Kluft zwischen Arm und Reich - „Eliten haben keine realistische Vorstellung vom Leben“

Gut die Hälfte der Spitzenpolitiker stammt aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung. Aber auch in Wirtschaft und Medien reproduzieren sich die deutschen Eliten selbst und geben ihre eigenen Realitäten wieder. Im Interview erklärt der Elitesoziologe Michael Hartmann, warum das nicht nur ein Problem ist, sondern sogar die Demokratie gefährdet.

Bei der Hochzeit von Finanzminister Christian Lindner feierten Eliten aus Politik, Wirtschaft und Medien gemeinsam / dpa
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Der Elitesoziologe und emeritierte Professor Michael Hartmann erforscht seit vielen Jahren, wie sich Macht vererbt und wer in Deutschland zu den Eliten gehört. In seinem 2018 erschienenen Buch „Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden“ lastet er den Eliten den Aufstieg der Populisten an.

Herr Hartmann, in diesen Tagen grassiert im Mittelstand zunehmend eine Abstiegsangst. Derweil scheint es den Eliten gut zu gehen. In Ihren Studien jedenfalls kommen Sie zu dem Ergebnis, dass sich deutsche Eliten über alle Branchen hinweg reproduzieren und ein Aufstieg in diese Eliten ohne „Vererbung“ kaum möglich ist. Warum ist das Land nach oben hin so undurchlässig?

Das ist zwar etwas zugespitzt formuliert, aber im Kern stimmt es. Die soziale Herkunft ist für den Zugang zu den Eliten entscheidend. Das Resultat unserer großen Elitenstudie von 2012 über die Inhaber der 1000 wichtigsten Machtpositionen in Deutschland war in dieser Hinsicht eindeutig. Knapp zwei Drittel der Elitenmitglieder kamen damals aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung, dem Bürger- und Großbürgertum. Allein aus dem Großbürgertum, den oberen fünf Promille, stammten doppelt so viele wie aus den unteren 50 Prozent.

Hat sich seither etwas an der Situation verändert?

Soweit es mir mit meinen begrenzten Mitteln noch möglich ist, überprüfe ich die soziale Rekrutierung der Eliten seither immer wieder. Am systematischsten habe ich das für die Wirtschaftselite gemacht. In einer aktuellen Studie habe ich ihre soziale Rekrutierung von 1970 bis 2020 untersucht. Es hat sich über ein halbes Jahrhundert so gut wie nichts verändert. Der Anteil der „Aufsteiger“ aus den Mittelschichten und der Arbeiterschaft ist bei den Vorstandschefs der 100 größten Unternehmen gerade einmal von 17 auf 19 Prozent gestiegen. Über den gesamten sehr langen Zeitraum waren über vier Fünftel von ihnen Bürger- oder Großbürgerkinder. Bei den Aufsichtsratsvorsitzenden liegt deren Anteil sogar noch etwas höher.

Wie ist das in der Politik und in den Medien?

In der politischen Elite, dem klassischen Gegenpol zur Wirtschaftselite, sind die Verhältnisse seit 2012 auch gleich geblieben. Gut die Hälfte der Spitzenpolitiker stammt aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung, während es bis Ende der 1990er Jahre nur ein Drittel war. Die Medienelite, die schon damals die zweitexklusivste war, ist sozial sogar noch exklusiver geworden. Auch im Bundesverfassungsgericht ist die Dominanz der Bürgerkinder ungebrochen. Söhne und Töchter von Professoren, Schuldirektoren oder leitenden Oberstaatsanwälten prägen das Bild. Mit Christine Langenfeld ist dort sogar die Tochter eines ehemaligen Ministerpräsidenten vertreten. Das spricht dafür, dass sich an der exklusiven sozialen Rekrutierung der Justizelite insgesamt auch nichts verändert hat. Dazu gibt es aber wie auch bei der Verwaltungselite keine aktuellen Forschungsergebnisse.

Wer gehört in Deutschland zur Elite, über welche gemeinsamen Merkmale verfügen Angehörige der deutschen Eliten? Welche Partei wählen Elitenangehörige in Deutschland?

Zur Elite gehören die Personen, die gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich beeinflussen können. In den meisten Fällen können sie das qua Amt wie Regierungsmitglieder, hohe Verwaltungsbeamte und Richter, Topmanager, Intendanten oder Chefredakteure. In der Wirtschaft zählen allerdings auch solche Personen zur Elite, die zwar kein Spitzenamt bekleiden, große Unternehmen aber durch ihr Eigentum kontrollieren. Das trifft beispielsweise auf die Quandt-Erben bei BMW oder die Familien Porsche und Piech bei VW zu.

Neben der relativ exklusiven sozialen Herkunft zeichnen die Elitenmitglieder in ihrer großen Mehrheit zwei Persönlichkeitsmerkmale aus, die sie von dem meisten Menschen unterscheiden. Erstens haben sie keine realistische Vorstellung vom Leben und Denken der Durchschnittsbevölkerung, geschweige denn deren ärmerer Hälfte. Zweitens herrscht die Einstellung vor, die allgemeinen Regeln für sich selbst außer Kraft setzen zu können, für sich eigene Regeln schaffen zu können. Typisch dafür ist das Verhalten von Patricia Schlesinger, der ehemaligen Intendantin des RBB.

Was ist an Schlesinger Elite?

Sie und ein kleiner Kreis von hohen Führungskräften glaubten, sich unter Umgehung aller Regeln und Kontrollmechanismen hohe Boni zuschanzen zu können, während die normalen Beschäftigten des RBB gleichzeitig unter enormen Spardruck gesetzt wurden. Die beiden Persönlichkeitsmerkmale sind dabei eng mit der sozialen Herkunft verbunden. Wenn man Väter und manchmal auch Mütter hatte, die in Machtpositionen saßen und finanziell deutlich besser gestellt waren als die durchschnittliche Bevölkerung, dann hat man sich schon in Kindheit und Jugend daran gewöhnt, die Welt eher von oben herab zu betrachten. Das trifft im Übrigen auch auf Schlesinger als Tochter eines Managers zu.

Was das Wahlverhalten der Eliten angeht, so gibt es dazu wenig Daten. Wenn man sich das Elitenpanel von Allensbach als einzige halbwegs aktuelle Studie anschaut, so genießen in den Eliten immer noch CDU/CSU und FDP die größte Unterstützung, obwohl die Grünen in den letzten Jahren spürbar an Zustimmung gewonnen haben. Das Wahlverhalten dürfte allerdings von Sektor zu Sektor stark variieren, in Wirtschaft und Justiz konservativer ausfallen als in den Medien.

Gibt es neben der deutschen Elite auch eine internationale Elite?

Nein. Selbst die Wirtschaftselite, die immer als die internationalste gilt, ist national strukturiert. In einer umfassenden Studie über die Topmanager der 1000 größten Konzerne der Welt und die 1000 reichsten Menschen habe ich 2016 nachgewiesen, dass in beiden Gruppen 90 Prozent der Personen in ihrem Heimatland leben und arbeiten. Von Internationalität kann da keine Rede sein. Außerdem ist in den Ländern, die 2016 noch vergleichsweise hohe Anteile an ausländischen Topmanagern aufwiesen, der Trend rückläufig. In Deutschland stellten Ausländer damals 15 Prozent der Vorstandschefs. Heute sind es nur noch zehn Prozent.

Wie rekrutieren die Eliten ihren Nachwuchs?

Das funktioniert in erster Linie nach dem Prinzip der Ähnlichkeit. Die Entscheider suchen in der Regel jemand, der ihnen in entscheidenden Merkmalen ähnelt, nur einer anderen Generation angehört. Dieses Prinzip ist dabei umso wirksamer, je kleiner der Kreis der Entscheider ist. Deshalb ist die Rekrutierung in der Wirtschaft, wo nur sehr wenige Personen über den Zugang zu Elitepositionen entscheiden, sozial auch am exklusivsten.

Sind Eliten wirklich so undurchlässig? Können Migranten wie die Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci durch Leistung und ihre weltweit anerkannten Erfolge nicht auch Teil der Elite werden?

Die beiden sind jetzt ohne Zweifel ein Teil der Wirtschaftselite, gehören aber zu den Ausnahmen. Das zeigt ein Blick auf die Liste der reichsten Deutschen, die ganz überwiegend zur Wirtschaftselite gezählt werden müssen. Vier Fünftel der 300 Reichsten sind Firmenerben, haben schon Vermögen in dreistelliger Millionen- oder gar Milliardenhöhe geerbt. Ihr Anteil ist zudem kontinuierlich gestiegen. 2010 lag er noch bei zwei Drittel. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen, weil in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren viele große Vermögen aus der ersten Generation wie etwa bei den SAP-Gründern Dietmar Hopp und Hasso Plattner an die zweite Generation vererbt werden.

Sie betonen in Ihren Studien die Gefährdung der Demokratie durch Eliten. Das klingt sehr alarmistisch. Inwiefern sind Eliten eine Gefahr für die Demokratie?

Ihr zunehmend abgehobenes Verhalten und vor allem ihre Entscheidungen in den letzten zwei Jahrzehnten haben dafür gesorgt, dass sich immer weniger Menschen von ihnen repräsentiert fühlen. Das gilt in erster Linie für die soziale Frage. Die Bürger empfinden die Verhältnisse hierzulande mit großer Mehrheit als sozial ungerecht. Die Eliten sehen das anders, wie die Elitenstudie gezeigt hat. Eine entscheidende Konsequenz ist erst einmal eine wachsende Wahlenthaltung. An den letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen hat nur noch gut die Hälfte der Wahlberechtigten teilgenommen. In Wahlkreisen mit niedrigen Einkommen und hoher Arbeitslosigkeit war es sogar nur noch gut ein Drittel. Gleichzeitig nimmt die Zustimmung zu rechtspopulistischen Parteien oder Positionen deutlich zu, hierzulande, aber noch stärker in anderen Ländern wie Frankreich, Italien, Schweden oder den USA. Beides stellt eine enorme Gefahr für die Demokratie dar.

Sie gehen davon aus, dass die Eliten sich selbst reproduzieren und ihre eigenen Realitäten wiedergeben. Gilt das auch für den Journalismus? Haben es Arbeiterkinder schwerer, in deutschen Redaktionen Fuß zu fassen?

Ja. Das gilt vor allem für die Spitzenpositionen. Dort findet man sie nur ganz ausnahmsweise und ihr Anteil ist im öffentlich-rechtlichen Sektor außerdem deutlich rückläufig. Vor zehn Jahren gab es in den ARD-Anstalten und im ZDF im Unterschied zu den großen privaten Medien immerhin noch eine Handvoll Arbeiterkinder auch in den Toppositionen. Darunter waren mit Markus Schächter und Monika Piel sogar der Intendant und die Intendantin der beiden größten Anstalten, ZDF und WDR. Dort sitzen jetzt mit Norbert Himmler und Tom Buhrow zwei Männer, deren Väter Polizeipräsident in Rheinland-Pfalz beziehungsweise Leiter der Rechtsabteilung eines Unternehmens mit über 1.500 Beschäftigten waren. Das ist typisch für die Veränderungen im öffentlich-rechtlichen Sektor.
 

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Programmdirektorin der ARD ist zum Beispiel Christine Strobl, die Tochter von Wolfgang Schäuble, zugleich die Ehefrau des derzeitigen Innenministers von Baden-Württemberg. Auch unter den prominenten Moderatoren und Sprechern der Talkshows und Hauptnachrichtensendungen findet man gerade mal ein Arbeiterkind, dafür aber die Kinder eines Oberbürgermeisters, eines Oberstadtdirektors, eines Baudezernenten, eines Chemiemanagers und anderer akademischer Berufe wie Architekt oder Ingenieur.

Für all diese Personen ist zudem anders als früher ein Studium so gut wie obligatorisch. Über 90 Prozent verfügen über ein Hochschulexamen. Nur ganze zwei, darunter Robert Schneider, der Chefredakteur von Focus, haben erst gar kein Studium begonnen und weitere vier, darunter Sandra Maischberger und Wolfgang Krach, der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, haben ihr Studium abgebrochen. Wie es in den Redaktionen aussieht, lässt sich nur vermuten, weil es dazu keine auch nur halbwegs aktuellen Studien gibt.

Die Rekrutierung dürfte dort weniger exklusiv sein, der Mittelschichtanteil höher liegen. Arbeiterkinder dürften aber auch dort selten sein. So zumindest ist mein Eindruck nach über zwei Jahrzehnten intensiver Medienkontakte und eine zehn Jahre alte Studie über die Journalistenschüler unterstützt diesen Eindruck. Damals kam an den drei großen Journalistenschulen niemand aus der unteren Hälfte der Bevölkerung, dafür über zwei Drittel aus den oberen zehn Prozent. Das sind die Jahrgänge, die jetzt in den Redaktionen sitzen.

Welche Konsequenzen hat die soziale Herkunft der Redakteure für die Berichterstattung in den deutschen Leitmedien?

Sie prägt ihren Blick auf die gesellschaftliche Realität. Die allermeisten festangestellten Redakteure der großen Medien stammen nicht nur aus Familien, die zumindest zum oberen Drittel der Gesellschaft zählen. Sie selbst gehören mit ihrem Verdienst auch zu den oberen zehn bis zwanzig Prozent der Einkommensbezieher. Sie wohnen dementsprechend seit Kindertagen in den besseren Vierteln der Städte, kennen größere Probleme bei der Wohnungssuche zumeist nur aus ihrer Studienzeit und leiden auch nicht ernsthaft unter der aktuellen Inflationsrate von über zehn Prozent.

Viele Probleme, die in großen Teilen der Bevölkerung Besorgnis oder gar Angst hervorrufen, kennen sie persönlich und in ihrem Umfeld nicht oder nur sehr begrenzt. All das beeinflusst die Berichterstattung insofern, als es sich zum einen auf die Auswahl der zu behandelnden Themen auswirkt, zum anderen auf die Darstellung. Es fehlt oft das Gefühl für die Dringlichkeit bestimmter Probleme und gleichzeitig eine genauere Kenntnis der Situation, wenn man denn berichtet.

Dazu kommt, dass anders als früher so gut wie alle ein Studium absolviert haben. Sie haben sich andere Gewohnheiten und auch eine andere Sprache angewöhnt. Beim Gendern wird das am deutlichsten. Was für die meisten von ihnen, bei den jüngeren vermutlich sogar für fast alle völlig normal ist, stößt bei der Mehrheit der Bevölkerung auf mehr oder minder großes Unverständnis. Das wird zwar registriert, aber in der Regel als Rückständigkeit dieser Bevölkerungsteile beurteilt und abqualifiziert.
  
Anlässlich der Bundestagswahl gab es im Mai 2020 eine Umfrage unter Volontären der ARD. Mehr als 57 Prozent der Volontäre der ARD würden bei der nächsten Bundestagswahl die Grünen wählen. Weitere 23,4 Prozent die Linke und 11,7 Prozent die SPD. Reichen solche Umfrageergebnisse, um den deutschen Medien eine Elitenbildung zu unterstellen?

Nein. Dafür ist die Zahl der angesprochenen Volontäre mit insgesamt 183 schon zu klein. Drei Anstalten, darunter das ZDF waren gar nicht vertreten. Außerdem haben nur 77, also weniger als 50 Prozent, die Frage nach der von ihnen favorisierten Partei beantwortet. Die Umfrage ist allenfalls ein weiteres Indiz für die Unterschiede zwischen Journalisten und Bevölkerung.

Manche Politologen machen die hohe Akademisierung in den linken und grünen Parteien mit für den Aufstieg von Populisten verantwortlich. Können Sie dem zustimmen?

Mitverantwortung trägt diese Entwicklung auf jeden Fall. Wie bei den Journalisten, so sorgt die Akademisierung auch in den Parteien für eine veränderte Themensetzung und eine veränderte Umgangssprache. Das konnte ich in den 1970ern Jahren bei der SPD beobachten und es wiederholt sich aktuell in der Linkspartei. Die in der älteren Generation der Parteimitglieder noch dominierende soziale Frage wurde und wird weiter zunehmend an den Rand gedrängt und der Ton wurde beziehungweise wird immer akademischer. Das hat Folgen für die Wahrnehmung der Parteien und für ihre Politik.

Erhebliche Teile ihrer alten Stammwählerschaft fühlen sich nicht mehr vertreten. Sie verfallen oft in Resignation. Ein Teil wandert aber auch zu den Rechtspopulisten ab. Das kann man in praktisch allen Industrieländern sehen. Die Rechtspopulisten können sich als das Sprachrohr der Vergessenen und Benachteiligten stilisieren, gerade in kultureller Hinsicht wie bei der korrekten Sprachweise. Die Grünen sind für diese Selbststilisierung ausgesprochen hilfreich. Bei ihnen war von Beginn an eine Dominanz akademisch sozialisierter Politiker zu beobachten. In dieser Beziehung hat sich da nicht so viel verändert. Die Mitglieder sind im Schnitt nur beruflich etablierter und wohlhabender geworden.

Die Grünen sind die Partei, die sozialstrukturell heute die besser verdienenden, akademisch ausgebildeten Teile der Bevölkerung am stärksten repräsentiert. In dieser Hinsicht treten sie in bestimmten Kreisen das Erbe der FDP an und so agieren sie auch. Alte, teilweise noch radikale Forderungen auf sozial- wie auch umweltpolitischem Gebiet werden mit Hinweis auf das Realitätsprinzip entsorgt. Das führt aber anders als bei SPD und Linkspartei bei der Masse der eigenen Mitglieder und Wähler zu keiner größeren Abwendung, weil diese denselben Abwicklungsprozess politisch wie privat zeitgleich mitvollzogen haben.

Gerüchten zufolge wird Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründen, die die Interessen der strukturell Benachteiligten besser berücksichtigen soll. Würden Sie diese Partei wählen?

Sollte es wirklich dazu kommen, auf jeden Fall. Auch wenn ich mit Sahra Wagenknecht nicht in allen Punkten übereinstimme, so ist sie doch die einzige prominente Politikerin, die sich konsequent für die Belange der ärmeren Teile der Bevölkerung einsetzt. Das ist für mich entscheidend. Sie könnte in der Politik für diese Menschen so etwas wie ein Sprachrohr sein. Sie könnte ihnen das Gefühl geben, mit ihren Problemen wieder wahrgenommen zu werden, und damit den Rechtspopulisten ein Stück weit das Wasser abgraben.

Wie bewerten Sie die aktuellen Hilfspakete der Ampel-Koalition, sind Sie wirksam in der Bekämpfung einer zunehmenden Verarmung mancher Bevölkerungsgruppen?

Sie puffern die Belastungen zwar etwas ab, sind aber viel zu wenig zielgerichtet auf diese Teile der Bevölkerung hin. Vielfach profitieren wie bei der Gaspreisbremse oder dem Tankrabatt auch die gut verdienenden Bevölkerungsteile von den Maßnahmen, die es nicht nötig hätten. Teilweise profitieren sie sogar stärker, weil sie einen höheren Verbrauch aufgrund der größeren Wohnungen und Autos haben.

Energiekrise, Inflation, ein Krieg in Europa. Wie schätzen Sie die aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen vor dem Hintergrund Ihrer Elitenforschung ein? Wird es einen Trend hin zur Öffnung der Eliten geben?

Nein. Eher das Gegenteil ist zu erwarten, wie die Jahre seit der Finanzkrise zeigen.

Wie ist Ihre Prognose für die Zukunft: Wird sich die soziale Ungleichheit auf Grund der aktuellen gesamtgesellschaftlichen und geopolitischen Entwicklungen verstärken?

Das ist sehr wahrscheinlich.

Wird die Verstärkung der Schere zwischen Arm und Reich zu einem Einlenken der deutschen Elite führen? Erwarten Sie einen Mentalitätswandel?

Nein. Während der Finanzkrise hatte ich kurz diese Hoffnung, weil sich damals auch Topmanager selbstkritisch zeigten. So hat sich damals zum Beispiel selbst der Vorstandschef einer deutschen Großbank im Privatgespräch durchaus offen für eine Politik gezeigt, die deutlich stärker sozial ausgerichtet gewesen wäre. Das hat sich aber schnell gelegt, als die Krise nicht mehr aktuell war. Seither ist von Selbstkritik nicht mehr viel zu vernehmen.

Typisch ist die Reaktion auf Forderungen nach höheren Steuern für Reiche, um die Krisenkosten gerechter zu verteilen. Sie werden von der großen Mehrheit der Elitenmitglieder mehr oder weniger vehement abgelehnt. Das war schon bei unserer Befragung 2012 so. Interessant dabei war, dass die Ablehnung umso stärker ausfiel, je reicher die jeweiligen Personen selbst aufgewachsen waren. Während die Arbeiterkinder in den Eliten mit deutlicher Mehrheit für solche Steuern waren, lehnten sie fast alle wirklich reich aufgewachsenen Großbürgerkinder ab. Das zeigt, wie wichtig eine andere soziale Rekrutierung der Eliten ist, will man die Kluft zwischen Arm und Reich verringern.

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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