Michel Foucault und die Corona-Pandemie - Überwachen und Strafen

Keine Frage, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie unterliegen einem Sachzwang. Doch in einer Demokratie darf die Disziplinierungsmaßnahme niemals zum Paradigma politischen Handelns werden. Michel Foucault hat bereits 1975 beschrieben, was daraus folgt.

Foucault über Maßnahmen gegen Epidemien: „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen“ / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist das inoffizielle Buch des Jahres: „Überwachen und Strafen“ von Michel Foucault. In dem 1975 erschienenen Werk untersucht der französische Philosoph die Geschichte der Machtausübung, der Kontrolle und Normierungsmaßnahmen in der Neuzeit. Die Aufklärung, so Foucault, sei eben nicht ein Zeitalter der Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, aus Knechtschaft und von Fürstenketten, sondern der Disziplinierung und Einhegung des menschlichen Körpers im Namen der Vernunft.

Eine Schlüsselfunktion komme dabei der räumlichen Verteilung der Menschen zu. Die Individuen würden in parzellierten Räumen lokalisiert: „Jedem Individuum seinen Platz und jedem Platz ein Individuum. Gruppenverteilungen sollen vermieden, kollektive Einnistungen sollen zerstreut, massive und unübersichtliche Vielheiten sollen zersetzt werden.“ Besonders deutlich werde das bei Maßnahmen gegen Infektionskrankheiten: „Allmählich“, so Foucault, „verfeinert sich ein administrativer und politischer Raum in einen therapeutischen Raum, der die Körper, die Krankheiten, die Symptome, die Leben und die Tode zu individualisieren sucht“. Zeilen von prognostischer Schärfe.

Die autoritäre Fratze der Aufklärung

Foucaults Schlüsselwerk erschien 1975 – ein kaum verhüllter Fundamentalangriff auf die bürgerliche Gesellschaft, auf ihre kulturellen Errungenschaften und Wertevorstellungen. Aufklärung, Liberalismus, Wissenschaftlichkeit und Rationalität, so der französische Starphilosoph, entlarvten im historischen Prozess ihren autoritären Charakter. Alles, was nach ihren Maßstäben fremd, krank, anders oder auch nur unzivilisiert sei, werde umerzogen, weggesperrt und isoliert. So entstünden ab dem 18. Jahrhundert Orte der Dressur, der Konditionierung und Normierung – Irrenanstalten, Gefängnisse, Schulen, Krankenhäuser und Fabriken. Die Aufklärung zeige ihre autoritäre Fratze.

Wie schon „Wahnsinn und Gesellschaft“ und „Die Geburt der Klinik“ ist „Überwachen und Strafen“ ein Werk des antiautoritären Zeitgeistes der 60er und 70er Jahre. Radikaler als jeder andere wendet sich Foucault hier nicht nur gegen traditionelle Autoritäten oder konservative Institutionen, sondern macht Repressionsmechanismen in der Tiefe der liberalen Gesellschaft und ihrem aufgeklärten Denken aus. Mehr noch: Die Aufklärung selbst erweist sich für ihn als totalitär, indem sie die Welt in gut und schlecht, gesund und krank, vernünftig und wahnsinnig unterteilt.

Ansteckung oder Bestrafung

Die Maßnahmen der städtischen Behörden während der großen Pestwellen sind für Foucault daher nicht nur einmalige Notverordnungen, sondern setzen zugleich ein neues Paradigma zur Normalisierung von Zwangsmaßnahmen: „Schließung der Stadt und des dazugehörigen Territoriums; (…) Aufteilung der Stadt in verschiedene Viertel (…). Müssen Leute unbedingt aus dem Haus gehen, so geschieht es nach einem Turnus, damit jedes Zusammentreffen vermieden wird (…). Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. Die Überwachung ist lückenlos.“

Für Foucault werden die neuzeitlichen Pandemien so zu einer „Probe auf die ideale Ausübung der Disziplinierungsmacht“ und die Pest zum Bild „für alle Verwirrungen und Unordnungen“, denen die disziplinierende Gesellschaft entgegentritt.

Foucaults Analyse ist schief

Keine Frage: Foucaults Analyse ist schief. Notmaßnahmen zur Eindämmung von Krankheit oder Kriminalität pauschal als Normierungsmaßnahmen zu verunglimpfen, die einer modernen Disziplinargesellschaft den Weg bereiteten, ist Unfug. Vor allem aber redet Foucault damit jedem Irrationalismus und Irrsinn das Wort.

Dennoch macht Foucault auf etwas Wichtiges aufmerksam: Auch vermeintlichen Sachzwängen wohnt immer ein Moment der Ideologie inne. Und Zwangsmaßnahmen im Namen der Vernunft und wissenschaftlicher Alternativlosigkeit können – in diesem Sinne ist Foucault zuzustimmen – eine politische Denkkultur nachhaltig prägen. Denn was zur Eindämmung einer Pandemie funktioniert, funktioniert auch zur Durchsetzung gesunder Ernährung oder zur Rettung des Klimas. In einer Demokratie jedoch darf die Disziplinierungsmaßnahme niemals zum Paradigma politischen Handelns werden.

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