Stauffenberg-Gedenken - Die Gegenwart des 20. Juli 1944 und seine Fragen an uns

Heute vor 78 Jahren versuchte eine Gruppe rund um den Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg das NS-Regime durch ein Attentat auf Adolf Hitler zu stürzen. Lange haben sich die Deutschen mit der Frage schwer getan, ob Stauffenberg überhaupt als Vorbild taugt. Doch Russlands Angriff auf die Ukraine könnte auch hier die Perspektive ändern.

Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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Der 20. Juli zählt zum festen Bestandteil des Gedenkkalenders der Republik. Ein offizieller Feiertag war er gleichwohl nie. In der alten Bundesrepublik, vor 1989, als viele der Witwen der Hingerichteten noch lebten, war er eine Art Familientreffen der Angehörigen, der am 20. Juli Beteiligten. Seit der Wiedervereinigung werden es naturgemäß Jahr für Jahr weniger, die über eigene persönliche Erinnerungen an den 20. Juli 1944 verfügen. Große und bewegende Reden sind am 20. Juli gehalten worden: von Überlebenden wie Eugen Gerstenmaier, dem ersten Bundestagspräsidenten, vom Bundespräsidenten wie Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker, aber auch von einfühlsamen Intellektuellen aus dem Ausland wie Fritz Stern und Janusz Reiter.

Eine Gruppe von Gleichgesinnten

In den letzten Jahren wurden freilich die offiziellen Grußworte immer dürrer, Formulierungen wiederholten sich. Bundesratspräsident Bodo Ramelow sprach heute von „der Erinnerung an die Personen rund um Graf von Stauffenberg“: „Die Widerständler des 20. Juli bezahlten wie Georg Elser, die Mitglieder der Weißen Rose und viele weitere mutige Menschen für ihre Idee eines anderen Deutschlands mit dem Leben. Sie alle werden nicht vergessen.“

Mit solchen Formulierungen wird das Entscheidende des 20. Juli übergangen, die scheinbar aussichtslose Tat in einer verzweifelten Lage. Stauffenberg und seine Freunde handelten für Deutschland. Gewiss, für einen Staatsstreich war der Juli 1944 sehr spät, aber wie viel Leid wäre Deutschland, Europa und der Welt erspart geblieben, wenn das Attentat erfolgreich gewesen wäre? Entscheidend war der Mut des Einzelnen. Staatsstreich und Attentat war nur im Zusammenwirken von einer Gruppe von Gleichgesinnten möglich.

 

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Die Deutschen haben sich mit Stauffenberg immer schwer getan, weil ihr Verhältnis zum Militärischen bis zum heutigen Tag ein schwieriges geblieben ist. Warum soll es da einfach sein, eines Offiziers der Wehrmacht zu gedenken, der im Kampf gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime für seinen Einsatz das Leben gegeben hat? Vermutlich würde das Gedenken leichter fallen, wenn Stauffenberg ein pazifistischer Arbeiterführer gewesen wäre.

Thomas Weber hat heute in der Welt daran erinnert, dass Stauffenberg in der Gegenwart auch ein Vorbild sein kann, „wie Regimetreue in Russland – und in allen Staaten, die sich der Tyrannei zuwenden – auf ihr Gewissen hören und einen Regimewechsel einleiten können.“ Die meisten der anderen Kommentare zum heutigen Tage bewegen sich auf der Linie des Bekannten.

Unrecht nicht durch Recht vertauschen

Lange haben sich die Deutschen mit der Frage schwer getan, ob Stauffenberg überhaupt ein Vorbild sein könne. Russlands Krieg gegen die Ukraine verändert auch hier unserer Perspektive. Das Verhältnis zum Militärischen wird in Deutschland heute zumindest diskutiert. Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet, bis 2021 noch undenkbar, finden heute statt. Es ist an der Zeit, die einbetonierten Pfade der Geschichtserzählung zu verlassen und mit den Problemstellungen der Gegenwart auch unbequeme Fragen an die eigene Geschichte und damit an uns selbst zu richten.

Von daher ist es ein Glücksfall, dass die Karlspreisträgerin Swetlana Tichanowskaja, die belarussische Oppositionsführerin, heute die diesjährige Gedenkrede zum 20. Juli in Plötzensee gehalten hat. Sie hat den Kern der Botschaft der Geschichte Stauffenbergs zutreffend erfasst und mit ihren Worten einen überfälligen Bogen in die Gegenwart gespannt, indem sie von ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte der Unterdrückung des belarussischen Volkes durch einen Diktator, der das Recht mit den Füßen tritt, erzählte.

Diese Geschichte hat sie mit den Lehren von der Erhebung des 20. Juli verbunden: „Ich bin hier, um zu bekunden, dass Mut nicht nur von unseren Vorvätern praktiziert worden ist. Zivilcourage ist zeitlos.“ Sie erinnerte auch an die Geschichte von Elisabeth von Thadden, die mit Mut und Charakter jüdischen Mädchen half und durch einen Spion wegen angeblichen Hochverrats im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichtet wurde. Lukaschenko wie Putin, so Swetlana Tichanowskaja, haben die Sicherheit ihrer Landsleute auch jenseits der Staatsgrenzen ihres Landes bedroht. Wer zu Hause Unrecht durch Recht vertauscht, so ihre Botschaft, wird auch in der internationalen Gemeinschaft kein verlässlicher Partner sein.

Anstand und Ehre, Mut und Zivilcourage

Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Carl Friedrich Goerdeler, Henning von Tresckow, Helmuth James Graf von Moltke, Adam von Trott zu Solz, Hans Bernd von Haeften und viele andere haben für ihre Überzeugungen mit dem Leben bezahlt, weil sie für das Recht und die Freiheit aufgestanden sind. Sie haben dabei nicht nach Erfolgsaussichten, Posten oder späteren Belohnungen gefragt. Swetlana Tichanowskaja hat daran erinnert, dass die mutigen Menschen in Belarus ebenfalls nicht aufgegeben haben und nicht aufgeben werden. Die Ereignisse in der Ukraine haben sie und ihre Freunde darin bestärkt, dass es richtig gewesen ist, sich der Diktatur im eigenen Land zu widersetzen.  

Die Erinnerung an Stauffenberg und seine Freunde konfrontieren uns damit, dass es in den dunklen Jahren Menschen gab, die eine Alternative zum Wegsehen und zum Mitmachen fanden, freilich auch, dass es zu wenige waren, die ihrem Gewissen folgten. Die Geschichte des deutschen Widerstands handelt von inneren Kämpfen, von dem Ringen mit dem Gewissen, von Anstand und Ehre, von Mut und Zivilcourage. Sie handelt auch von Irrtümern und Enttäuschungen, aber vor allem von der Kraft der Freundschaft, von der inneren Konsequenz, von dem großartigen Erlebnis, sich aufeinander verlassen zu können.

Eine permanente Frage an jeden von uns

Staatsstreich und Attentat des 20. Juli sind eine permanente Anfrage an einen jeden von uns. Wie hätten wir uns damals verhalten? Wo sehen wir heute beiseite, ohne dass uns dafür Konsequenzen drohen würden? Wie viel Kraft verwenden wir für die Bewahrung unserer Demokratie? Nichts ist ein Selbstläufer, und nichts ist auf Dauer geschenkt. Henning von Tresckow hat den bemerkenswerten Satz formuliert: „Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung das Leben hinzugeben.“

Der 20. Juli war eine nationale Tragödie. Er hat Deutschlands schwierigen Weg zu Demokratie nach 1945 leichter gemacht. In diesen Tagen, wo Krieg und nationale Tragödien nach Europa zurückgekehrt sind, sind wir gut beraten, uns auf seine zeitlose Botschaft zu besinnen: auf die Bedeutung von Mut und Zivilcourage für das Überleben der Demokratien und den erfolgreichen Kampf gegen die Diktatur.

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