Literaturnobelpreis für Jon Fosse - So unabschließbar das Allzumenschliche

Mit Jon Fosse erhält den diesjährigen Literaturnobelpreis eine Stimme, die dem schrillen Diskursgetöse unserer Tage die leisen Töne des privaten Scheiterns entgegenstellt.

Einzigartiger Ton: Jon Fosse / dpa
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Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Es hätte ein lautes Statement sein können und wurde schließlich doch eine Liebeserklärung. In diesem Jahr hat sich das schwedische Nobelpreiskomitee nicht vornehmlich für einen politischen Autor entschieden. Es wählte keinen, der die gesellschaftlich virulenten Diskurse von der einen oder der anderen Seite flankiert. Vielmehr prämierte es mit dem Werk des Norwegers Jon Fosse eine Literatur, die den Menschen in seiner Sanftheit und Rauheit, in seinem Bemühen um Sinn und seinem Ausgeliefertsein an das Schicksal ins Zentrum stellt. Sein melodiöses, einnehmendes Schreiben nimmt das Private in den Blick, also jenen Raum, der vielen in einer Welt des Lärms und der Dauerkrisen als letztes Refugium dient.

Liest sich die Entscheidung somit als Bekenntnis zu einem Neo-Biedermeiertum? Diese Annahme griffe zu kurz, zumal die Protagonisten im Œuvre des 1959 in Haugesund geborenen und heute mitunter in Oslo wohnenden Autors keineswegs in paradiesischen Zuständen leben. Mit psychologischem Feingespür zeigt er sie zumeist vor Scheidewegen und in prägnanten Grenzsituationen. Seine Erzählung „Morgen und Abend“ (2000) schildert beispielsweise kurz vor dem Tod eines Fischers noch einmal dessen bewegtes und hartes Leben, sein Theaterstück „Die Nacht singt ihre Lieder“ (1997) beschreibt die überstürzte Trennung zweier Menschen, die ein erneutes Zueinanderfinden auf fatalst denkbare Weise verpassen. Was sich in diesen kammerspielartigen Interieurs offenbart, ist ein für die skandinavische Textlandschaft durchaus typischer Naturalismus von der Tragweite eines Henrik Ibsen.

Weltbekannt war er immerhin schon vorher

Mit ihm, diesem auch hierzulande kanonisierten Autor, verbindet Fosse übrigens ebenso das Talent des Dramatikers. Mit Ausnahme vom Tausendsassa Peter Handke kam diese Großgattung in den vergangenen Dekaden kaum zum Zug. Neben Prosaschriftstellern hatten stattdessen (und nicht minder erfreulich) Lyriker einen guten Stand. Man denke nur an Louise Glück, Tomas Tranströmer oder, wenn man ihn denn überhaupt als Poeten bezeichnen mag, Bob Dylan. Wie schon bei diesen Prämierten scheinen das Komitee weniger die Themen und Sujets als vielmehr der einzigartige Ton des Norwegers zu bewegen. Die Schwermut, die wolkenhaft über zahlreichen seiner Figuren liegt – allen voran über dem Maler Lars, der in dem Roman „Melancholie“ (1996) unter der tabuisierten Liebe zu einem fünfzehnjähriges Mädchen leidet –, sie berührt die Leser und bildet durchaus ein Passepartout für den Ennui unserer Tage.

 

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Dass sich Fosse und seine oft am Dasein scheiternden Figuren allerdings nicht mit dem bloßen Status quo abfinden, belegt übrigens sein serielles Schreiben. Mit „Der andere Name. Heptalogie I–II“ sowie „Ich ist ein anderer. Heptalogie III–V“ übt er sich im prozesshaften Weiterfabulieren, einem Verfahren, das auch die Unabschließbarkeit der Identitätsfindung dokumentiert. So trifft etwa in ersterem Text wiederum ein Malern auf sein versoffenes, wenig schillerndes Alter Ego, wodurch ein spannungsreicher Rollenkonflikt Faust’scher Ausprägung entfaltet wird. 

Ob sich der Autor selbst in all seinen Künstlern, mitsamt ihrer Blockaden und ihrer unauslotbaren Sehnsucht nach Licht, spiegelt? Möglich wär’s. Nur ist für ihn spätestens jetzt ein anderer Weg vorbestimmt, der des Nobelpreisträgers. Weltbekannt war er immerhin schon vorher. Erhalten hat die wichtigste Literaturauszeichnung in diesem Jahr daher gewiss kein Außenseiter. Aber ohne Zweifel eine stilistische Ausnahmeerscheinung.

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