ein Ranking von Transparency International zur Korruption auf der Welt, auf dem die Ukraine derzeit auf Platz 142 stehe und damit nur wenige Plätze vor Russland.

Chance, etwas Großes zu werden

„Wenn jetzt der Kandidatenstatus verliehen wird, heißt das nicht, dass die Verhandlungen beginnen und das heißt nicht, dass die Ukraine morgen beitritt“, sagte dagegen Politikwissenschaftlerin Major, auch als Antwort auf Schwennicke. Hast sei also nicht der Punkt, etwas anderes viel wichtiger: Man könne den Beitrittskandidatenstatus einer Ukraine als „eine ganz klare Interessenlage der EU definieren“, so Major, da der Westen helfen werde, die Ukraine wieder aufzubauen, wenn der „Krieg hoffentlich irgendwann wieder vorbei ist“, und dafür sehr viele Finanzmittel und Kraft investieren werde. Da sei es für die EU von Vorteil, wenn dies in einem geordneten Rechtsrahmen der Europäischen Union stattfinde. Allerdings müsse sich die EU auch selbst reformieren, um sich bei einem Beitritt der Ukraine und weiterer Länder Osteuropas nicht zu übernehmen.

Klar ist, dass die Europäische Union im Jahr 2022 und spätestens seit dem Brexit Großbritanniens ins Wanken geraten ist. Daher lässt sich Major nur zustimmen, dass die EU die Zeit, die die Ukraine für einen Beitritt bräuchte, nutzen sollte, um sich zu reformieren und damit den Gedanken der europäischen Einheit via Brüssel wieder auf ein ordentliches Fundament zu stellen. Kuleba jedenfalls untermauerte noch einmal, dass die Ukraine zu Europa gehöre – EU-Land oder nicht. Darin war sich die Runde einig. „Wir haben ein Interesse, dass Europa größer wird“, sagte darüber hinaus SPD-Mann Müller. Auch mit Blick auf den wachsenden Einfluss Chinas in der Welt. „Das wird dauern, aber es hat die Chance, etwas Großes zu werden“, so Müller über einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine – der von der Leyens Vorstoß in der Sache überdies als „große Führungsleistung“ lobte.

Dann kämpfen wir mit Schaufeln

Klar ist derweil, dass der Beitrag Deutschlands im Ukraine-Krieg – im Vergleich mit anderen Nato-Partnern – nach wie vor eher gering ist. Deutschland liegt gerade einmal auf Platz 8 der tatsächlich geleisteten Waffenlieferungen im Nato-Mitgliedstaaten-Vergleich und damit weit hinter den USA, aber eben auch hinter Estland oder Lettland. Und das, obwohl Deutschland in den vergangenen Jahren eigentlich immer einen Führungsanspruch im Westen erhoben hatte. Das Hadern und Zaudern, das die Bundesregierung seit Kriegsausbruch stattdessen an den Tag legt, spielt derzeit vor allem Frankreich in die Hände, das im Ukraine-Krieg deutlich konsequenter vorangeht.

„Wenn wir keine Waffen bekommen, in Ordnung, dann werden wir eben mit Schaufeln kämpfen“, richtete sich der ukrainische Außenminister bei Will dann an all jene, so Kuleba, die glaubten, die Ukraine würde infolge ausbleibender Lieferungen irgendwelche Zugeständnisse an Russland machen. „Je früher wir also Waffen erhalten, desto größer ist die Hilfe für uns. Wenn Waffen später geschickt werden, werden wir nach wie vor Danke sagen, aber viel wird verspielt sein und viele Menschen werden gestorben sein.“ Man müsse rational und pragmatisch bleiben, so Kuleba, aber moralische Argumente nicht aus der Diskussion ausschließen, denn von den Waffenlieferungen hingen eben Menschenleben ab. Insbesondere Artillerie und Luftabwehrsysteme würden derzeit gebraucht, sagte Kuleba noch. Dann wurde, gegen 22.20 Uhr, die Schalte zum ukrainischen Außenminister in Kiew beendet. Er müsse los, hieß es: aus Sicherheitsgründen.

Da kann mehr getan werden

Bei Anne Will wurde freilich bis zum Ende diskutiert. „Deutschland muss etwas tun und nicht nur verurteilen. Und da kann mehr getan werden“, sagte kurz darauf CDU-Politiker Wadephul. Darüber diskutiere man nicht, um die Ampel zu spalten oder „weil wir Spaß daran haben“, sondern weil es in dieser „hochkritischen Situation“ darum gehe, dass aus Deutschland „endlich etwas in der Ukraine ankommt“. SPD-Politiker Müller wiederum klagte, dass immer wieder der Eindruck erweckt werde, man könne „Dinge einfach herbeibeschließen“. Dem sei aber nicht so.

Ein Argument, das schon insofern dünn ist, da der Krieg ja nicht erst vorgestern begonnen hat, sondern nun schon fast vier Monate dauert – und andere Nato-Partner eben zeigen, dass mehr geht. Schützenhilfe bekam Müller trotzdem von Schwennicke, der kritisierte, dass Scholz zum „Watschenbaum“ gemacht werde. Außerdem sei das Ziel, nicht Kriegspartei werden zu wollen, „legitim“. Dass Selenskyj Scholz jüngst vorgeworfen hatte, sich nicht eindeutig für die Ukraine und gegen Russland in diesem Konflikt entschieden zu haben, nannte er zudem einen „absurden Satz“.

Major wiederum glaubt, dass die Ukraine ohne westliche Waffenlieferungen nicht mehr lange standhalten könne. „Die Frage ist nicht, wie viel, wer, wann, sondern: Haben wir die Ukraine genügend unterstützt, damit sie den russischen Angriff zurückwerfen kann?“ Die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen, weil es um die europäische Sicherheit „extrem schlechter“ bestellt wäre, so Major, wenn es die Ukraine als eigenständigen Staat nicht mehr geben sollte. Dass dies das Ziel Putins sei, zeige unter anderem die sofortige Russifizierung der eroberten Gebiete. „Die Ukraine zu unterstützen, finanziell, militärisch, humanitär, ist kein Almosen, sondern das liegt in unserem eigenen Interesse.“ Dafür tue man, so Major, derzeit zu wenig. Hierzu noch eine letzte Anmerkung des Autors: In der Ukraine sterben derzeit täglich rund 100 ukrainische Soldaten, heißt es, und weitere 500 werden so schwer verwundet, dass sie nicht weiterkämpfen können.

 

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