Deutsche Polit-Talkshows - Mehr Tabula Rasa wagen

Sandra Maischberger hat ihr Sendungskonzept geändert, Frank Plasberg an Louis Klamroth übergeben. Und Anne Will beendet ihre Diskussionsrunde Ende des Jahres. Die deutschen Polit-Talkshows erleben derzeit den größten Umbruch seit zwei Jahrzehnten. Neue Konzepte müssen her – und neue Gesichter.

Ende des Jahres ist Schluss: Blick ins Talk-Studio von Anne Will / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Am 15. November 2022 geht Frank Plasberg hinüber zu Brigitte Büscher. Eine gute Stunde lang wurde zuvor über die WM in Katar diskutiert, auch im Gästebuch von „Hart aber fair“. Büscher liest ausgewählte Kommentare vor. Es ist alles fast wie immer, aber eben nur fast. Ein Einspieler folgt, mit Szenen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten „Hart aber fair“;  ein Best of Frank Plasberg. „Jetzt ist Frank 65 und hört auf“, sagt eine Frauenstimme aus dem Off. Zum Abschied gibt es einen Blumenstrauß und Standing Ovations für den Moderator. Anschließend verabschiedet sich Plasberg nach rund 750 Sendungen ein allerletztes Mal von seinem Publikum. 

Die deutschen Polit-Talkshows erleben derzeit den größten Umbruch seit gut zwei Jahrzehnten. Frank Plasberg hat „Hart aber fair“ an den gut halb so alten Louis Klamroth übergeben, der vor wenigen Tagen seine erste Sendung moderierte (Fazit des Autors: solides Mittelmaß). Sandra Maischberger hat ihr Sendungskonzept schon vor längerer Zeit umgestellt. Und Anne Will, das wurde an diesem Freitag bekannt, wird den Vertrag für ihren TV-Talk nach 16 Jahren auf Sendung nicht verlängern. Die Moderatorin habe sich für 2024 einen „Neustart“ vorgenommen, heißt es in einer Pressemitteilung der ARD. Man spreche aber bereits über neue Projekte.

Je jünger, desto radikaler

Damit sind die letzten Monate der meistgesehenen politischen Diskussionssendung im deutschsprachigen Fernsehen gezählt. Durchschnittsquote: überragende 15 Prozent dank 3,7 Millionen Zuschauern. Aufhören, wenn's am Schönsten ist. Das wäre die mögliche Story, die man rund um das Ende des TV-Talks „Anne Will“ erzählen könnte. Und auch, dass es Anne Will im Alter von 56 Jahren noch einmal wissen will. Was auch immer es konkret sein soll. Wer rastet, der rostet. Aber eine solche Erklärung würde deutlich zu kurz greifen. 

„Hart aber fair“ wurde erstmals im Jahr 2001 ausgestrahlt, Sandra Maischberger im Jahr 2003, Anne Will im Jahr 2007. Und zur Wahrheit gehört eben auch, dass YouTube im Jahr 2005 gegründet wurde, Facebook und Twitter im Jahr 2006, ebenso wie Spotify. Das erste iPhone kam ein Jahr später auf den Markt. Mittlerweile tragen die allermeisten Menschen in Deutschland ihren Computer, ihren Fernseher, ihr Radio in der Hosentasche mit sich herum. Die Welt ist digitaler geworden, schneller, greifbarer, weniger linear. 

Das Medienverhalten der Leser, Hörer und Zuschauer hat sich entsprechend radikal verändert. Je jünger desto radikaler, muss man sagen. 94 Prozent der Jugendlichen nutzen mittlerweile fast täglich ihr Smartphone – und zwar durchschnittlich 204 Minuten. Und wer sich als junger Mensch über das Weltgeschehen informieren will, tut dies vor allem über Online-Medien und die sozialen Medien, während das Fernsehen in der Alterskohorte der 12- bis 19-Jährigen am meisten an Bedeutung verliert. 
 

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Heißt auch: Wer dabei sein will, wenn eine Diskussionsrunde über die wichtigsten oder populärsten – immer deckungsgleich ist das schon lange nicht mehr – Themen debattiert, harrt immer seltener aus bis Sonntag 21.45 Uhr (Will), Montag 21 Uhr (Klamroth), Mittwoch 22.50 Uhr (Maischberger) oder Dienstag, Mittwoch und Donnerstag zu unterschiedlichen Zeiten (Markus Lanz). Erst recht, wenn unterm Strich immer die selben Gesichter zu sehen und die gleichen Argumente zu hören sind. Noch funktioniert das, siehe Will-Quote, einigermaßen. Gut genug jedenfalls, um zu argumentieren, dass die klassischen Polit-Talkshows nach wie vor sehr relevant sind für das Publikum. Aber es kommt halt darauf an, was man mit „Publikum“ konkret meint – und mit „Relevanz“. Nicht nur mit Blick auf das Alter der Rezipienten. 

Die Wellen der Entrüstung

Wer beispielsweise einen Teil der vielen TV-Talks über Corona in den vergangenen gut drei Jahren Pandemie-Geschehen verfolgt hat, der wird sich nicht nur einmal die Frage nach der Relevanz gestellt haben. Nicht des Themas wegen, sondern der Art und Weise, wie und in welcher Zusammensetzung über die Corona-Politik debattiert wurde. Quantität (Quote) ist eben nicht gleich Qualität (Inhalt). 25 Millionen deutsche Kunden pro Jahr bescheren McDonald's auch keinen Michelin-Stern. Das ist gegenüber Will, Maischberger, früher Plasberg, jetzt Klamroth und Lanz keinesfalls despektierlich gemeint, sondern soll heißen: Auch Zahlen sind nur relativ. 

Hinzu kommt, dass die Menschen im Land längst nicht mehr nur Empfänger sind. Sie sind auch Sender geworden: auf Facebook, Twitter, Instagram und YouTube. Jeder, der möchte, kann heute sogar relativ einfach seine eigene Talkrunde streamen. Das hat einerseits zu mehr Freiheit geführt, zu mehr Demokratie im Sender-Empfänger-Verhältnis, hat aber auch unschöne Folgen, von Cancel Culture bis Shitstorms, und damit auch negative Auswirkungen auf den klassischen Polit-Talk im TV. „Die Wellen der Entrüstung, bei denen es zu Twitter schnell kommen kann, führen dazu, dass manch ein Gast vorsichtiger geworden ist, wenn er sich öffentlich äußert“, sagte Anne Will bereits vor zwei Jahren im Interview mit Focus

500 Stunden Videomaterial pro Minute

Öffentlich diskutiert, lässt sich festhalten, wird heute ohnehin mehr, ja, viel mehr als jemals zuvor. In den sozialen Medien, in den Streams und Podcasts. Leider viel zu häufig nach dem Prinzip „zwei Stühle, eine Meinung“. Und weil die stumpfe Quantität (etwa reine Follower-Zahlen) gegenüber der Qualität (jemand kennt sich wirklich aus mit einem Thema) in den neuen respektive neueren Medien um ein Vielfaches wichtiger ist, stehen wir heute bei vielen Debatten dort, wo wir stehen. Jede Zeit hat eben die Influencer, die sie verdient; auch, wenn die früher noch anders hießen.

Die Fixiertheit auf die reine Einschaltquote ist selbstredend mindestens so alt wie das Privatfernsehen. Das ist das eine. Das andere ist, dass bei YouTube jede Minute 500 Stunden Videomaterial hochgeladen werden, also mehr als doppelt so viel „Content“ wie ein einzelner Fernsehsender benötigt, um eine ganze Programmwoche zu füllen. Es sind Entwicklungen wie diese, auf die das deutsche Fernsehen reagieren muss. Und damit auch die Verantwortlichen der erfolgreichsten Polit-Talkshows des Landes.

Neue Ansätze müssen her, neue Konzepte, neue Moderatoren, neue Gäste – und das nicht erst, wenn die Einschaltquote im Keller ist. Da reicht es auch nicht, wenn, wie jüngst bei der Premiere von Louis Klamroth bei „Hart aber fair“ gesehen, die größte Innovation eines 21 Jahre alten Talkformats im öffentlich-rechtlichen Rundfunk darin besteht, einen neuen Moderator zu verpflichten – und Brigitte Büscher für einen Einspieler zwischendurch in die Düsseldorfer Fußgängerzone zu schicken. 

Tendenz steigend

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dies hier soll keineswegs ein Abgesang sein, ein frühzeitiger Nachruf auf die großen Polit-Talkshows im deutschen Fernsehen. Es ist nur eine Bestandsaufnahme, ein erster Erklärungsversuch, woher der eingangs erwähnte Umbruch kommen könnte. Und ein Appell, nicht nur über die Zukunft solcher Formate zu sprechen, sondern sich auch ernsthaft Gedanken darüber zu machen, wo man bereits heute die richtigen Weichen stellen kann. Darüber, was weg kann, und darüber, was stattdessen kommen muss.

Das ZDF immerhin legt bereits fleißig vor: Unter dem Schlagwort „Unbubble“ lässt der Sender derzeit drei Formate produzieren, die im weitesten Sinne Diskussionsformate sind, aber eben jünger und frischer. Nicht nur, was Moderatoren und Präsentation betrifft, sondern auch die Gästeauswahl, weil sich insbesondere viele junge Menschen nicht mehr abgeholt fühlen von den immergleichen Gästelisten: „13 Fragen“, „Unter anderen“ und „Sag's mir“ heißen die neuen ZDF-Formate. Sie laufen ausschließlich in der Mediathek und auf YouTube. Die erfolgreichsten Videos haben bereits über eine Million Aufrufe. Tendenz steigend.

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