Thilo Sarrazins neues Buch - Der Provokateur hat sich leergeschrieben

Thilo Sarrazin legt ein neues Buch vor, es geht darin laut Titel um „politisches Wunschdenken“. In der Sache hat der Erfolgsautor aber kaum etwas zu sagen. Das war mit „Deutschland schafft sich ab“ noch anders. Ein Rückblick auf den Mega-Bestseller von 2010 lohnt deshalb noch immer.

Thilo Sarrazin im Jahr 2020 / picture alliance
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Mit „‚Wir schaffen das!‘ Erläuterungen zum politischen Wunschdenken“ legt der ehemalige Finanzsenator von Berlin und Bundesbanker in nur wenigen Jahren sein siebentes Buch vor. Wer sich von diesem Text allerdings skandalträchtige Debatten oder gar anregende Interventionen erwartet, wird bitter enttäuscht.

Schon den Titel des Buches und das einleitende Kapitel zur Regierungsbilanz von Angela Merkel kann man sich nur aufgrund der nahenden Bundestagswahl erklären. Verlag und Autor haben offenbar krampfhaft nach einer Möglichkeit gesucht, einen aktuellen Anknüpfungspunkt für die Verkaufsstrategie ausfindig zu machen.

Die Bilanz der Ära Merkel fällt auf rund 30 Seiten erwartungsgemäß vernichtend aus. Nicht nur hätte die Bundeskanzlerin so ziemlich alle Wahlkampfversprechen der Union gebrochen. Sie hätte außerdem jedwede überzeugende politische Gestaltungsstrategie vermissen lassen und nur im Notfall ernsthaft regiert. Das alles ist nicht falsch, aber auch nicht sonderlich originell.

Allerdings stehen die dann folgenden 130 Seiten in keinerlei Zusammenhang zum Titel des Buches oder zum Ausgangskapitel über die Kanzlerin. Stattdessen präsentiert Sarrazin dem Leser zusammenhanglose Bekenntnisfetzen, die feinsäuberlich in einzelne Kapitel und Abschnitte untergliedert sind. Unter „Politik und Gefühle“ erfährt man von ihm, dass Gefühle durchaus eine entscheidende Rolle in der Politik spielen, unter „Politik und Sucht“, dass Politik süchtig machen kann, unter „Politik und Logik“, dass Politik durchaus ihre „Schwierigkeiten mit der Logik“ habe. Und unter „Politik und Erotik“, dass er auch heute noch die Vermutung hege, „dass die politische Macht als solche erotische Anziehungskraft entfaltet, unabhängig davon, wie ihr Träger gerade aussehen mag“. 

Friedhof an Banalitäten

So geht es in einem fort. Man kämpft sich mühsam durch diesen Friedhof an Banalitäten und fragt sich unweigerlich, was der Autor einem damit eigentlich sagen will. Und man versteht es einfach nicht. Am interessantesten sind da noch die Anekdoten, in denen er sich für seine politischen Erfolge selbst lobt und einen Einblick darin gewährt, wie Politik wirklich funktioniert. Das allerdings hätte eher in eine launige Autobiografie gepasst.

Mit „Deutschland schafft sich ab“ (2010) erlebte Sarrazin auch mal bessere publizistische Zeiten. Das Kernargument des damaligen Buches, das sich weit mehr als eine Million Mal verkaufte und damit zu den erfolgreichsten deutschen Büchern nach dem Zweiten Weltkrieg gehört, ging ungefähr so: Da die Intelligenz des Menschen zu erheblichen Anteilen genetisch bedingt ist und die Geburtenrate in Akademikerkreisen bedeutend niedriger ist als in Bevölkerungsschichten mit geringeren Bildungsabschlüssen, drohe Deutschland schrittweise zu verdummen. Es müsste daher eine aktive Bevölkerungspolitik betrieben werden, um Anreize zu schaffen, damit sich die Klügeren wieder stärker vermehrten und so der Verdummungstrend in Deutschland gestoppt werden könnte.

Die Aufregung über diese Thesen war an Empörungsintensität nur schwer zu überbieten. Ganz vorne mit dabei war seinerzeit der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Er warf Sarrazin eine „Selektionsdebatte“ eugenischen Ausmaßes vor, nach der „neues Leben nur aus erwünschten Gruppen“ hervorgehen solle. Sarrazin in die Tradition nationalsozialistischen Vernichtungsdenkens zu stellen, sollte den Hebel bieten, um ihn aus der Partei auszuschließen. Damit wurde es allerdings erstmal nichts, der Ausschluss sollte noch ganze zehn Jahre auf sich warten lassen. 

Gabriels argumentatives Eigentor

Zu tun hatte das vielleicht auch damit, dass sich der SPD-Vorsitzende seinerzeit ein kräftiges argumentatives Eigentor geschossen hatte. Denn wenn er seine Argumente wirklich ernst genommen hätte, hätte er sich auch gleich selbst aus der SPD ausschließen müssen.

Es war nämlich die SPD, die im Jahre 2005 das Elterngeld auf den Weg gebracht hatte, also die Lohnersatzleistung für Mütter und Väter. Die Zielstellung war damals eine doppelte: einerseits die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, andererseits aber auch die deutliche Anhebung der Geburtenrate in Akademikerfamilien. 

Dazu bekannte sich ausdrücklich auch die Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD). „In so genannten bildungsnahen Gesellschaftsgruppen gibt es immer weniger Kinder, in bildungsfernen mehr. Dies hat natürlich auf den Bildungsstand der Gesamtbevölkerung, wenn wir nicht die Kinder aus bildungsfernen Schichten deutlich besser fördern, erhebliche Auswirkungen“, mahnte Schmidt in einem Vortrag bei der Volkshochschule Pforzheim im Jahre 2009. Aber sie behauptete damit genau das, was im Falle Sarrazin letztlich zum Ausschluss aus der SPD führen sollte: dass Deutschland ohne bevölkerungspolitische Gegenmaßnahmen immer dümmer würde. Und das Elterngeldgesetz sollte dabei helfen, diesen Missstand abzuwenden. Überflüssig zu betonen, dass Gabriel als Bundestagsabgeordneter dieser „eugenischen“ Maßnahme Jahre zuvor selbstverständlich ebenfalls zugestimmt hatte.

Wenig Einwände in der Sache

Für das rabulistische Vorgehen der damaligen SPD-Parteiführung war es dabei nützlich, dass sich die international renommierte Intelligenzforscherin Elsbeth Stern (ETH Zürich), auf deren Arbeiten Sarrazin seine Argumentation im Wesentlichen stützte, von dessen Schlussfolgerungen in mehreren Beiträgen und Interviews wortreich distanzierte. Man musste allerdings schon zwischen den Zeilen lesen, um das Abwehrgefecht Sterns als im Wesentlichen taktisch motiviert zu erkennen. Sie hatte offenbar schlicht keine Lust, ebenfalls in den Anti-Nazistrudel gesogen zu werden. In der Sache nämlich gab sie Sarrazin recht.

Ohne dessen Namen zu nennen, kam sie 2013 gemeinsam mit Aljoschau Neubauer in dem Buch „Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen“ nochmals auf die Debatte zurück – natürlich nicht, ohne sich wortreich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Ihre Ausführungen ließen es indes an Deutlichkeit kaum fehlen. Die „Verdummungsthese“ sei durchaus „logisch stringent“ aus der Tatsache abgeleitet, „dass sich aufgrund der großen Erblichkeit der Intelligenzunterschiede Eltern und Kinder ähneln“. 

Der einzige Einwand, den Stern letztlich gegen die Position Sarrazins formulierte, war einer der zeitlichen Dimension. Die Vererbung sei nämlich derart komplex und teils von Zufällen gekennzeichnet, dass kluge Eltern nicht zwangsläufig kluge Kinder hervorbrächten und dumme Eltern nicht zwangsläufig dumme Kinder. Aber: Das ändert nichts an der genetischen Disposition der Eltern. Die Zufallseffekte der Vererbung könnten den Prozess daher zwar irritieren und „abmildern“, aber eben auf Dauer nicht aufhalten. 

Stern widersprach damit Sarrazin im Kern gar nicht, auch wenn ihre Interventionen in zahlreichen Medien als argumentative Vernichtung des Unberührbaren gefeiert wurden, sondern korrigierte ihn nur minimal. Die einzig logische Schlussfolgerung aus ihrer Argumentation war nämlich, dass die Gefahr der Verdummung durchaus real sei, sie aber später einsetzen werde, als von Sarrazin behauptet. In der Zeit bestätigte dies auch der nicht weniger anerkannte Intelligenzforscher Detlef H. Rost: „Es würde nämlich nicht zwei oder drei Generationen dauern, bis eine Intelligenzminderung spürbar würde, wie es Sarrazin suggeriert, sondern bis zu zehn.“ Das war nahezu beruhigend!

So umstritten Sarrazins Thesen seinerzeit waren und immer noch sind, als so gesellschaftlich relevant erwiesen sich die damals von ihm angestoßenen Debatten. Er stützte seine Thesen, wenn auch zugespitzt, auf anerkannte wissenschaftliche Forschungsergebnisse und konkrete politische Herausforderungen der Gegenwart. 

Seinem neuesten Text hingegen fehlt nicht nur der rote Faden, die Idee, sondern er kommt auch ganz ohne Botschaft an den Leser aus. Ein wenig wirkt es so, als hätte sich der bedeutendste politische Provokateur der Bundesrepublik einfach leergeschrieben.

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