Selbstermächtigung, Empörung, Sanktionierung - Die Missionare des Guten

Moral und Dekonstruktion altbewährter Muster liegen im Trend. Doch oftmals schießen Gender-Befürworter und Klimaaktivisten über das eigentliche Ziel hinaus. Überlegene Moral um der eigenen Überlegenheit willen beschwört den Kampf, nicht die Verständigung.

Vermummte Klimaaktivisten während Protesten gegen den Kohleabbau in Lützerath / dpa
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Autoreninfo

Ewald Kiel ist Ordinarius für Schulpädagogik an der LMU München und war Direktor des Departments für Pädagogik und Rehabilitation sowie Mitglied des Universitätssenats. Zur Zeit ist er Dekan der Fak. 11 der LMU.

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In der gegenwärtigen Welt gehört es zum guten Ton, eine dezidierte Moral zu haben, entsprechende Moralvorstellungen zu artikulieren, ein Handeln gemäß diesen Vorstellungen einzufordern und wachsam zu sein, wenn andere Menschen das nicht tun. In diesem Fall gilt es, Sanktionen auszuüben oder sie wenigstens einzufordern, wenn andere die eigenen moralischen Überzeugungen nicht teilen und, schlimmer noch, daher auch nicht so handeln, wie man es selbst für moralisch angemessen hält. Mit anderen Worten: Moral ist immer und überall! Wir haben einen Moralüberschuss in der Gesellschaft, gepaart mit Verletzlichkeit und Empörungswillen.

Triggerwarnung und Verletztheit an der Hochschule

Dieser Überschuss äußert sich auf allen Ebenen der Gesellschaft. In meinem Arbeitsbereich, der Universität, wollten Studierende der Literaturwissenschaft vor einigen Jahren in Cambridge davor gewarnt werden, wenn sie „Titus Andronicus“ von Shakespeare lesen. Dort gehe es um unglückliche Liebe und sexuelle Gewalt. Dies könne empfindsame Gemüter verletzen, ihre Vorstellung einer gewaltlosen Gesellschaft oder konsensueller Liebe zerstören etc.

Es gibt ein Fachwort für solche Warnungen: „Trigger Warnings“ oder „Content Warnings“. Meine Trigger-Warnung an alle Studierenden der Literaturwissenschaft ist genereller: Große Teile der Weltliteratur beschäftigen sich mit unglücklicher Liebe, Sex, Gewalt, Tod und Untergang. Dies gehört einfach zum Fach. Die Auseinandersetzung mit anderen Vorstellungen als den eigenen, gerade wenn man sie nur liest, kann durchaus bildsam sein.

 

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Ein anderes aktuelles Beispiel betrifft eine studierende Person, die mich nach einer komplexen Vorlesungsstunde anspricht. Sie hätte mir viele fachliche Fragen stellen können. Mir jedoch teilt die Person mit, sie (er, es) sei verletzt, weil ich von Lehrerinnen und Lehrern spreche, sie (er, es) sei aber nonbi (non-bi?) genderfluid, und ich hätte sie (ihn, es) nicht adressiert. Das störe den kognitiven Verarbeitungsprozess, und Störungen hätten immer Vorrang.

Das „närrisches Maskulinum“ 

Da ich in Bayern arbeite und mein Ministerpräsident Markus Söder gegen das Gendern ist, wage ich es, meinen Sprachgebrauch dennoch beizubehalten. Ich tue dies, obwohl ich weiß, dass in Großbritannien die Kollegin Kathleen Stock ihr Amt verließ, weil sie zu sagen gewagt hatte, ein biologisches Geschlecht sei unveränderbar. Davor fürchte ich mich nicht, würde ich jedoch in meinen Publikationen das generische Maskulinum „Lehrer“ verwenden, hätte ich in vielen Publikationsorganen Schwierigkeiten, meine Forschungsergebnisse unter die Menschen zu bringen. Es gibt meines Wissens nur ein Publikationsorgan der Erziehungswissenschaften in Deutschland, wo man das generische Maskulinum nicht nur verwenden darf, sondern auch soll.

An dieser Stelle muss ich einfügen, dass das von mir verwendete Diktierprogramm den Ausdruck „generisches Maskulinum“ nicht kennt und mir stattdessen den Ausdruck „närrisches Maskulinum“ auf den Bildschirm zaubert. Ich frage mich vor dem Hintergrund der Berichterstattung zur künstlichen Intelligenz ChatGPT und ihren vielfältigen Möglichkeiten, ob das Diktierprogramm fähig ist, feine Ironie darzubieten oder ob es von woken Programmierpersonen erstellt wurde, die damit grundsätzlich verhindern wollen, dass das generische Maskulinum eine Überlebenschance hat – und es daher lieber als Narrentum ad absurdum führen. Verschwörungstheoretisch würde das Sinn machen!

Moralüberschuss im Alltag

Nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch im Alltag ist man vor einem Moralüberschuss nicht gefeit. Klimaaktivisten kleben sich auf die Straße, behindern den Verkehr und verhindern die freie Durchfahrt von Rettungsfahrzeugen, oder sie lassen Luft aus SUVs, um die SUV-besitzenden Personen daran zu erinnern, dass sie Klimaschädlinge sind. Sicherlich wird dies viele zur Buße und Umkehr ihres klimaschädlichen Verhaltens bewegen – ich sehe vor meinen Augen viele reuige SUV-Fahrer, die sich aufgrund der Attacken Kleinwagen zulegen!

Dies alles fügt sich in das oben genannte Schema: Die eigenen moralischen Vorstellungen einer klimagerechten Welt sind von so überragender Bedeutung, dass man diejenigen, die diese Vorstellung nicht teilen, aus eigener Ermächtigung sanktionieren muss, um sie zur Annahme der eigenen Vorstellung zu bewegen. Selbstverständlich zeichnen sich die Klimaaktivisten dabei durch besondere Wachsamkeit aus – die allerdings nur ihre moralischen Vorstellungen betrifft.

Die Regeln eines Rechtsstaates, demokratische Spielregeln, eine Gefährdung anderer oder die Gefährdung von Kunstwerken, wie etwa bei den Anschlägen auf Werke von Leonardo da Vinci oder van Gogh, spielen dann nur eine untergeordnete Rolle. Was zählen die Ideale anderer, wenn man selbst so wahnsinnig betroffen ist?

Kunst muss sich in diesem Kontext nicht nur vor Klimaaktivisten fürchten. In der gegenwärtigen Ausstellung zum „Blauen Reiter“ im Lehnbachhaus in München haben es vor mehr als 100 Jahren Künstler gewagt, in einer Bildunterschrift das Wort „Indianer“ zu verwenden, welches jetzt nur als „I...“ erscheint. Aus der Perspektive einer postkolonialen Moral ist dies absolut unerlässlich. Die ganze Ausstellung tut sich in ihren Kommentierungen schwer damit, dass einerseits der „Blaue Reiter“ eine herausragende Bewegung in der modernen Kunst war, Kandinsky, Munter, Macke und viele andere den Maßstäben einer postkolonialen Perspektive jedoch eher nicht genügen. Viele weitere Beispiele aus allen Bereichen des Lebens könnten hier angeführt werden.

Postmoderne als Erklärung?

Als Sozialwissenschaftler frage ich mich: Was passiert da gerade und aus welchen Gründen? Ein erster Gedanke hierzu kommt aus der Soziologie und Philosophie. In beiden Fächern gibt es Vertreterinnen und Vertreter, die die gegenwärtige Gesellschaft als postmodern bezeichnen. Diese postmoderne Gesellschaft wird in den Worten des Philosophen Zygmunt Bauman als fluid, sich dauernd verändernd betrachtet. Das alte „Gehorsams-Verzichts-Modell“ (Gensicke) hat ausgedient, Religion als einigende moralische Instanz hat ebenfalls nur noch eine untergeordnete Bedeutung. Darüber hinaus, so Lyotard, fehlen die großen Erzählungen.

Einer der zentralen Begriffe in diesem Kontext, der die Welt, wie wir sie kennen, entzaubern soll, ist der Begriff der Dekonstruktion – d.h. grundsätzlich skeptisch gegenüber althergebrachten Vorstellungen zu sein und diese daraufhin zu überprüfen, ob nicht alles ganz anders sein könnte, es zum Beispiel mehr als zwei Geschlechter gibt, man Mobilität nicht anders regeln muss etc. In dieser Welt pluraler, oft divergierender Meinungen kommt es zu einem Kampf um die Hegemonie der eigenen Wahrheit, die keine Wahrheit unter vielen sein soll. Sie soll zur großen Erzählung werden, die alle beeinflusst. Viele möchten ihre Vorstellungen durchsetzen, und Moral dient dabei als eine Art Letztbegründung, die andere Glaubenssysteme ersetzt.

Abweichler sind Häretiker

Obwohl es nicht um Religion geht, bekommen die Diskurse einen quasi religiösen Charakter. Wenn christliche Kirchen die Säkularisierung der Gesellschaft betrachten, dann erscheint diese Gesellschaft als ein unbestellter Acker, der von Unkraut überwuchert wird. Selbstverständlich muss das Unkraut vernichtet werden, damit die wertvolle christliche Saat nicht verloren geht. Man nennt das Mission.

Auch die oben angeführten Beispiele, deren Liste sich fast beliebig erweitern ließe, haben diesen Missionsgedanken. Es geht darum, Menschen zu machen, sie so zu formen, dass sie dem eigenen Ebenbild der Menschlichkeit entsprechen. Abweichler sind Häretiker, und gegen Häretiker kann man mit allen Mitteln vorgehen. Mit dem Römerbrief (Kap. 12, Vers 21) könnte man hier jedoch auch anführen: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Mit anderen Worten: Nicht Sanktionen gegen Kunst, Autofahrer und unliebsame Hochschullehrende helfen, sondern selbst das Gute vorzuleben.

Der verletzungsbereite Mensch

Moralität hat in diesem Kontext jedoch nicht nur eine hegemoniale Perspektive, sondern auch die Perspektive des Opfers, wie die obigen Beispiele unter anderem aufzeigen. Der verletzungsbereite Mensch, dessen moralische Bedürfnisse nicht anerkannt werden, inszeniert sich als Minderheit, für die Sorge getragen werden muss, die man nicht vernachlässigen darf und die, aufgrund ihrer Verletzlichkeit und tatsächlichen Verletztheit, das Recht hat, Regeln zu übertreten, andere zu schädigen, um das Gute zu erreichen.

Die Gesamtinszenierung als Hegemon und Opfer ist nicht ohne Geschick und hat einen besonderen Charme. Man ist Meinungsführer und Opfer zugleich. Wer will es da wagen, zu widersprechen? Wenn man dem Hegemon widerspricht, muss man mit Sanktionen rechnen, wenn man das verletzliche Opfer nicht als Opfer sieht, ist man kalt, herzlos, dumm oder alles zugleich. Bei einem Widerspruch gibt es keine Win-Win-Situation sondern nur eine Loose-Win-Situation. Wer widerspricht, der verliert.

Nichterwachsensein der Erwachsenen

Schade, dass die hier geschilderte Inszenierung so sehr von Rationalität entlastet. Denn Skepsis und Dekonstruktion sind durchaus etwas Positives. Sie könnten das Tor zu etwas Neuem sein. Ein rationaler Dialog, der sich im Sinne von Habermas bemüht, herrschaftsfrei zu sein, könnte zu interessanten Problemlösungen führen. Selbstermächtigung, Empörung und Sanktionierung anderer, die nicht meiner Vorstellung von Menschlichkeit entsprechen, gehören nicht zu einem solchen herrschaftsfreien Dialog. Sie führen zu argumentativen Verhärtungen und beschwören den Kampf, nicht die Verständigung.

Interessant ist hier ein Blick auf die Moraltheorie im Kontext der Entwicklungspsychologie. Sie betont die Anerkennung der Perspektive der anderen. In der sogenannten Theory of Mind hat man einen wichtigen Entwicklungsschritt gemacht, wenn man sich in die Vorstellungswelt und Gefühlswelt anderer hineinversetzen kann und dies gar in die eigenen Handlungsplanungen mit einbezieht. Dieser Einbezug der Vorstellungswelt der Anderen ist besonders wichtig – und besonders komplex –, wenn man andere Menschen von den eigenen moralischen Standpunkten überzeugen will. Da ist es dann im Zweifelsfall eben doch einfacher, einfach die Luft aus ein paar Reifen zu lassen.

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