Susanne Schröters Buch „Global gescheitert?“ - Der Westen ist nach außen anmaßend und im Inneren zerfressen

Susanne Schröter beschreibt den Zustand des Westens in ihrem neuen Buch „Global gescheitert?“ als eine giftige Mischung aus Selbsthass und Anmaßung. Während im Inneren identitätspolitische Aktivisten mit ihrer moralischen Rigorosität eine Bedrohung für die Demokratien darstellen, agiert der Westen in der Außenpolitik oftmals mit einer gefährlichen Hybris. Doch wie kann sich der Westen aus diesem Dilemma befreien?

Demonstranten der „Black Lives Matter“-Bewegung werfen in Bristol eine Statue in den Hafen / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Das kennen die meisten aus dem eigenen Leben: Wenn die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu groß ist, wird es schmerzhaft. Das geht Staaten nicht anders. Wenn sich die Regierungen etwas vornehmen, laut und groß darüber sprechen, dann aber die Ergebnisse mickrig sind, ist der Schaden da, zumindest an Reputation, meistens darüber hinaus. Das gilt besonders für diejenigen Staaten, die an sich selbst hohe moralische Ansprüche stellen. Demokratien beispielsweise, die zusammengefasst inzwischen als der Westen bezeichnet werden (auch wenn sie im Pazifik liegen). Allen voran die USA.

Die USA sind der Dreh- und Angelpunkt der Antworten auf Susanne Schröters zentrale Frage, ob der Westen „Global gescheitert?“ sei, so auch der Titel ihres Buches. Sie sieht ihn (wieder: vor allem die USA) politisch-kulturell zwischen Selbsthass und Hybris aufgespannt, wobei der Selbsthass die innere Verfassung beschreibt und die Hybris das Auftreten nach außen. Die Defizite beider Verfassungen erwachsen aus der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit und drohen, von zwei Seiten die demokratische Ordnung zu gefährden.

Im Innern identifiziert Schröter identitätspolitische Aktivisten, die versuchen, das moralische Fundament der Demokratien auszuhöhlen, indem sie vergangene und gegenwärtige Verbrechen und Versäumnisse der demokratischen Gesellschaften zu einem neuen Rassismus erklären. Ihr politisches Programm laute, so Schröter:

„dass der Westen den Rassismus erfunden habe und dass sein Wohlstand darauf aufbaue. An dieser Stelle entsteht eine Anschlussfähigkeit an sozialistische, ökologische und antimoderne Ideologien, die allesamt darauf aufbauen, dass der Westen den Rest der Welt ausbeute, vergifte und die paradiesischen Strukturen der Vormoderne aus reiner Profitgier zerstört habe. In einem postchristlichen Sinn handelt es sich um einen Hort des Bösen.“

Und in den westlichen Gesellschaften werde dies von vielen Menschen mit schlechtem Gewissen angenommen, beobachtet Schröter weiter: Bestimmte Menschen „fühlen sich ungerechtfertigterweise vom Schicksal bevorzugt und entwickeln einen tiefen Selbsthass sowie ein Bedürfnis nach Bekenntnis und Vergebung“. Die daraus resultierenden, identitätspolitisch angelegten Spaltungen der Gesellschaft führten in eine Lage, die demokratische Verfahren von innen aushöhlen, weil der Rassismusvorwurf beliebig ausgeweitet werde und auf eine Gesellschaft treffe, die sich diese Anklage zu eigen mache und Vergebung suche, die nie gewährt werden könne.

Doppelter Standard des Westens

Dieser Selbsthass nach innen verbindet sich in Schröters Analyse mit einer Anmaßung nach außen, die darin besteht, zu meinen, dass alle Menschen so leben wollten wie die Menschen und Gesellschaften im Westen. Zwischen Vietnam, Afghanistan und Irak spannt sie die Vergehen der westlichen Staaten (wieder: vor allem der USA) auf und sieht hinter den hohen moralischen Ansprüchen an andere nicht nur geopolitische und wirtschaftliche Interessen, sondern auch einen doppelten Standard:

„Wer einige Länder wegen demokratischer Defizite sanktioniert, andere hingegen als Partner umwirbt, obgleich sie gegen die Menschenrechte verstoßen, wirkt … nicht überzeugend. Das gilt auch für Verletzungen der territorialen Integrität souveräner Staaten, die in einem Fall skandalisiert, im anderen Fall aber selbst praktiziert werden.“

Da ist die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit weit geöffnet und weltweit werde die Unglaubwürdigkeit des Westens, so Schröter, zur politischen Last. 

„(Denn) westliche Politiker und zivilgesellschaftliche Organisationen neigen zur Universalisierung eigener Vorstellungen vom guten Leben. Unhinterfragt setzt man voraus, dass Menschen weltweit die gleichen Werte teilen. Das gilt auch für die Freiheit, von der man annimmt, dass der Mensch intrinsisch nach ihr strebt… Empirisch gesehen ist diese Annahme falsch. Individuelle Freiheit gilt nämlich keineswegs überall als positiver Wert, sondern steht vielfach geradezu unter Verdacht.“

Denn ihr würden kulturelle Traditionen und kollektives Bewusstsein widersprechen. Dass Menschen empirischen Untersuchungen zufolge, beispielsweise in Russland, mehrheitlich mit der Politik ihres Präsidenten zufrieden sind, ist jedoch kein Argument gegen die Furcht des Autokraten vor demokratischen Forderungen aus der Bevölkerung und davor, dass Demokratien demokratische Bewegungen in fremden Ländern unterstützen.

 Freiburg, 2022 / Bild: Herder

Deswegen werden politische Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen ja aus autokratisch regierten Gesellschaften ausgeschlossen, und wer Kontakt mit ihnen hat, zum ausländischen Agenten erklärt. Andererseits liegt es in der DNA demokratischer Systeme, dass sie lieber in einer Welt von Demokratien leben möchten (wie es Autokratien auch recht wäre, wenn alle Staaten autokratisch regiert wären) und sie davon ausgehen, dass Menschen lieber die Menschenrechte beachtet sehen wollen als von ihrer Regierung drangsaliert zu werden.

Selbsthass: keine gute Voraussetzung für ein selbstbewusstes Auftreten

Wie Demokratien mit diesem Dilemma umgehen, ist eine der wichtigsten Fragen für eine zukünftige wertegeleitete Außenpolitik in einer Welt, die einerseits die Zusammenarbeit in der Globalisierung weiterführt, weil anders einige Probleme nicht gelöst werden können, die andererseits die Dichotomie zwischen Demokratie und Autokratie als ordnungspolitisches Signum der Zeit heraufziehen sieht. Die Lösung des Dilemmas setzt im Innern an.

Eine wertegeleitete Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ist die Bedingung, um nach außen normativ sicher aufzutreten. Doch ist das nicht gleichbedeutend mit der Forderung, alle anderen Staaten müssten Demokratien werden. Das gilt schon alleine deshalb nicht, weil es selbst die kollektive Handlungsfähigkeit des Westens übersteigen würde. Wie man in Rücksicht auf kulturelle Traditionen Politik gegenüber Staaten anlegt, die (nach westlichem Verständnis) Menschen unterdrücken und drangsalieren, soweit es nicht noch schlimmer kommt, ist vor allem auch eine Frage an das eigene Selbstverständnis, weil Demokratien diese Praxis in der Abwägung unterschiedlicher Interessen aushalten müssen, auch wenn sie die prekäre Lage nicht verschweigen können.

Selbsthass ist eine schlechte Voraussetzung 

Das wirft die Frage auf, wie selbstbewusst demokratische Staaten auftreten können, ohne ihr eigenen Fehler zu übersehen. Selbsthass ist dafür eine besonders schlechte Voraussetzung. Ignoranz den eigenen Defiziten gegenüber auch. Ein nüchterner, realistischer Blick auf die Verhältnisse hilft, zu unterscheiden, was man ändern kann und was nicht. Und dann müssen die Demokratien Prioritäten setzen. Denn selbst das, was man ändern kann, lässt sich nicht alles gleichzeitig ändern.

Voraussetzung für Einfluss nach außen ist dabei, über die entsprechenden wirtschaftlichen, kulturellen, kommunikativen, diplomatischen und militärischen Fähigkeiten zu verfügen und ein kompetentes Personal an der Spitze des Staates zu haben. Dazu gehört auch, zu verstehen, was die eigene normative Stärke ausmacht. Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Freiburg, 2022

Am 16.09. wird ein Gespräch mit Susanne Schröter über die Zerrissenheit des Westens als Cicero-Podcast erscheinen.

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