Meinungsmanipulation - Heißer Herbst bei den Öffentlich-Rechtlichen

Während die ehemalige RBB-Intendantin Patricia Schlesinger mit einem Meisterstück in Schuldumkehr glänzt, liefern die ARD-Faktenfinder Fakten, die ideologisch gefärbt sind, sogar beim Wetter.

Alles wie immer oder Panikmache? Wetterkarte der Tagesschau am 29. Juli 2022 / ARD
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Das Schuldbekenntnis ist aus der Mode geraten. Dabei ist die Bereitschaft, über die eigenen Fehler Rechenschaft abzulegen, ein wichtiger Maßstab für den Grad der Zivilisation. Ein Mensch, der keine Fehler zugibt, kann nichts lernen. Und in einer Gesellschaft, in der niemand zu seinen Fehlern steht, herrschen Täuschung und Argwohn.

Etwas wehmütig blickt man auf die Bereitschaft von Politikern vergangener Tage, die für Fehler auch die Verantwortung übernommen haben und zurückgetreten sind. In der deutschen Geschichte ist hier vor allem der Rücktritt von Willy Brandt in Erinnerung. Er übernahm damit die Verantwortung, dass ein DDR-Spion sich bis in sein nächstes Umfeld vorarbeiten konnte. Ob Gerhard Schröder oder Angela Merkel in einem vergleichbaren Fall wohl ihren Rücktritt angeboten hätten?

Heute herrscht die Logik, jede Schuld zu leugnen und selbst im Fall, dass ein Vergehen durch Beweise belegt ist, alles dafür zu tun, die eigenen Fehler kleinzureden. Ein besonders anschauliches Beispiel lieferte jüngst die abgesetzte RBB-Intendantin Patricia Schlesinger. In einem sehr langen Interview in der Zeit reagierte sie mit der bewährten Taktik. Sie gibt Fehler nur in den Bereichen zu, wo Fehler keine juristischen Folgen haben. So gestand sie den Fehler ein, ihre Mitarbeiter überfordert zu haben. Sie sei zu schnell gewesen und sie habe nicht bemerkt, dass nicht alle in ihrem Tempo mitmachen konnten. Ein solcher „Fehler“ ist ein schlecht kaschiertes Selbstlob.

Identitätspolitische Trumpfkarte

In allen Fragen, die den Missbrauch der Gebühren betreffen, streitet sie hingegen jede Schuld ab. Ihre Bonuszahlungen waren juristisch erlaubt, die Renovierung ihres Büros dringend nötig und die Einladungen in ihre Wohnung, für deren Bewirtungskosten der RBB aufkommen musste, die günstigere Lösung als ein Restaurantbesuch. Die Ex-Intendantin beherrscht die Schubumkehr der Schuld perfekt. Alle Beschuldigungen sind Teil einer Kampagne der Springer-Presse gegen den ÖRR und die Folge eines Hochverrats aus ihrem eigenen Umfeld. Am Ende greift sie zur identitätspolitischen Trumpfkarte. Sie lässt durchblicken, dass sie wohl nur, weil sie eine Frau ist, einer solchen Kampagne zum Opfer gefallen ist.

Das Entschuldungs-Quartett aus Leugnen, Zugeben von „Fehlern“, die keine sind, Diffamierung der Angriffe als böse Kampagne und Betonen des Opferstatus bildet eine äußerst erfolgreiche Taktik. Diese Selbstverteidigung beherrscht Patricia Schlesinger so perfekt, dass die Interviewer der Zeit sie nicht mehr durchbrechen konnten oder es vielleicht auch gar nicht wollten. Zumindest legt der eher sanfte Ton der Fragen nahe, dass man die Ex-Intendantin nicht weiter in Bedrängnis bringen, sondern ihr ein Forum zur Selbstentschuldung bieten wollte.

Rasant schwindende Akzeptanz des ÖRR

Ob die Zeit damit der rasant schwindenden Akzeptanz des ÖRR einen Dienst erwiesen hat, ist jedoch fraglich. Es lohnt sich also, einen anders gelagerten Fall von öffentlich-rechtlicher Selbstentschuldung zu betrachten, um die Tragweite der Glaubwürdigkeitskrise des ÖRR zu ermessen.

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Seit einiger Zeit geistern Bilder durch die sozialen Netzwerke, in denen zwei Wetterkarten gegenübergestellt werden. Auf diesen Bildern ist unschwer zu erkennen, dass die gleichen Temperaturen, die vor wenigen Jahren mit gelb-grüner Farbe unterlegt waren, heute im mahnenden Signalrot gezeigt werden. Diese schlichte Gegenüberstellung hat den Faktenfinder der Tagesschau-Redaktion auf den Plan gerufen. Der Text, den die Faktenfinder dazu geschrieben haben, lohnt eine Lektüre. Denn hier findet sich exemplarisch die gesamte Taktik der Selbstentschuldung und der dadurch provozierten Glaubwürdigkeitskrise.

Nicht Wetter von morgen, sondern Kommentar zum Klimawandel

Die Faktenfinder meinten, mit ihrem Text den Vorwurf, der durch die Gegenüberstellung der beiden Wetterkarten gemacht wird, entkräften zu können. Der Vorwurf lautet, die Wetterkarte würde dazu gebraucht, um durch eine drastische Farbgebung der Temperaturen vor dem Klimawandel zu warnen. Der Wetterbericht ist durch die vermehrten roten Farben also nicht nur eine Information über das Wetter von Morgen, sondern er wird zu einem Kommentar zum Klimawandel.

Die Faktenfinder der Tagesschau wollen diesen Vorwurf nun widerlegen, indem sie zwei Fakten aufführen. Zum einen sei die Veränderung der Farben einem neuen Design der Wetterkarte geschuldet. Und zum anderen hätte es eine Angleichung der Wetterkarten von Tagesschau und Tagesthemen gegeben. Der Fehler bei dem Vergleichsbild liegt darin, dass hier die Wetterkarten von Tagesschau und Tagesthemen gegenübergestellt werden. Diese Gegenüberstellung ist aber nicht aussagekräftig, da es in früheren Jahren dort ein unterschiedliches Design gab.

Bild 1: Wetterkarten von 2009 und 2019 im Vergleich

In diesem Punkt ist ihre Aussage richtig. (s. Bild 1) Die Wetterkarten waren unterschiedlich und sind angeglichen worden. Doch was die Faktenfinder in ihrer Erklärung verschweigen, ist, dass auch die Wetterkarte der Tagesschau eine Veränderung in den Farben erfahren hat. Zwei zufällige Bilder – eines von der Wetterkarte am 30. Juli 2002 (s. Bild 2) und eines vom 29. Juli 2022 (s. Bild 3) – zeigen, dass die gleichen Temperaturen in sehr unterschiedlichen Farben dargestellt werden. Das Wetter 2002 erscheint wie ein normaler Sonnentag im Juli. Das vergleichbare Wetter 2022 erscheint wie der nahende Hitzetod.

Bild 2: Wetterkarte von 2002

Das Argument der Faktenfinder, dass Tagesschau und Tagesthemen verglichen würden, trifft hier also nicht zu, denn es sind beides Bilder der Tagesschau. So bleibt allein das Argument übrig, dass es eine Veränderung des Designs gegeben habe. Aber dieses Argument entkräftet gerade nicht die Beobachtung, dass es eine Veränderung der Farben gegeben hat. Denn genau diese Veränderung des Designs ist die Beobachtung, die jeder Fernsehzuschauer selbst machen kann. Es gab eine Veränderung, und die hatte zur Folge, dass Temperaturen, die vormals nicht rot dargestellt wurden, nun rot dargestellt werden.

Meine Frage an die Faktenfinder ist einfach: Wie kann es sein, dass man sich den Anstrich der Seriosität gibt und wissentlich die Halbwahrheit schreibt? Denn die Erklärung, dass die Wetterkarte der Tagesthemen auf die Temperaturkarte der Tagesschau umgestellt wurde, ist nur die halbe Wahrheit. Sie entkräftet nicht die Beobachtung, dass auch auf der Wetterkarte der Tagesschau die gleichen Temperaturen vor zwanzig Jahren mit weniger warnenden Farben unterlegt wurden als heute.

Der Faktenfinder-Hinweis, dass es für die Temperaturfarben vier verschiedene Skalen je nach Jahreszeit gibt, erklärt ebenfalls nichts im Kontext dieser Veränderung. Denn es werden ja die Temperaturen innerhalb der gleichen Jahreszeit verglichen. Warum also gibt sich der Faktenfinder viel Mühe, um mit der halben Wahrheit einen Vorwurf zu entkräften, der damit aber nicht entkräftet werden kann? Es ist schwer, hierfür eine Antwort zu finden, die nicht weiter die Glaubwürdigkeitskrise des ÖRR vertieft.

Bild 3: Wetterkarte von 2022

Denn den Aufwand, den der Faktenfinder betreibt, kann man nur als Nebelbombe verstehen, die davon ablenken soll, dass das Farbdesign der Wetterkarte eine deutliche Veränderung erfahren hat. Und diese Veränderung besteht darin, das warnende Rot schon bei niedrigeren Temperaturen zu verwenden. Die Absicht einer solchen Veränderung scheint offensichtlich. Es soll aus jedem Sommertag eine Hitzekatastrophe gemacht werden.

Diese Tendenz zur Dramatisierung ist inzwischen allen Nachrichtensendungen eigen. Nur der Ausnahmezustand ist eine wertvolle Nachricht. So erfanden einst Wetterforscher in den USA die „gefühlte“ Temperatur. So war es in New York dann keine Seltenheit, dass es im Winter als gefühlte Temperatur (umgerechnet in Celsius) zwanzig Grad minus war. Die reale Temperatur lag hingegen bei etwa fünf Grad minus. Aber fünf Grad minus wären keine breaking news gewesen.

Im Unterschied zur gefühlten Temperatur liegt die Besonderheit der neuen Temperaturfarben der Tagesschau nicht in der Absicht, eine möglichst hohe Einschaltquote für den Wetterbericht zu bekommen. Die Absicht liegt eher darin, aus jeder Wettervorhersage einen Kommentar zum Klimawandel zu machen.

Man mag das Ansinnen politisch richtig finden oder nicht. Der entscheidende Punkt liegt auf einer anderen Ebene. Ein eingeschmuggelter Kommentar zerstört das Vertrauen in die Information. Und wenn dann noch eine Instanz wie der Faktenfinder eingeschaltet wird, um eine offensichtliche Veränderung durch viele „Fakten“ zu leugnen, wird das Vertrauen weiter zerstört. Man möchte die Faktenfinder an eine grundlegende Bedingung von Öffentlichkeit erinnern. Wer Fakten gebraucht, um eine politische Meinung damit unangreifbar zu machen, der macht Politik, und er instrumentalisiert die Fakten. Die Instrumentalisierung führt dazu, dass die Fakten zu einer Verfügungsmasse im Kampf der politischen Meinungen werden.

Hippokratischer Eid für Faktenfinder

Wenn es einen hippokratischen Eid gäbe, den die Faktenfinder schwören müssten, dann wäre es der, Fakten niemals in Rücksicht auf politische Meinungen zu verwenden oder zu verschweigen. Den strategischen Umgang mit der Wahrheit sollten sie den Politikern überlassen. Wenn die Faktenfinder selbst Fakten, Meinung und Weltanschauung vermischen, berauben sie die Öffentlichkeit der Möglichkeit, noch zwischen wahren und politischen Aussagen über die Welt unterscheiden zu können. Wenn die Faktenfinder das Gegenteil des Faktenfindens machen, vergrößern sie die Glaubwürdigkeitskrise, die sie mit ihrer Arbeit vermeintlich bekämpfen wollen.

Solange sich entlassene Intendantinnen keiner Schuld bewusst sind und solange Faktenfinder ihre Fakten so zurechtdrehen, um ihre politische Meinung als objektive Wahrheit hinzustellen, wird kein neues Vertrauen entstehen. Dass die Journalisten des RBB selbstständig den Umtrieben ihrer Intendantin auf die Schliche gekommen sind, lässt hingegen hoffen. Dass die Interviewer der Zeit diese Journalisten als „Maulwurf“ bezeichnen, lässt wiederum an der Neutralität der Fragesteller zweifeln.

Vertrauen Sie Ihrer Alltagsintelligenz!

Alle diese Beispiele zeigen, wie tendenziös und interessengeleitet inzwischen mit der Grenze von Meinung und Fakt, von Wahrheit und Halbwahrheit umgegangen wird. Wer im Journalismus einen anderen Weg sucht als den von Fake-News und Desinformation, sollte wieder mehr seiner Alltagsintelligenz vertrauen. Denn die Leser und Zuschauer haben eine große Portion davon und sie sind not amused, wenn sie in ihrer Würde als mündige Bürger beleidigt werden.

Es ist nicht so schwer, zutreffende von manipulativen Worten zu unterscheiden: Der DDR-Spion Günter Guillaume war ein Maulwurf im Kanzleramt, aber die Mitarbeiter, die Selbstbereicherung im Intendanz Büro des RBB aufgedeckt haben, sind keine Maulwürfe, sondern Journalisten, die ihre Arbeit machen. Und die sommerliche Temperatur von 27 Grad hatte auf der Wetterkarte von 2002 ein sanftes Gelb und 2022 hat sie ein warnendes Rot. Das alles ist nicht schwer zu erkennen. Wer es dennoch durcheinanderbringen will, muss wissen, ob er in einer Welt leben möchte, in der Fakten mal gelten sollen und mal nicht, je nachdem wie es der eigenen Meinung gerade am besten passt.

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