Streitgespräch - Wie zerrissen ist die Gesellschaft?

Zeigt sich ein Trend zur Polarisierung? Oder ist die vielbeschworene Spaltung nur eine Chimäre? Das kommt auf die Perspektive an. Im Streitgespräch analysieren der Makrosoziologe Steffen Mau und der Sozialforscher Wolfgang Merkel den Diskurszustand unserer Gesellschaft.

Steffen Mau und Wolfgang Merkel / Antje Berghäuser
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität Berlin. 2021 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sein aktuelles Buch „Triggerpunkt. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ ist 2023 bei Suhrkamp erschienen. 

Wolfgang Merkel war Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Zuletzt ist von ihm „Im Zwielicht. Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert“ bei Campus erschienen. 

Herr Merkel, Sie vertreten schon seit Jahren die These, dass die westlichen Demokratien und damit auch Deutschland auf eine politische Spaltung zusteuern. Dabei fallen immer wieder die etwas sperrigen Begriffe „Kommunitarismus“ und „Kosmopolitismus“. Warum ist Deutschland aus Ihrer Sicht gespalten? Woran zeigt sich das? Und was hat es eigentlich mit diesen beiden sperrigen Begriffen auf sich? 

Wolfgang Merkel: Ich spreche lieber von „Polarisierung“. Es gibt zwei unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft, die sich selbst als „Lager“ verstehen. Selten bestehen noch Brücken zwischen beiden. Wenn ich von „Kosmopoliten“ spreche, meine ich damit Menschen, für die der Nationalstaat eine Sache des 19. und 20. Jahrhunderts ist. Ihr Referenzrahmen ist nicht die nationale Gesellschaft, sondern die Welt schlechthin. Die Grenzen sollen verschwinden. Auf der anderen Seite gibt es das Lager der „Kommunitaristen“, das wiederum aus zwei Gruppen besteht. Beide sagen: „Wir brauchen den Nationalstaat.“ Der einen Gruppe gilt der Nationalstaat als Garant von Solidarität und sozialer Sicherheit. Das ist klassisch sozialdemokratisch. Und die andere Gruppe nenne ich die „schmutzige Variante“ des Kommunitarismus. Ihr geht es um eine nationalistische Gemeinschaft – bis hin zu rassistischen Attitüden. Die Kosmopoliten und die Kommunitaristen bilden zwei widersprüchliche Pole, die sich sowohl in der Gesellschaft als auch parteipolitisch nachweisen lassen.

Herr Mau, vor wenigen Tagen ist Ihr Buch „Triggerpunkte“ erschienen. Gemeinsam mit Kollegen sind Sie empirisch der Frage nachgegangen, ob diese Polarisierungen tatsächlich existieren. Was genau haben Sie untersucht und was sind die Ergebnisse? Hat Wolfgang Merkel recht? 

Steffen Mau: Wir haben zunächst bestehende Studien im Zeitverlauf ausgewertet und auch selbst eine große Befragung gemacht. Sie untersucht detailliert die Zusammenhänge zwischen politischen Einstellungen und sozialen Positionierungen. Die Frage war: Gleicht unsere Gesellschaft eher dem Rücken eines Kamels oder dem eines Dromedars? Gibt es also links und rechts zwei ausgeprägte Höcker und in der Mitte im Grunde nichts? Das wäre die polarisierte Kamel-Gesellschaft. Oder zeigt sich eher das Dromedar-Muster, also ein breiter Höcker mit einer starken Mitte? Das Ergebnis ist ziemlich eindeutig: Wir leben in einer Dromedar-Gesellschaft. Die allermeisten Menschen sind weder Kosmopoliten noch Kommunitaristen. Die meisten sind Dazwischen-Menschen. Über 70 Prozent finden den Schutz für Flüchtende aus humanitären Gründen in Ordnung. Und ungefähr ebenso viele wollen, dass Migration vernünftig geregelt wird. Hingegen gibt es kaum Leute, die die Grenzen ganz abschaffen wollen. Empirisch ist so etwas kaum vorhanden. Echte Polarisierungen zeigen sich nur an den Rändern. Man kann aus den öffentlichen Kontroversen daher leicht falsche Schlüsse ziehen. Vor unserer Studie dachte ich auch, die Welt sei stark polarisiert. Aber wenn man genauer hinsieht, ergibt sich ein anderes Bild. Nicht die Meinungen der Menschen haben sich stark polarisiert, sondern der öffentliche Diskurs.

Merkel: Ich finde es ja schick, die gesellschaftliche Entwicklung mithilfe zoologischer Beobachtungen abzubilden. Aber das reicht nicht. Ich sehe stattdessen drei Teile der Gesellschaft. Tatsächlich haben wir ein rechtspopulistisches Lager auf der einen Seite und ein linksliberal-grünes auf der anderen. Und der dritte Höcker ist die Mitte. Diese Mitte ist politisch beweglich und in der unteren Hälfte anfällig für populistische Angebote. Es gibt eine Distanzierung nicht nur von den Polen aus, sondern von demokratischen Verfahren insgesamt. Wir müssen vor allem auf die Mitte schauen. Wie stabil ist sie eigentlich und wie anfällig? Ich schätze die Arbeit von Steffen Mau und seinen Kollegen sehr, vor allem die sozial-strukturellen Tiefenbohrungen. Umfragen sind aber trotzdem bloß Umfragen. Die Ergebnisse haben ihre Tücken schon wegen der Antwortsneigung zu sozialer Erwünschtheit. Es gibt auch Sichtweisen, die ganz andere Bilder zeichnen. Das renommierte Projekt „Varieties of Democracy“ an der Universität Göteborg kommt zu völlig anderen Ergebnissen. In fast allen westlichen Ländern zeigt sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ein klarer Trend zur politischen Polarisierung. Das sind selbst in Deutschland längst keine „Ränder“ mehr. Die „Ränder“ umfassen 40 Prozent der Bevölkerung.

Mau: Das sehe ich anders. Die rein politikwissenschaftliche Sicht ist mir zu dünn. Sie beschäftigt sich ja nicht mit der gesellschaftlichen Struktur. Die Polarisierungsthese behauptet aber nicht nur eine Spaltung im politischen System, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt. Und das kann ich aus den Daten nicht ablesen. Wir sehen zwar eine Gefährdung der Mitte, aber keinen Riss. Die Mitte wird stattdessen von den Rändern angefressen. Das Bild einer gesamtgesellschaftlichen Spaltung ist eine Chimäre. Natürlich gibt es mit der AfD jetzt eine Partei, die bestimmte Ausfransungen der Mitte bündeln kann. Aber früher waren deren Anhänger Wähler anderer Parteien. Es gibt keine damit parallel laufende Veränderung der Sozialstruktur, keine zwei voneinander abgesetzten Großgruppen.

Wolfgang Merkel / Foto: Antje Berghäuser

Am Ende scheint alles eine Frage der Perspektiven zu sein. Der Soziologe sieht keine tiefe Spaltung in der Sozialstruktur, der Politikwissenschaftler im politischen System aber schon. Beides muss doch aber auch irgendwie miteinander zusammenhängen. Warum laufen Sozialstruktur und Politik auseinander?

Mau: Genau das ist der Punkt. Es gibt gesellschaftliche Konflikte, aber die werden eher von oben erzeugt als von unten strukturiert. Es gibt im politischen Feld zahlreiche Polarisierungsunternehmer. Diese brauchen Themen, die gesellschaftliche Gräben erzeugen, um sich von ihren Konkurrenten unterscheiden zu können. Wir nennen diese Themen „Triggerpunkte“. Es gibt also bestimmte Themen, die Fenster zur Veränderung der politischen Sitzordnung sind. Debatten über die Förderung von Lastenfahrrädern eignen sich ebenso dazu wie der „Heizungshammer“. Wenn es Tendenzen der Polarisierung gibt, dann sind die eher die Folge einer bestimmten politischen und auch diskursiven Dynamik.

Also sind am Ende die Medien und Politiker schuld?

Mau: Schuld ist keine soziologische Kategorie. Ich will verstehen, wie Lagerbildungen entstehen. Natürlich gibt es in unserer Gesellschaft Konflikte. Es ist nicht alles völlig harmonisch. Aber das war noch nie anders. Wenn eine neue Partei in den Bundestag kommt, gibt es ganz viel affektive Polarisierung. Das war erst bei den Grünen so und dann bei der PDS. Und jetzt ist das bei der AfD nicht anders, und wir müssen abwarten, wie es sich entwickelt. Ein gewisses Maß an Kontroversität ist der Normalzustand der Demokratie. 

Merkel: Manchmal ist die gesellschaftliche Entwicklung ja schneller als die Drucklegung unserer Bücher. Natürlich gibt es gesellschaftliche Gelegenheitsfenster, die Trends freisetzen: erst die Migrationskrise, dann die Corona-Pandemie, dann die Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine, die Klimafrage und jetzt wieder die Migrationskrise. Aber man muss schon staunen, dass eine nervöse Republik an der Frage explodiert, wie Heizungen umgestellt werden. Die politischen Eliten sind am Ende zurückgewichen. Diese Triggerpunkte setzen Trends in die Welt. Die Gesellschaft ist nicht bloß in zwei Lager gespalten. Aber die Ränder werden breiter, die Mitte erodiert. Deutschland ist dagegen nicht immun. Und bei all diesen Konflikten ist der Bildungsgrad der Menschen eher die Trennlinie als ihr Einkommen. Wir erleben eine polarisierende Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte.

Herr Mau beschreibt vier große Konfliktarenen: die soziale Frage, die Migrationsfrage, die Klimafrage und die Regenbogenfrage. Die soziale Frage führt kaum zu Auseinandersetzungen. Der Regenbogen auch nicht, wenn es um bloße Fragen der lebensweltlichen Toleranz geht. Etwas anders ist es bei den Themen Klima und Migration. Ich habe verzweifelte AfD-Anhänger als Freunde. Verzweifelt sind sie deshalb, weil sie am liebsten eine richtige CDU wählen würden. Meine Frage an sie war: „Sind diese Themen gleich wichtig für euch oder gibt es da eine Präferenzordnung?“ Die Reihenfolge war ganz klar: 1. Migration, 2. Klima, 3. Regenbogen, 4. Arm – Reich. Wenn die Migrationskrise gelöst werden könnte, wären sie bei den anderen Themen kompromissbereit. Selbst wenn die Gesellschaft nicht bei allen Themen „gespalten“ ist, könnte ein einziges Thema doch trotzdem spalten, wenn es als besonders wichtig empfunden wird.

Mau: Ja, das ist eine Beschreibung, die ich auch teilen würde. Für bestimmte gesellschaftliche Gruppen ist das Migrationsthema tatsächlich prioritär. Beim Thema Klima wiederum sind wir erst am Beginn der Auseinandersetzung. Es könnte durchaus sein, dass das zur nächsten großen Klassenfrage wird. Die Streitfrage ist aber, ob diese vier Konfliktarenen miteinander in Verbindung stehen. Es gab immer die Annahme: Ein Kosmopolit tritt für eine ökologisch nachhaltige Lebensweise ein, ist tolerant und findet die Regenbogenfarben wunderbar. Die Realität ist aber komplexer. Bei den oberen Bildungsmilieus finden wir solche Zusammenhänge, unten aber eben nicht. Dort wird situativer und spontaner entschieden. Man kann nicht zwingend aus der Einstellung zu Homosexualität darauf schließen, wie eine Person zu Fragen der Migration oder Umwelt steht. Leute mit hohem Bildungsgrad verfügen tatsächlich über ein kohärenteres Weltbild. In anderen sozialen Schichten sieht es aber anders aus. Das zu verstehen, hilft auch beim Verstehen der Konfliktarenen. Es geht uns am Ende um die Eigenlogiken der sozialen Milieus. Die oberen Schichten sollten sich davor hüten, ihre ideologischen Kohärenzerwartungen in andere soziale Schichten hineinzuprojizieren.

Merkel: Ich finde, das ist auch die große Stärke Eures Buches. Gegen diese Differenziertheit habe ich auch gar nichts. Als theoretisch interessierter Politikwissenschaftler interessiert mich aber der nächste Schritt: Was lässt sich an Gemeinsamkeiten aus diesen vier Arenen herausfiltern? Gibt es im Hintergrund nicht doch einen gesellschaftlichen Trend? Drei dieser Arenen sind kulturalistisch eingefärbt: Migration, Klima, Regenbogen. Ich würde noch die Pandemie dazuzählen. Bei diesen geht es nicht um ein bloßes Mehr oder Weniger wie bei der sozialen Frage. Hier geht es um wahr oder falsch, um gut oder böse, um moralisch oder unmoralisch, letztlich um Maßstäbe der Unversöhnlichkeit. Deshalb finde ich es interessant, Herr Brodkorb, dass Sie noch Freunde haben, die mit der AfD sympathisieren und dass die Freundschaft daran nicht zerbrochen ist. Aber zurück zum Thema: Beim Fall Regenbogen sagst Du, Steffen: „Toleranz ist die neue Normalität geworden.“ Dahinter steckt ein ungebrochener Modernisierungsglaube. Es geht immer nach oben und nach vorne, mehr Demokratie, mehr Toleranz. Aber seit Horkheimer und Adorno wissen wir: Der Fortschritt ist zwiespältig. Er provoziert Gegenreaktionen. Genau an diesem Punkt entstehen die Konflikte. Das erleben wir heute.
 

Beiträge zur Debattenkultur:


Mau: Unsere Studie ist nicht naiv fortschrittsgläubig. Wir haben nur beschrieben, was sich in den letzten 30 Jahren abgespielt hat. In der Breite der Gesellschaft haben sich erhebliche Liberalisierungen ergeben. Die Modernisierungseffekte sind in der Gesellschaft angekommen. Das muss nicht automatisch so weitergehen, es kann auch zu Widerständen kommen. Empirisch lässt sich das zum Beispiel anhand der gendergerechten Sprache nachweisen. Dagegen gibt es großen Widerstand in der Gesellschaft. Ich bin bei diesem Punkt nach unserer Studie auch skeptischer als zuvor. Es ist verständlich, woran das liegt: Gendergerechte Sprache greift tief in die persönlichen Lebensverhältnisse ein. Die Veränderungsbereitschaft findet hier ihre Grenzen. Deine Unterscheidung zwischen ökonomischen und kulturalistischen Konflikten überzeugt mich dabei nicht. Es gibt nie rein ökonomische Fragen. Auch die soziale Frage hatte immer mit Kultur zu tun, zum Beispiel mit der gemeinsamen Identität der Arbeiterschaft. Und auch die Klimafrage ist nicht rein kulturalistisch aufzuschließen. Gerade für die Arbeiterklasse ist die Klimafrage letztlich eine Verteilungsfrage. Das machen wir in unserem Buch sehr, sehr deutlich. Da geht es nicht um den Lebensstil, um Werte. Es geht um die banale Frage: „Was ist eigentlich entscheidender: das Ende der Welt oder das Ende des Monats?“ Wenn man diese Konfliktlage „kulturalistisch“ nennt, packt man das in eine falsche Schublade und versteht auch nicht den Kern des Konflikts. 

Merkel: Ich stimme nicht zu: Die Klimafrage läuft zwar am Ende auch auf eine Verteilungsfrage zu. Die wird uns in diesem Jahrzehnt massiv beschäftigen. Aber das ist nicht der Punkt. Die kulturalistische Einfärbung der Debatte liegt vielmehr in der Moralisierung. Wer sich heute drastischen Maßnahmen des Klimaschutzes auch aus sozialen Gründen verweigert, riskiert den Vorwurf der Unmenschlichkeit. Man ist dann quasi persönlich daran schuld, dass Bangladesch überflutet wird. Das meine ich am Ende mit „Kulturalisierung“. Ich stilisiere das jetzt, aber die Intensität des Konflikts ist viel größer als bei bloßen Verteilungsfragen. Es geht nicht um ein Weniger oder Mehr, sondern um Fragen moralischer Integrität. Und an diesen Punkten entzünden sich die diskursiven Konfrontationen unserer Gegenwart.

Steffen Mau / Foto: Antje Berghäuser

Am Ende ist die Wirklichkeit doch ganz konkret: In Umfragen für Sachsen kommt die AfD auf 35 Prozent, die Linke auf 9 Prozent und die Grünen auf 6 Prozent. Mit diesen Parteien will die CDU am liebsten aber nichts zu tun haben, kann gegen diese Mehrheit aber auch keine stabile Regierung bilden. Reicht die Polarisierung der Ränder im Grunde nicht aus, um das politische System dennoch in Bedrängnis zu bringen?

Merkel: Die AfD hat sich im Osten zum Veto-Spieler entwickelt. Sie kann Mehrheiten und Koalitionen verhindern. Wir verfügen aber nicht über die erlernte Konsensbereitschaft der Skandinavier für Minderheitsregierungen. Schon gar nicht in den ostdeutschen Ländern. Die CDU hat sich in eine strategische Falle manövriert. Sie ist mit Frau Merkel zur Mitte marschiert. Dadurch hat sich rechts von ihr ein politischer Raum geöffnet, in den die AfD eindringen konnte. Die CDU will aber nicht mit der AfD koalieren, der sie diesen Raum geöffnet hat. Das ist normativ verständlich, aber strategisch ein Eigentor, gerade im Osten.

Mau: Der Osten hat in den ersten 20 Jahren nach der Wende einen Transformationsgalopp durchgemacht. Es gab keine Verschnaufpause, sondern noch mehr Veränderungen: Digitalisierung, Migration, Klima und so weiter. Da ist natürlich die Stunde der Populisten gekommen, die dann sagen: „Hier soll sich nichts mehr verändern, alles kann so bleiben, wie es ist.“ Und die Kosmopoliten sagen umgekehrt: „Du musst dein Leben ändern, notfalls auch ganz radikal.“ Das führt zu starken Formen der Abwehr und unterstützt die Distanz zu den etablierten politischen Parteien und Institutionen. Es ist ein Vakuum entstanden, in das rechtspopulistische Akteure vorstoßen. 

Das reicht mir nicht: Die Polarisierung der Gesellschaft lässt sich zumindest anhand der Migrationsfrage feststellen. Wolfgang Merkel scheint die AfD-Anhänger durch Zugeständnisse politisch integrieren zu wollen. Sie, Herr Mau, scheinen auf den Effekt einer kosmopolitischen Gewöhnung der Skeptiker zu setzen – wie schon in der Regenbogenfrage. Was würden Sie beide also empfehlen? Braucht Deutschland den dänischen Weg – oder muss man einfach weitermachen wie bisher? 

Mau: Auch in Sachen Migration geht es letztlich um Prozesse der Gewöhnung. Hätte man den Zustrom der Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren über Nacht eingeführt, wären die Leute natürlich auf die Barrikaden gegangen. Heute gibt es ein verankertes Bewusstsein dafür, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben, auch wenn das nicht unumstritten ist und auch zu heftigen Gegenreaktionen führt. Das Problem ist, dass die politischen Ränder besonders laut sind. Das spiegelt sich auch im öffentlichen Diskurs wider. In der Mitte hingegen gibt es viele Menschen ohne dezidierte Meinung zu den wichtigen Themen. Diese Leute spielen im politischen Prozess keine große Rolle, halten sich zurück. Wenn das anders wäre, würde die AfD automatisch dezimiert werden. Die eigentliche Frage lautet also: Wie schaffen wir es, die Leute zu erreichen, die noch nicht AfD, aber auch sonst nicht wählen? Das wäre meines Erachtens das Kerngeschäft demokratischer Politik. Und dazu muss man wissen, was die Triggerpunkte sind, um nicht die falschen, spaltenden Themen zu besetzen.

Das hört sich ein wenig so an, als bräuchte Deutschland den dänischen Weg am Ende nicht, weil man noch genügend andere für das politische System mobilisieren könnte, Herr Merkel.

Merkel: Korrektur! Nein, politische Zugeständnisse will ich der AfD nicht machen. Beachtliche Teile ihrer Wähler müssen aber zurückgewonnen werden. Die demokratischen Parteien müssen die Probleme lösen, entlang derer die AfD erfolgreich mobilisiert. Es ist immer schwierig, ein Erfolgsmodell wie das dänische in andere Länder zu exportieren. Wir können das nicht eins zu eins übernehmen. Nach Expertenmeinung ist Dänemark aber die beste Demokratie auf der Welt. Und sie hat es geschafft, die Dänische Volkspartei radikal zu reduzieren. Was wir von Dänemark lernen können, ist: Die Politik muss Probleme lösen. In der Forschung sehen wir, dass es den Wählern immer weniger auf die Reinheit der Verfahren ankommt und stattdessen auf das Ergebnis. Schon Helmut Kohl sagte: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ 

Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor dem Jüngsten Gericht und müssen eine letzte Frage beantworten. Sie dürfen nur ein Wort sagen, ansonsten kommen Sie in die Hölle. Also: Sind Sie eigentlich „Kommunitarist“ oder „Kosmopolit“? 

Mau: Eher Kosmopolit. 

Merkel: Ich stecke in der Mitte fest. 

Das Gespräch moderierte Mathias Brodkorb. 

 

Anzeige