Ein Ministerpräsident als Volkspädagoge - Das seltsame Video des Herrn Kretschmann

Auf Youtube erklärt der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) den Bürgern, wie sie Energie sparen sollen. Der Versuch ging allerdings nach hinten los: Die sogenannte Cleverländ-Kampagne weckt Erinnerungen an vordemokratische Zeiten.

Energiespartipps von und mit dem Schwaben Winfried Kretschmann / Screenshot
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Autoreninfo

Hubertus Knabe arbeitet als Historiker an der Universität Würzburg, wo er über Mordanschläge des DDR-Staatssicherheitsdienstes forscht. Von 2000 bis 2018 war er wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen.

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Seit einigen Tagen kann man sich auf Youtube ansehen, wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor einem Heizkörper kniet und am Thermostat hantiert. In einem Video fordert der Grünen-Politiker die Zuschauer auf: „Einfach vorm ins Bett gehen den Thermostat runterdrehen.“ Zur Begründung erklärt er mit wichtiger Miene, eine Absenkung der Heiztemperatur um ein Grad würde den Energieverbrauch um sechs Prozent reduzieren. Und damit das auch jeder versteht, hält er zuerst seinen Daumen in die Luft und anschließend sechs gestreckte Finger.

Das Video ist „Tipp 01“ einer neuen Kampagne mit dem Titel: „Cleverland – Zusammen Energie sparen". Kretschmann fordert darin die Bürger dazu auf, wegen des Krieges in der Ukraine weniger Energie zu verbrauchen. Bereits Mitte August hatte der baden-württembergische Regierungschef erklärt, man müsse nicht dauernd duschen, denn auch der Waschlappen sei eine „brauchbare Erfindung“. Zu der jetzt gestarteten Kampagne, die 200.000 bis 300.000 Euro kosten soll, gehören neben mehreren Videos auch ein „Energie-Sparbüchle“ und eine sechswöchige Tour durch Baden-Württemberg. 

Schon mit Waschlappen für Spott gesorgt

Bereits mit seinem Waschlappen-Plädoyer hatte Kretschmann für viel Spott gesorgt. Das neue Video hat bei Youtube nun noch sehr viel mehr hämische Kommentare ausgelöst. „Jedes Mal, wenn man denkt, dass es nicht peinlicher werden kann, schafft ihr es, uns vom Gegenteil zu überzeugen!,“ schreibt zum Beispiel ein User. Und ein anderer meint: „Wenn die herrschende, wohlgenährte und vom Volk losgelöste Klasse Praxistipps gibt, ist der ungewollte Humorfaktor wirklich das einzig Positive.“

Tatsächlich wirkt das Kretschmann-Video wie eine unfreiwillige Comedy-Show. Sogar er selbst verzieht zuweilen seinen Mund zu einem Grinsen, als ob er sich in seiner Rolle ziemlich albern vorkommt. Doch jenseits des Spaßfaktors steht das seltsame Filmchen für eine durchaus besorgniserregende Entwicklung: Immer öfter und ungehemmter mischen sich Politiker in die private Lebensführung der Bürger ein. Was in der Corona-Pandemie mit restriktiven Vorschriften und flächendeckenden Plakatkampagnen begann,  droht jetzt in der Energiepolitik seine Fortsetzung zu finden.

Rückkehr in vordemokratische Epochen

Die Politik knüpft damit an vordemokratische Epochen an, als sich der Staat noch als Vormund der Bürger verstand, insbesondere in Kriegszeiten. Schon während des Ersten Weltkriegs waren nämlich Kampagnen für die Einsparung von Energie und Rohstoffen ein übliches Mittel. In der Habsburg-Monarchie wurde zum Beispiel wegen der Gas- und Stromknappheit die Straßenbeleuchtung reduziert. Leuchtreklamen und die Außenbeleuchtung von Hotels, Cafés und Theatern waren nicht mehr zugelassen, elektrische Lampen mussten auf maximal 60 Watt reduziert werden. Es war verboten, vor dem 15. Oktober zu heizen.

Auch die Nationalsozialisten forderten im Zweiten Weltkrieg zum Energiesparen auf. Eine eigens gegründete Propagandaabteilung versuchte mit einer jahrelangen Kampagne gegen den „Kohlenklau“ den Energieverbrauch zu senken. Auf Plakaten konnte man damals lesen: „Der Bergmann mahnt Euch an die Pflicht: Spart mit Kraftstrom, Gas und Licht / Spart Kohle!“

 

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Seit 1942 erschienen in verschiedenen Zeitungen ganze Serien mit kurzen Texten, in denen die Energieverschwendung als finsterer Bösewicht dargestellt wurde. „Überall, wo wertvolle Kohle, Strom und Gas vergeudet werden, hat Kohlenklau seine Hände im Spiel!“, hieß es zum Auftakt der Kampagne "Kampf dem Kohlenklau". Und weiter: „Er nützt unsere kleinste Gedankenlosigkeit und Nachlässigkeit für sein kriegsverbrecherisches Treiben aus.“

Parallelen zur Gegenwart

Liest man diese Texte, ist man verblüfft über manche Parallelen zur Gegenwart: „Es zieht kalt ins warme Zimmer. Im leeren Zimmer brennt Licht. Das Radio spielt ohne Zuhörer. Der falsch geheizte Ofen wärmt schlecht“, wurde zum Beispiel angeprangert. Und auch die Appelle an das Gemeinschaftsgefühl der Bürger klangen fast so wie heute: „Du und ich und wir alle tun uns jetzt zusammen, und es wäre doch gelacht, wenn wir den Burschen nichts aufs Kreuz legen.“ 

Die Kampagne bestand nicht nur aus den unterhaltsam aufgemachten Zeitungsartikeln, sondern auch aus Plakaten, Filmen und Spielen. Das Brettspiel "Jagd auf Kohlenklau" wurde zum Beispiel in einer Auflage von vier Millionen Exemplaren produziert und kostenlos an kinderreiche Haushalte versandt. In der Anleitung hieß es: „Der ‚Kohlenklau‘ ist ein Bösewicht, der dem deutschen Volke schaden will. Er verschafft sich in jedem Haushalt Zutritt und versucht Kohle, das heißt Wärme, Licht und Kraftstrom und auch Gas zu stehlen, also Dinge, die nicht nur der Haushalt, sondern auch unsere Rüstung dringend benötigt. Er geht dabei sehr schlau vor und versteht es, sich meisterhaft zu tarnen, ihr sollt ihn nun aufspüren und verjagen.“

Strom sparen wie in der DDR

Was im Nationalsozialismus der „Kohlenklau“ war, hieß in der DDR der „Wattfraß“. So lautete der Name eines kleinen schwarzen Koboldes, dessen Schwanz in einem Stecker endete und der als Symbol der Energieverschwendung fungierte. Die Comic-Figur sollte Kinder und Jugendliche Ende der 1950-er Jahre zum Energiesparen animierte. Die Bilder erschienen unter anderem in der vom Zentralrat der FDJ herausgegebenen Zeitschrift „Atze“ und in der Kinderzeitschrift „Fröhlich sein und singen“ (FRÖSI).Auf einer der Zeichnungen sieht man den Kobold zum Beispiel mit einem grimmigem Lächeln unter der Überschrift: „Kennt Ihr ihn noch?“ Während quer über das Bild die Namen der Wintermonate mit jeweils unterschiedlichen Uhrzeiten am Abend gedruckt sind, heißt es unten: „Jawohl, es ist Wattfraß. Er kommt in den Wintermonaten und will unserer Industrie den Strom wegfressen. Helft wieder alle mit, besonders in der angegebenen Stunde, nur wenig Strom zu verbrauchen. Durch Eure Hilfe konnten vergangenes Jahr zusätzlich Millionenwerte produziert werden. Jagt ihn! Es lohnt sich!“

Auf einer anderen Zeichnung ist eine Art Demonstration zu sehen. Ganz vorne hängt der Kobold aufgespießt auf einem Dreizack, dahinter trägt ein Junge ein Plakat mit der Aufschrift „Nieder mit Wattfrass“. Andere Kinder führen ein Bügeleisen, einen Tauchsieder und weitere Küchengeräte mit sich, während auf einem quer gespannten Transparent steht: „Benutzt uns nicht von 17 bis 18 Uhr!!!“ Auch einen „Wattfrass-Hampelmann“ konnten sich die jungen Leser aus einem Ausschneidebogen basteln.Um die Bürger zum Energiesparen zu bewegen, produzierte die DDR in den 1980er Jahren sogar eine eigene Fernsehsendung. Ihr Titel lautete: „Gewusst wie, spart Energie“. Im Auftrag des Ministerrates erschien zudem eine Broschüre, auf deren Einband stand: „Energie sparen? Ja!“. Darunter war zu lesen: „Tatsachen, Tips und Informationen von Ihrem Energieberater“. 

Geholfen hat es wenig

Diese und weitere Propagandaaktionen änderten freilich nichts an der Tatsache, dass die DDR beim Energieverbrauch weltweit einen Spitzenplatz einnahm: Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von 7,8 Tonnen Steinkohleeinheiten war ihr Energieverbrauch zuletzt rund zwanzig Prozent größer als der der viel stärker industrialisierten Bundesrepublik. Der Endenergieverbrauch im Sozialismus stieg zwischen 1973 und 1987 sogar um 27 Prozent, während er in der Bundesrepublik nahezu unverändert blieb.

Gerade dieses Beispiel hält eine Erfahrung bereit, die auch die der baden-württembergische Ministerpräsident kennen sollten: Nicht Appelle oder Belehrungen führen zu Verhaltensänderungen, sondern gespart wird, wenn es teuer wird. Wichtigste Ursache der Energieverschwendung in der DDR war nämlich, dass es keinen finanziellen Anreiz zum sparsamen Umgang gab. Allein die privaten Heizkosten wurden mit 100 bis 200 Mark pro Monat und Wohnung subventioniert. Schaut man auf die milliardenschweren Entlastungspakete der Bundesregierung, scheint die Angst vor dem Unmut der Bevölkerung dazu zu führen, dass genau diese Politik wiederholt wird.
 

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