Oberammergauer Passionsspiele - Wo Gott selbst mitspielt

Mehr als 2000 Mitwirkende, über 100 Vorstellungen, eine halbe Million Zuschauer aus aller Welt, die vom Leid Christi erfahren wollen: Die noch bis Oktober stattfindenden Oberammergauer Passionsspiele sind ein Theaterwunder – und das Gegenteil einer Laienaufführung.

Oberammergau liegt inmitten des Naturparks Ammergauer Alpen. Vor fast 400 Jahren begann hier die Geschichte der Passionsspiele. Seitdem führen die Einwohner des Ortes alle zehn Jahre das Leiden und Sterben Christi auf / Florian Wagner
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Das oberbayerische Dorf Oberammergau hat im Jahre 1632 ein Gelübde abgelegt. Wenn die Pest das Dorf verschont, so wollen seine Einwohner alle zehn Jahre die Passionsgeschichte aufführen. Im Jahr 1633 wurde das Gelübde zum ersten Mal mit einer Aufführung der Leidensgeschichte Jesu eingehalten, und seitdem hat die Pest keinen Einwohner von Oberammergau mehr dahingerafft. So sagt die Legende. Seitdem haben sich die Oberammergauer an ihr Gelübde gehalten und die Passionsspiele alle zehn Jahre aufgeführt. Es gab bisher nur zwei Unterbrechungen. Einmal wurde wegen der vielen Opfer des Ersten Weltkriegs die Aufführung von 1920 auf 1922 verschoben. Und 1940 fiel die Passion wegen des Zweiten Weltkriegs aus.

Im Jahr 2020 wäre es wieder so weit gewesen, und die Vorbereitungen liefen wie seit fast 400 Jahren. Bereits ein Jahr vor der Premiere wurde der Haar- und Barterlass ausgehängt. Hierin werden alle Oberammergauer aufgefordert, sich nicht mehr die Haare und Bärte zu schneiden, wenn sie denn als jüdisches Volk auf die Bühne wollen. Von diesem Erlass sind nur die Darsteller der Römer ausgenommen, denn bekanntlich haben die historischen Römer sich rasiert und fielen durch ihre scharf geschnittenen Frisuren auf. Doch 2020 war alles anders. Die Corona-Epidemie zog von China aus durch die Welt. Und so kam es zu der bösen Pointe, dass die Passionsspiele, die einst zur Abwehr der Pest erfunden wurden, einer Seuche des 21. Jahrhunderts zum Opfer fielen. 

Die Passionsspiele in der Gegenwart

Diese Absage der Passion bekommt eine religiöse Dimension, wenn man erfährt, dass die Passionsspiele 2020 eine Versicherung abgeschlossen haben, mit der man sich gegen einen Vorstellungsausfall aufgrund höherer Gewalten absichern wollte. Die Passionsspiele sind schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur die Erfüllung eines religiösen Gelübdes, sondern sie sind immer mehr zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Eine halbe Million Reisende aus aller Welt übernachten in Hotels, kaufen Souvenirs und bevölkern die Restaurants. Die Region rechnet mit dem sagenhaften Umsatz von einer Milliarde Euro. Dass man eine solche Großveranstaltung, bei der in über 100 Vorstellungen jeweils fast 5000 Zuschauer erwartet werden, gegen die Unbilden von Naturgewalten absichern will, ist betriebswirtschaftlich klug. Doch was der Gott des Christentums, mit dem einst der Vertrag über das Fernhalten der Pest abgeschlossen wurde, von einer solchen Rückversicherung gehalten hat, das hat er im Jahre 2020 unmissverständlich kundgetan: Corona zog um die Welt und machte auch vor Oberammergau nicht halt. 

Das Schlussbild der diesjährigen Passionsspiele: die Anhänger Jesu vor dem leeren Kreuz / Arno Declair

Was wie eine seltsame Anekdote klingt, ist jedoch ein ernsthaftes Symptom. Denn warum strömen alle zehn Jahre so viele Menschen nach Oberammergau? Die Antwort, die aus der Logik des Tourismus folgt, lautet, dass es sich um ein besonderes Event handelt. Die Passionsspiele sind selten, sie sind einmalig und sie liegen in einer bezaubernd schönen Landschaft. Oberammergau ist in der ganzen Welt bekannt für diese langlebige Aufführungstradition, die das touristische Bayern zwischen Schloss Neuschwanstein und dem Oktoberfest attraktiv macht. Die Antwort, die aus dem Gelübde folgt, ist jedoch eine völlig andere. Denn diese Antwort liegt in der Einhaltung des Gelübdes und in der Art, wie die Passion gespielt ist. Die Aufführung von 2022 ist in dieser Hinsicht beeindruckend und irritierend zugleich. Es lohnt sich also ein genauerer Blick auf das, was Christian Stückl als Spielleiter, der bereits zum vierten Mal die Passion eingerichtet hat, dort vollbringt. Denn er hat die Spiele von gleich mehreren schlechten Traditionen befreit und behutsam in die Gegenwart geführt. 

Vom Antisemitismus befreit

Wenn ein Ort, der gut 4000 Einwohner hat, beschließt, eine Aufführung auf die Bühne zu bringen, bei der mehr als 2000 Menschen mitwirken, dann bedeutet das, dass wirklich jeder an der Passion beteiligt ist. Die Vorbereitungen betreffen darum nicht nur die künstlerischen Entscheidungen, sondern das gesamte soziale Gefüge. So gab es über die Jahrhunderte einen Regelkanon, wer zum Spielen berechtigt ist und wer nicht. Diese Regeln hat Christian Stückl beharrlich der modernen Welt angepasst. Inzwischen dürfen auch Frauen, die älter als 35 Jahre und verheiratet sind, mitspielen, und in diesem Jahr darf zum ersten Mal ein Oberammergauer mit muslimischem Glauben eine große Rolle übernehmen, die tragische Figur des Judas. 

Als erfahrener Theaterregisseur hat Christian Stückl die Aufführungszeit vom Tag in die Nachmittags- und Abendstunden verlegt. Der Höhepunkt der Passion – die Kreuzigung – fällt nun in die Dunkelheit, was ermöglicht, dass Fackelschein das grausame Bild der drei Kreuze beleuchtet. Als ich vor zwölf Jahren das erste Mal bei der Passion war, wurde diese beklemmende Atmosphäre noch von einem heraufziehenden Gewitter verstärkt. Je näher die Kreuzigung kam, desto bedrohlicher türmten sich dunkle Wolken über der Freilichtbühne auf. Und genau in dem Moment, als die Nägel durch die Hände Christi geschlagen wurden, brach mit einem gewaltigen Donner der erste Blitz über die Bühne. Ein so kollektives Erschrecken habe ich zuvor und seitdem in keiner Theatervorstellung erlebt. Gott selber war zum Mitspieler geworden. 

Die Tempelreinigung: Rochus Rückel vertreibt als Jesus die Händler und Geldwechsler aus dem Gotteshaus ​​​​/ Birgit
Gudjonsdottir

Als wichtigste Leistung muss man Christian Stückl aber anrechnen, dass er die starken antisemitischen Tendenzen in der Aufführungstradition beseitigt hat. Der Verrat an Jesus, sein Verhör vor den Hohepriestern und die giftige Forderung, ihn zu kreuzigen, haben über Jahrhunderte die Juden als Gottesmörder vorgeführt und damit den Hass der Christen auf sie geschürt. Die Bibel schildert die Passion aber nicht nur als die Leidensgeschichte des Gottessohns, sondern gerade neuere Forschungen haben gezeigt, wie die Juden unter sich zerstritten waren und unter der römischen Besatzung leiden mussten. Durch eine andere Gewichtung in den Szenen ist es Christian Stückl gelungen, die antisemitische Tendenz in dieser Hinsicht abzumildern. Es sind nun nicht mehr allein die jüdischen Priester, die den Tod des Messias fordern, sondern Jesus gerät in die Mühlen eines Kampfes um die Macht zwischen Römern und Juden. 

Marias Steinigung als Höhepunkt

Die Passion 2022 bedient dabei weder in der Darstellung des jüdischen Volkes noch beim Verrat des Judas das antisemitische Klischee der Gottesmörder. Jesus wird in dieser Interpretation zu einem Freiheitskämpfer, der zugleich die Waffengewalt, die ein Aufstand bedeuten würde, ablehnt. So gerät er zwischen alle Fronten. Diejenigen, die in ihm den Anführer gegen die Römer sehen wollen, sind enttäuscht, und die Priester, die um ihre religiöse Macht bangen, fürchten seine Aura. 

 

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Statt sich in diesem Konflikt politisch klug zu verhalten, verkörpert Jesus ein neues Gesetz: Jeder Mensch hat einen Anteil an der Heiligkeit des Göttlichen, und darum sollen die Menschen einander mit Demut und Liebe begegnen. Die Gewalt, die von den Römern ausgeht, macht es fast unerträglich, seinem gewaltlosen Widerstand zuzuschauen. Doch sein Handeln zeigt in jedem Moment, dass es falsch ist, auf Gewalt wiederum mit Gewalt zu reagieren. Jesus ist also nicht nur Freiheitskämpfer, sondern noch viel mehr ein Prediger, der die Missstände seiner Zeit durch Liebe ändern will. Seine Gegner sind darum nicht nur die römischen Besatzer, sondern auch die komplizierten Regeln einer verkrusteten Priesterreligion. 

Oberammergau ist geprägt duch die sogenannte
Lüftlmalerei, die Kunst, Fassaden farbig zu
bemalen. Besonders häufig werden Szenen aus der
Passion gezeigt. Hinter dem Haus erhebt sich der
markante Zinken des Kofels / Thomas Klinger​​​​

Der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den Hohepriestern findet in der Szene um die Steinigung von Maria Magdalena statt. In dieser Szene zeigt sich die belebende Wirkung, die die stücklsche Neufassung für die fast verstummten Sätze der Bibel hat. Dafür inszeniert er eine opulente Volksszene, wie man sie auf keiner Bühne der Welt sehen kann. Geschätzt 500 Menschen, von kleinen Kindern bis zu gebrechlichen Alten, sind in dieser wie in den anderen Volksszenen auf der Bühne. Man kann sich an den vielen Gesichtern gar nicht sattsehen und erlebt in diesem Reichtum von Leben die besondere Qualität der Aufführung. 

Beeindruckende Massen-Szenen

In der Oper sind solche Szenen von jedem Regisseur gefürchtet. Denn der Chor und die Statisten bestehen aus einer Menge von Menschen, die auf der Bühne ihrer Arbeit nachgehen. Will man eine lebendige Menge zeigen, so braucht es viele Proben, die aber kein Opernhaus der Welt mehr bezahlen möchte. So enden die meisten Massenszenen in einer absehbaren Choreografie, mit der die Menge in geometrischen Formen organisiert wird. Das sieht dann leidlich beeindruckend aus, ist aber himmelweit entfernt von dem Leben, das die Oberammergauer auf ihrer Bühne entfesseln können. Denn hier weiß vom Kind bis zum Greis jeder, warum er auf der Bühne ist. Und die lebendige Intensität der vielen Menschen wird durch die privaten Momente noch gesteigert, wenn etwa ein kleines Kind ein Steinchen aus seiner Sandale pult und dabei den Blickkontakt zu seinen Eltern sucht, damit es in der Menge nicht verloren geht. Solche Momente verbinden das Leben der Oberammergauer mit dem Leben der Menschen vor 2000 Jahren. 

In der Szene mit Maria Magdalena steht also Jesus einer solchen Übermacht eines aufgepeitschten Volkes gegenüber. Die Priester haben die Wut zugespitzt, sodass alle die Steinigung der Ehebrecherin fordern und dass jeder, der sich der Tötung entgegenstellt, ebenfalls als Gesetzesbrecher mit dem Tod bedroht wird. In dieser angespannten Situation nimmt Jesus den ersten Stein und reicht ihm den Priestern mit den berühmten Worten: „Der von euch, der ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Da die Priester zuvor ihren Gehorsam gegenüber dem allmächtigen Gott betont haben, käme jetzt die Behauptung, ohne Schuld zu sein, einer Gotteslästerung gleich. Im Moment, in dem der Satz ausgesprochen wird, ändert er die ganze Situation. Die Priester verstehen, dass sie verloren haben. Indem der Steinwurf mit der Schuldlosigkeit verknüpft wird, verhindert Jesus die Steinigung und bringt ein neues Gesetz in die Welt. 

Der Aufführung gelingen immer wieder solche hochgespannt lebendigen Szenen, in denen die bekannten Bibelstellen zu konkreten Aussagen werden. Jesus erfindet im Moment der größten Not die fundamentalen Sätze der Bibel, um einen ganz gegenwärtigen Konflikt auf eine andere Ebene zu heben. Die Leistung, die die Passionsspiele damit für uns säkulare Zeitgenossen vollbringen, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Denn man wird als Zuschauer zum Zeugen, wie durch den Mut und die Weisheit eines einzelnen Menschen inmitten eines gewalttätigen Alltags ein neuer Glaube entsteht. 

Laientheater der Spitzenklasse

Im Angesicht dieser Leistung muss man sich noch einmal vergegenwärtigen, dass es sich bei der Passion um Theater handelt, das man oft etwas despektierlich als Laientheater bezeichnet. Mit Laientheater ist gemeint, dass die Laienspieler etwas behaupten, was sie aber nicht durch schauspielerisches Können glaubwürdig darstellen können. Man sieht vor allem die Bemühungen und weniger das, was darin dargestellt werden soll. Dass die Passion nichts mit einem solchen Theater zu tun hat, ist das größte Wunder, das Christian Stückl und die Einwohner von Oberammergau vollbringen. Denn bei der Passion handelt es sich um das Gegenteil von Laientheater. Hier wird etwas gekonnt, was wohl nur hier und von diesen Menschen gemeinsam vollbracht werden kann. 

Der gemeinsame Geist der langen Tradition führt zu einem Spiel, das einen einzigartigen Zauber hat. Die technischen Anforderungen sind dabei überaus groß, denn die Passionsspiele bestehen aus drei verschiedenen szenischen Ebenen. Es gibt den oratorischen Teil, in dem ein großer Chor und Solisten zusammen mit einem Orchester eine Szene aus dem Alten Testament singend erzählen. Während dieser Gesangsteile werden die lebenden Bilder gezeigt, in denen diese Szene opulent und sinnlich vorgestellt wird. Diese Szenen aus dem Alten Testament sind die Spiegelszene zu den eigentlichen Spielszenen, die die Stationen der letzten Tage von Jesus in Jerusalem zeigen. Am Beginn der Handlung steht die Vertreibung aus dem Paradies als lebendes Bild und die Spielszene, in der Jesus’ Einzug in Jerusalem gezeigt wird. 

Jesus feiert mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl / Birgit Gudjonsdottir

Oratorium, lebendes Bild und Spiel­szene wechseln sich ab und ergeben über fünf Stunden alle Stationen der Passion. Allein die Logistik der Umbauten für die aufwendigen lebenden Bilder und die Wechsel von den Chören zu den Volks­szenen sind technisch und künstlerisch anspruchsvoll. Doch nicht nur die hohen inszenatorischen Anforderungen werden virtuos gemeistert, auch die Darstellung der bekannten Figuren gelingt auf eine ungewöhnliche Art. Man kann es mit den Kriterien des professionellen Schauspiels nur unzureichend beschreiben, da die Besonderheit des Spieles in einem inneren Leuchten von allen Beteiligten liegt. Und dieses Leuchten, das den Figuren eine Beseelung verleiht, ist vielleicht auch die einzige Möglichkeit, wie man Jesus und seine Jünger auf einer Bühne spielen kann. Die Oberammergauer Spieler bringen also, gerade weil sie Laien sind, etwas mit, das für die Passion entscheidend ist.

Leere nach der Kreuzigung

Die Hürden sind für eine solche Darstellung hoch. Man kann Jesus, Petrus, Judas und all die anderen nicht einfach mit den handwerklichen Mitteln des Schauspiels gestalten. Es sind keine Figuren, die man in ihrer Psychologie ausleuchten kann. Es wäre ein schrecklicher Holzweg, wenn man Jesus ein Helfersyndrom, Petrus eine Angstneurose und Judas einen Bruderkomplex andichten würde. Es sind Menschen, die jedem Christen bekannt sind, und zugleich sind es keine Menschen, die durch ihre Charaktereigenarten vertraut werden können. Es sind Archetypen des Glaubens und Ikonen der christlichen Religion. Wer sich ernsthaft die Frage stellt, wie man sie auf einer Bühne zum Sprechen bringen kann, der müsste an der Schauspielkunst verzweifeln. Den Jüngern in Oberammergau gelingt die Balance hingegen mühelos, ganz die Einwohner eines bayerischen Dorfes zu sein und zugleich die Ferne eines jüdischen Volkes, dem vor 2000 Jahren der Messias erschienen ist, aufscheinen zu lassen. 

In diesem Wunder der Darstellung treffen sich die verschiedenen Zeithorizonte, die im Theater verschmelzen müssen, damit die eigenartige Präsenz entsteht, die Theater zu einem Theaterwunder macht. Alle – Zuschauer wie Oberammergauer – wissen um das Gelübde. Die Zuschauer nehmen zum Teil sehr weite Reisen auf sich – nicht wenige Besucher kommen aus den USA – und sie alle wollen zusammen mit den Einwohnern die Geschichte vom Leid Christi erfahren. Das Wunder des Theaters, ganz gemeinsame Gegenwart und ganz Entrückung in eine unbekannte Ferne zu sein, stellte sich für mich vor zwölf Jahren und in diesem Sommer überwältigend ein. 

Und doch bleibt am Ende eine offene Wunde, die die Passion 2022 nicht nur zu einem Theaterwunder, sondern auch zu einer schmerzlichen Zeitdiagnose macht. Der Tod am Kreuz ist die letzte gespielte Szene der diesjährigen Passion. Nach der Kreuzabnahme folgt lediglich eine kurze Skizze, bei der drei Frauen fast beiläufig entdecken, dass das Grab leer ist. Danach wird in einer wiederum kurzen Szene gezeigt, wie sich die Botschaft vom leeren Grab unter dem Volk verbreitet. Diese beiden Szenen dauern nur wenige Minuten und sind nach den detailreichen und liebevoll inszenierten fünf bisherigen Stunden wie eine kalte Dusche. Der Kreuzestod ist der theatralische Höhepunkt der Passion Christi. Und sie ist hier das letzte Kapitel. Das ist der irritierende Teil der Passion 2022. 

Die Hoffnung geht verloren

Das Christentum ist die einzige Religion, die ihren Glauben aus der Leidensgeschichte ihres Gründers wachsen lässt. Die Herausforderung für jede Gegenwart besteht in der unerklärlichen Provokation dieser Geschichte. Sie erzählt auf der einen Seite das Leben eines mutigen jungen Mannes, der mit seiner Lehre und seinem Lebenswandel eine Schar von Jüngern um sich sammelt. Diese kleine, aber wachsende Gemeinde erscheint den Mächtigen als eine Gefahr, weswegen sie ihren Anführer als Unruhestifter hinrichten lassen. Auf der anderen Seite erzählt die Geschichte aber vom Wirken Gottes in der Welt. Der politische Rebell und religiöse Provokateur ist der Sohn Gottes. Seine Kreuzigung ist nicht nur eine grausame Strafe der Mächtigen, sondern ein Opfer, das Gott für die Menschen bringt. 

Die Passionsgeschichte ist darum nicht nur die Erzählung eines Rebellen, sondern sie ist eine Geschichte, die von Gott erzählt, wie er in der Menschenwelt wirkt. Erzählt man von dieser anderen, göttlichen Hälfte, ist sie für unsere säkulare Gegenwart nicht mehr als ein unglaubliches Märchen. Aber nur wer dieses Risiko eingeht, kann die Auferstehung zum Ereignis der Erzählung machen. Wer hingegen vor diesem Sprung scheut und den Tod das letzte Wort über Jesus sprechen lässt, der erzählt eine Geschichte, deren Lehre wenig Hoffnung für die Menschen enthält: Ein junger Mann, der Gutes tun will, gerät in Verdacht und wird von den Mächtigen mit dem Tod bestraft. Die Botschaft lautet wenig froh: Wer das Risiko eingeht, den Wahrheiten seiner Zeit zu widersprechen, der muss mit Strafe rechnen. Wer also das Risiko der Passion vermeidet und die unglaubliche Geschichte von der Auferstehung nicht erzählen will, der erzählt eine Geschichte, die vor jedem Risiko warnt. 

Das Gelübde von 1633 und die Begeisterung, mit der die Oberammergauer alle zehn Jahre die Passionsspiele aufführen, sind ein Anker in einer anderen, religiöseren Zeit. Die strahlenden Augen der Mitspieler verströmen auch noch 2022 eine Freude an ihrem Spiel, die bei jeder Vorstellung die Zuschauer erreicht. Und trotz dieser Anwesenheit einer Gemeinschaft, die sich einer heiligen Handlung überantwortet hat, sehen die Oberammergauer und ihr Spielleiter Christian Stückl keinen Weg, die Auferstehung spielen zu können. Es fehlt das lebende Bild, das eine solche Spielszene einleiten könnte, und der erstaunte Bericht, dass das Grab leer ist, ist die kleinstmögliche Schrumpfform der Auferstehung. Denn ein leeres Grab kann vielerlei Ursachen haben. 

Ein religiöser Gradmesser

Die reiche Fantasie, mit der alle anderen Spielszenen erfunden wurden, um die Botschaft des rebellischen Jesus als lebendige Wahrheiten zu zeigen, versagt vor der Aufgabe, den göttlichen Jesus auf die Bühne zu bringen. Das ist eine ehrliche Haltung zur eigenen Glaubens­skepsis. Und es ist ein unübersehbares Zeichen, wie fern der christliche Gott unserer Gegenwart ist. 
Und so stellen sich am Ende viele Fragen: Warum soll die Geschichte eines jungen Rebellen, der vor 2000 Jahren gegen die jüdische Religion und das römische Imperium gekämpft hat, uns heute noch interessieren? Die Antwort, die die Passionsspiele darauf geben, ist bedenkenswert. Jesus ist ein Mensch, der ein neues Gesetz in die Welt gebracht hat. Damit erzürnt er die Wächter des alten Gesetzes. Das Gesetz der Nächstenliebe ist so neu, dass es in seiner Lebensspanne nicht durchgesetzt werden kann, und es ist so revolutionär, dass es seinem Erfinder den Tod bringt. Es lohnt sich also, an diesen Mann zu erinnern, um uns alle an die Provokation seines neuen Gesetzes zu erinnern. 

So verführerisch diese Lesart der Passion auch ist, gibt sie nur eine halb wahre Antwort auf die Frage, warum die Leidensgeschichte bis heute millionenfach auf der ganzen Welt erzählt und in der Messe gefeiert wird. Denn es gibt beispielsweise, um einen anderen Revolutionär des Denkens zu nennen, keine Passionsspiele von Sokrates, der ebenfalls sein Leben für seine Lehre, die bis heute lebendig ist, opfern musste. Jesus’ neue Lehre und sein Kreuzestod alleine wären kein Grund, dass wir bis heute sein Leben und Sterben wiederholen. Erst wenn er als Gottessohn von den Toten wiederaufersteht, wird er zu dem Jesus, an den die Menschen seit 2000 Jahren glauben, und dem die Oberammergauer vor 400 Jahren versprochen haben, seine Geschichte immer wieder zu spielen. 

Das Gelübde von Oberammergau und seine Aufführung in unserer Gegenwart bleiben eine faszinierende Verbindung von Religion und Theater. Wie es um diese Verbindung steht, kann man noch bis zum 2. Oktober anschauen. Eine Reise lohnt sich sehr. Obschon oder gerade weil man hier zum Zeugen wird, wie erkaltet unser Gefühl für die religiöse Dimension des Lebens geworden ist. Denn der ganze Ort und sein Festspielhaus verströmen ein tiefes Vertrauen, dass es ohne Religion kein Leben geben kann, und doch verweigern sie am Ende den Sprung über die Grenzen unserer Vernunft. 
Die ganze Passion ist ein Theaterwunder, doch vor dem Wunder der Auferstehung versagt ihr der Glaube. Dabei wissen Zuschauer wie Oberammergauer, ohne die christliche Passion gäbe es keine Passionsspiele. Auch wenn sie vor dem letzten entscheidenden Sprung zögern und die Auferstehung auf ihrer Bühne nicht zeigen wollen, ist dieses Zögern doch ein wahrhaftiges Bekenntnis zum Theater – und darum auch immer zum Glauben.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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