90. Geburtstag von Jean-Luc Godard - Rettet das Kino!

Die Kinosäle sind menschenleer. Da wirkt es beinahe zynisch, dass jetzt mit Jean-Luc Godard einer der größten Revolutionäre des Kinos 90 Jahre alt wird. Ein guter Moment, um an den Wert des Bewegtbildes zu erinnern.

Auch vom besten Galgenhumor kann man keine Miete zahlen / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Verwaiste Kinosäle, ausgestorbene Multiplex-Center, auf unbestimmte Zeit verschobene Blockbuster: Das Kino erlebt im Moment die schwerste Krise seiner Geschichte. Dass in diesen Tagen Jean-Luc Godard, Mitbegründer der Nouvelle Vague, Revolutionär und zugleich Altmeister des französischen Kinos, seinen 90. Geburtstag feierte, wirkt wie ein böser Scherz – ausgedacht vom Rachegott des Kinos.

Denn die Säle, in denen man Filme Godards zeigt – falls man sie überhaupt noch aufführt – sind schon seit Jahrzehnten leer. Zu sperrig seien sie geworden heißt es, zu experimentell, zu intellektuell verspielt. Strömten in die frühen Meisterwerke Godards, in „À bout de souffle“ („Außer Atmen“) oder in „Bande à part“ („Die Außenseiterbande“) noch die Massen, so wurde das Spätwerk des Kinorebells von dem Publikum ebenso gemieden wie von den großen Filmverleihern. Eine Ignoranz, die nun wie ein Menetekel wirkt.

Beginn eines Rebellen

Als Godard Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre zusammen mit seinem Freund und späteren Widersacher François Truffaut begann, den Film zu revolutionieren, steckte das Kino in seiner ersten großen Krise. Technisch begann ihm zunehmend das Fernsehen Konkurrenz zu machen, und ästhetisch war es in einer Bildsprache und Dramaturgie festgefahren, die der Wahrnehmung der Nachkriegsmoderne nicht mehr entsprach.

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Godard und Truffaut brachen deshalb radikal mit den Gesetzen der Traumfabrik Hollywoods und Papas Kino, dem von der damaligen französischen Kulturpolitik geförderten „cinéma de qualité“. Da den Rebellen der Zugang zu den großen Studios ohnehin verwehrt war, drehte man auf der Straße mit der Handkamera, verzichtete auf künstliches Licht, engagierte neue, unverbrauchte Schauspieler (Jean Seberg, Jean-Paul Belmondo, Jeanne Moreau oder Fanny Ardent) und etablierte neue, ungewohnte, teils verwirrende Einstellungen und Schnitttechniken.

Aneignung durch den Mainstream

Doch genau hier, auf dem Gebiet der Kameratechnik, zeigt sich die Tragik und Ambivalenz von Godards revolutionärer Ästhetik. Denn was vor sechzig Jahren eine Provokation war, ist heute ästhetische Stütze der Kultur- und Medienindustrie. Die verwackelte Handkamera und die berühmten Jump Cuts (also harte Schnitte bei statischer Kameraeinstellung) sind zum Standardmittel tausender YouTuber und Vlogger mutiert – vor allem um rhetorische Unzulänglichkeiten bildästhetisch zu kaschieren. Was einmal Subversion war, ist zur ästhetischen Affirmation der technischen Plattformen globaler Medienunternehmen degeneriert.

Godard war sich des Problems der Aneignung der Avantgarde durch die Kulturindustrie sehr wohl bewusst. Ab den späten 60er Jahren begann er daher nicht nur seine Filmsprache immer weiter zu radikalisieren. Anders als die meisten Filmemacher unserer Zeit verstand er, dass ein Film nicht dadurch politisch wird, dass man platte Botschaften politischer Korrektheit auf Zelluloid bannt – wie etwa die unsäglichen Produkte deutscher Filmförderung von der Sorte „Und morgen die ganze Welt“.

Doch wie jeder Avantgardist ist auch Gordard dem Zugriff der nacheilenden kommerziellen Aneignung nicht entkommen. Selbst sein ästhetisch vielleicht radikalster Film „Adieu au langage“ von 2014 kommt nur wenige Jahre später dem am Internet geschulten Auge seltsam vertraut vor.

Anders Truffaut

In einer Welt der permanenten Innovation wirken dagegen Truffauts Versuch der Illusion einer ästhetischen Zeitlosigkeit und seine weltvergessende Melancholie ungleich radikaler, systemkritischer und auf subtile Weise revolutionärer. Truffaut lässt den Zuschauer wieder sehen, was im Alltag der Bilderflut verschleiert wird. Wenn die Corona-Pandemie eines schönen Tages abgeklungen sein wird, werden wir uns überlegen müssen, was für ein Kino wir angesichts von Streamingdiensten und Kinopleiten in Zukunft wollen.

Um die Multiplexe ist es, sein wir ehrlich, nicht schade. Die Blockbuster der Zukunft sind bei Netflix und Co. gut aufgehoben. Die noch existierenden Traditionskinos brauchen Unterstützung, Förderung und vor allem ein attraktives Programm – Filme die begeistern und verzaubern. Godard und Truffaut retteten das Kino ihrer Zeit, indem sie es in eine Schule des Sehens verwandelten. Und auch wir brauchen wieder Filme, deren Bilder die Menschen nicht mit Blindheit schlagen, sondern die Welt eröffnen.

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