Kernfusion - Heißer als die Sonne

Die Kernfusion soll der Menschheit eine neue, klimafreundliche Energiequelle erschließen. Doch eine rasche Lösung für die gegenwärtige Energiekrise ist nicht in Sicht: Der Weg zu einem marktreifen Kraftwerk ist noch weit.

Teilstück des Außengefäßes von Wendelstein 7-X, einer Experimentieranlage zur Erforschung der Kernfusion / Wolfgang Filser/MPI für Plasmaphysik
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Astrid Dähn ist Physikerin und Wissenschafts-Journalistin.

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Unspektakulärer kann eine Versuchsanlage von außen kaum wirken: ein dreistöckiger, umzäunter Gebäudekomplex mit viel Stahl und Glas, drum herum Parkplätze, Wiesen und Ackerland. Und doch hat sich das Forschungszentrum am Stadtrand von Greifswald in jüngster Zeit zu einer regelrechten Pilgerstätte entwickelt. „Presseleute, Fernsehteams, Wirtschaftsdelegationen, Politiker unterschiedlichster Parteien – alle wollen sich anschauen, was wir hier tun“, erzählt Thomas Klinger, wissenschaftlicher Leiter von Wendelstein 7-X, wie der Publikumsmagnet im Fachjargon heißt. Denn die Testanlage am Nordostende Deutschlands gilt weltweit als ein entscheidendes Werkzeug, um der Menschheit eine neue Energiequelle zu erschließen: die Kernfusion. 

„Auf dem Gebiet der Fusion herrscht gerade eine Art Goldgräberstimmung“, sagt Klinger. Viele Regierungen rund um den Erdball stocken ihre Fördermittel für die Technologie auf. Das US-Energieministerium etwa kündigte an, die laufende Unterstützung von rund 760 Millionen Dollar für 2023 im kommenden Jahr auf mehr als eine Milliarde zu erhöhen. Japan, China, Indien und Frankreich haben ebenfalls umfangreiche Fusionsprogramme aufgelegt, in Großbritannien soll in der Nähe von Oxford sogar ein ganzes „Fusion Valley“ entstehen.

Große Verheißungen

Auch private Investoren haben das Thema für sich entdeckt: Nach Angaben des internationalen Wirtschaftsverbands Fusion Industry Association (FIA) flossen im letzten Jahr gut 4,7 Milliarden US-Dollar Privatkapital in Unternehmen, die sich mit Fusion befassen, eine Steigerung um mehr als 100 Prozent gegenüber dem gesamten Zeitraum zuvor. Zu den Geldgebern gehören neben Großkonzernen wie Google, Eni oder Equinor auch Einzelpersonen, darunter der Tech-Milliardär Bill Gates und Amazon-Gründer Jeff Bezos.

Das Versprechen, das Wissenschaftler wie Sponsoren gleichermaßen anspornt, ist groß. Gelänge es, die Kernfusion für Energiezwecke zu bändigen, könnte das gleich mehrere Probleme beim Aufbau einer nachhaltigen globalen Energieversorgung beseitigen: Verglichen mit kohle- und erdgasbetriebenen Kraftwerken benötigt die Fusion nur recht geringe Mengen Brennstoff, die sich im Prinzip überall gewinnen lassen und obendrein beim Verfeuern kein Kohlendioxid erzeugen. Gleichzeitig ist die Technologie im Gegensatz zu Windrädern oder Wasserkraftanlagen unabhängig vom Wetter und anderen geografischen Faktoren. „Damit hat die Kernfusion theoretisch das Potenzial, zu jeder Zeit, an jedem gewünschten Standort massenhaft Energie zu liefern, ohne dem Klima zu schaden“, sagt Klinger. 

Thomas Klinger, wissenschaftlicher Leiter von Wendelstein 7-X, vor der Fusionsanlage

Was das Konzept so leistungsfähig macht, sind die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die ihm zugrunde liegen. Bei der Fusion verschmelzen die Kerne zweier relativ leichter Atome zu einem schwereren, bei Wasserstoffkernen als Ausgangsmaterial zum Beispiel zu Helium. Dabei wandelt sich ein Teil der Kernmassen in Energie um und wird freigesetzt. Da die fundamentale Naturkraft, die den Vorgang vorantreibt, sehr stark ist, ist auch die Wirkung groß. Aus einem Gramm Fusionsbrennstoff lässt sich schätzungsweise so viel Energie gewinnen wie aus elf Tonnen Steinkohle. 

Noch heißer als im Sonnenzentrum

Sternen wie unserer Sonne verleiht dieser Effekt ihre Leuchtkraft. Pro Sekunde verschmelzen in unserem Zentralgestirn ungefähr 600 Millionen Tonnen Wasserstoff zu Helium. Der Prozess bleibt allerdings nur in Gang, weil im Sonnenzentrum Höllentemperaturen von 15 Millionen Grad Celsius und rund das 200-Milliardenfache des irdischen Atmosphärendrucks herrschen. Unter solchen Extrembedingungen bilden die Wasserstoffatome ein sogenanntes Plasma: Ihre elektrisch positiv geladenen Kerne und die zugehörigen negativ geladenen Elektronen trennen sich voneinander und schwirren stark beschleunigt einzeln durch den Raum. Dabei kann es passieren, dass zwei positive Kerne die elektrische Abstoßung überwinden und einander so nahe kommen, dass sie verschmelzen – das Fusionsfeuer brennt. 

Den Sonnenofen auf der Erde nachzubauen, ist technisch äußerst knifflig. Allein schon, weil es in irdischen Versuchsanlagen unmöglich ist, über längere Zeit Druckverhältnisse wie im Zentrum eines Sterns aufrechtzuerhalten. Um die Fusionsreaktionen dennoch zum Laufen zu bringen, sind die Geräte zumeist für ein etwas leichter verschmelzbares Brennmaterial als gewöhnlichem Wasserstoff ausgelegt, in der Regel ist das ein Gemisch aus schwerem und überschwerem Wasserstoff, Deuterium und Tritium. In diesem Fall entstehen beim Verschmelzen zusätzlich zu Helium noch elektrisch neutrale Kernteilchen, Neutronen genannt. In künftigen Fusionskraftwerken soll mithilfe ihrer Bewegungsenergie über einen Wärmetauscher Wasser erhitzt werden, um dann mit dem Wasserdampf eine Turbine anzutreiben und Strom zu erzeugen. 

 

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Zur Kompensation des geringeren Drucks müssen die Wissenschaftler in ihren Anlagen zudem die Temperatur gegenüber dem Sonnenzentrum um mehr als das Sechsfache steigern, auf mindestens 100 Millionen Grad Celsius. „Die Herausforderung für uns besteht darin, das Wasserstoffplasma so einzuschließen, dass es von seiner Umgebung maximal gut wärmeisoliert ist“, erläutert Klinger.

Weltspitze in Greifswald

Wie kompliziert das ist, lässt sich erahnen, wenn man sich den Aufbau von Wendelstein 7-X in Greifswald näher anschaut. Der drei Stockwerke hohe, vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) betriebene Reaktor erinnert mit seinen vielen wie Stacheln vom Reaktorgehäuse abstehenden Zuleitungen und Messröhren von außen an einen überdimensionierten Seeigel. Sein Herzstück bildet ein ringförmiger, mehrfach in sich verdrillter Schlauch aus verschiedenen Magneten.

In diesem, von Experten als Stellarator bezeichneten Hohlraum lassen sich die elektrisch geladenen Plasmapartikel wie in einem unsichtbaren Käfig einschließen, ohne gegen Wände zu stoßen. „Kämen die Teilchen mit den tonnenschweren kalten Reaktorwänden in Berührung, bräche ihre Temperatur sofort ein“, erläutert Klinger. Vor wenigen Wochen ist es den Greifswalder Forschern gelungen, das Plasma auf 30 Millionen Grad zu erhitzen und in diesem Zustand acht Minuten lang stabil zu halten. „Damit ist unsere Stellarator-Anlage aktuell die beste ihrer Art“, so Klinger. 

Von der Energieproduktion ist Wendelstein 7-X gleichwohl weit entfernt – wie auch alle übrigen Fusionsreaktoren, die momentan weltweit in den Laborhallen laufen. Selbst das Experiment, das es letzten Dezember bis in die Abendnachrichten geschafft und so die Fusionstechnik schlagartig in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat, bildet da keine Ausnahme. Damals verkündete ein Wissenschaftlerteam vom Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien, erstmals mehr Energie bei der Kernfusion gewonnen zu haben, als zuvor zum Erhitzen des Brennmaterials aufgewendet werden musste. Das Deuterium-Tritium-­Gemisch war dabei nicht magnetisch eingeschlossen, es befand sich in einem etwa pfefferkorngroßen Kügelchen. Diese Kapsel beschossen die US-Spezialisten so geschickt mit hochintensivem Laserlicht, dass Temperatur und Druck im Kapselinneren Fusionsbedingungen erreichten und der Brennstoff zündete. 

Der Riesenreaktor in Südfrankreich

Der Haken: In den Bilanzen wurde nur die Laserenergie berücksichtigt, die direkt auf die Kapsel prallte, nicht der Energieaufwand für den gesamten Versuchsaufbau. Hätte man etwa den Strom für das Erzeugen der Laserblitze miteingerechnet, wäre der Energieertrag deutlich ins Negative gerutscht. Für Kenner der Fusionslandschaft kaum erstaunlich, denn das Lasersystem in Livermore ist eigentlich nicht zur Energiegewinnung gedacht. Anhand der Tests dort wollen Nuklearexperten vielmehr die physikalischen Abläufe bei einer Wasserstoffbombenexplosion besser verstehen lernen. Größere Laserfusionsanlagen eigens für den Kraftwerksbetrieb existieren bislang nicht.

Wie also die mit der Kernfusion verknüpften Hoffnungen auf unbegrenzten Energienachschub für die Menschheit tatsächlich einlösen? „Ein Ansatz besteht darin, die Fusionsreaktoren mit Magnetkammer immer größer zu konzipieren“, sagt Hartmut Zohm, Leiter des Bereichs Tokamak-Szenario-Entwicklung am Münchner Sitz des IPP. Denn je größer der Magnetring, desto kleiner seine Wandfläche im Vergleich zum Volumen und desto leichter, die Plasmateilchen fern der Wände auf dem nötigen Hitzeniveau zu halten. 

Blick in den Schaltschrank des Pellet Injectors, im unteren Bereich sind die Temperaturregler zu sehen

Das in seinem Umfang mit Abstand ehrgeizigste Projekt der globalen Fusionsforschung ist der International Thermonuclear Experimental Reactor, kurz: Iter, der seit 2010 im südfranzösischen Cadarache in Bau ist. Auf dem knapp zwei Quadratkilometer großen Gelände ist in den letzten Jahren ein komplettes Industrieviertel aus dem Boden gewachsen mit Werkshallen, Versorgungsgebäuden, Rechenzentren und eigener Strominfrastruktur. Manche Komponenten der Fusionsanlage haben so sperrige Maße, dass Frankreich für ihren Antransport stellenweise Straßen und Brücken verbreitern musste.

Bei der Kernfusion ist Geduld gefragt

Der donutförmige Magnetkäfig von Iter – „Tokamak“ heißt dieser Reaktortyp – hat einen Durchmesser von gut sechs Metern und ein Volumen von 840 Kubikmetern. Damit kommt er in die Nähe der kritischen Größe, von der an die Fusion nach dem ersten Zünden ohne weitere Energiezufuhr selbstständig weiterlaufen kann. „Wenn alles klappt, wird die Maschine zehnmal mehr Energie liefern, als zum Aufheizen des Plasmas erforderlich ist“, sagt Zohm. 

Für den Physikprofessor gehört Iter „zum Komplexesten, was die Menschheit je konstruiert hat“. Mittlerweile beteiligen sich an ihm 35 Länder, die zusammen die halbe Weltbevölkerung repräsentieren, neben den ursprünglichen Initiatoren, USA und Russland, zählen dazu auch China, Indien und alle EU-Staaten. Wie jedoch bei Projekten dieser Dimension häufig, läuft die Organisation nicht reibungsfrei: Die Kosten, anfangs mit sechs Milliarden Euro veranschlagt, summieren sich inzwischen auf 18 bis 22 Milliarden. Immer wieder kommt es zu Verzögerungen. Erst vor wenigen Wochen wurden wichtige Bauteile für die Plasma-­Ringkammer fehlerhaft angeliefert, was den offiziell für 2026 avisierten Betriebsstart wohl um zwei bis drei Jahre verschieben dürfte. 

Und selbst wenn der Reaktor irgendwann im Regelbetrieb arbeitet, wird er keinen Strom ins Netz einspeisen, weil keine Dampfturbinen angeschlossen sind. „Die Anlage kann mit ihrer Energie nur Wasser heiß machen“, sagt Zohm. Mehr ist erst von Iters Nachfolger zu erwarten, dem Prototypreaktor „Demo“. Da sein Design auf den Ergebnissen aus Frankreich fußen soll, werden seine Konstruktionspläne nicht vor 2035 stehen, der anschließende Bau dürfte mindestens noch einmal zehn Jahre dauern. „Ich gehe nicht davon aus, dass Demo vor 2050 Strom produzieren kann, sofern wir nicht dazu übergehen, das Projekt parallel zu Iter voranzutreiben“, sagt Zohm. „2060 ist wahrscheinlicher.“ 

Start-ups und Spin-offs machen Tempo

Schneller ans Ziel könnte ein anderer Weg in Richtung Fusionskraftwerk führen. Konkurrierend zu den staatlichen Großforschungsprojekten hat sich in den letzten Jahren eine dynamische Start-up-Szene herausgebildet, die aufs Tempo drückt. Im neuesten Firmenverzeichnis des Branchenverbands FIA sind mehr als 30 kommerzielle Entwickler von Kernfusionsanlagen aufgelistet, die meisten davon mit Sitz in den USA oder Großbritannien, vier aber auch in Deutschland. Ihre Reaktorkonzepte sind vielfältig, allen gemein ist jedoch ein ambitionierter Zeitplan. Laut einer Erhebung von FIA gehen gut drei Viertel der befragten Unternehmen davon aus, zwischen 2030 und 2045 ein marktreifes Kraftwerk präsentieren zu können. 

„Wir haben jetzt alles, was wir brauchen: Wir verstehen die Fusionsphysik gut genug und verfügen zugleich über die notwendige technologische Basis, beispielsweise ultrakurzgepulste Laser und hochleistungsfähige Software zum Aussteuern der Systeme“, erläutert Michl Binderbauer, Direktor von TAE Technologies, die Ursachen für das Erstarken der Fusionsindustrie. 1998 gegründet, gehört TAE zu den etabliertesten Unternehmen der Szene. 1,2 Milliarden privates Kapital hat die Firma seit ihren Anfängen eingeworben und mit ihren 500 Mitarbeitern bereits drei Versuchsanlagen zum Aufbau eines Fusionsplasmas errichtet. 

Ganz so weit sind die deutschen Start-ups noch nicht. „Wir ziehen demnächst vom Uni-Labor in unser eigenes Experimentiergebäude“, erzählt etwa Markus Roth, Professor für Plasma- und Laserphysik an der Technischen Universität Darmstadt und Mitgründer von Focused Energy, einem 2021 ins Leben gerufenen deutsch-amerikanischen Spin-off der TU. Wie das Labor in Livermore setzt Focused Energy auf laserbasierte Fusion. „Unser System wird aber wesentlich energieeffizienter funktionieren, sodass wir mit kleineren Lasern auskommen“, sagt Roth, der selbst längere Zeit an der kalifornischen Forschungsanlage gearbeitet hat.

Mehr Freiheit als beim Staat

Der Betriebsstart des ersten größeren Demonstrators von Focused Energy ist für 2028 vorgesehen, voraussichtlich in den USA, weil dort die Genehmigungsverfahren einfacher seien. Viele Schlüsselkomponenten will das 50-köpfige Firmenteam jedoch in Deutschland entwickeln, gemeinsam mit hiesigen Unternehmen. „Es geht darum, jetzt ein passendes industrielles Ökosystem aufzubauen, damit für etwaige Fusionskraftwerke später die notwendigen Spezialteile zur Verfügung stehen“, sagt Roth.

Das sehen seine Kollegen bei Gauss Fusion ähnlich. Anders als die meisten Fusions-Start-ups ist die Münchner Firma keine Forschungsgründung. „Wir sind ein reines Industrieprojekt, mit erfahrenen europäischen Partnern“, betont die Geschäftsführerin Milena Roveda. Die Idee dazu stammt von Frank Laukien, dem Vorstandsvorsitzenden des Hightech-Gerätebauers Bruker. Der in Deutschland verwurzelte Konzern ist mit circa 30 Prozent größter Einzelinvestor von Gauss Fusion, mit an Bord sind aber auch italienische, französische und spanische Zulieferer, die schon maßgeschneidertes Zubehör für magnetbasierte Anlagen wie Iter oder Wendelstein 7-X gefertigt haben.

Der Reaktor von Gauss soll ebenfalls auf Magnetfusion beruhen. „Wir haben gerade die erste Finanzierungsrunde über acht Millionen Euro abgeschlossen“, berichtet Roveda. Bis Mitte 2025 laufe nun die Konzeptionsphase. Dass ein Industrieverbund wie Gauss gegenüber staatlichen Forschungskooperationen Vorteile hat, liegt für die Managerin auf der Hand: „Wir können frei agieren, Fehler wagen, müssen keine Kompromisse machen.“ Im Moment liefern sich ihrer Beobachtung nach die USA, die EU und die asiatischen Länder ein Kopf-an-Kopf-Rennen in der Fusion. „Wir wollen, dass Europa die Führungsposition einnimmt.“

Große Rohstoffschwierigkeiten

Diesem Ansinnen würde man im Bundesforschungsministerium (BMBF) vermutlich zustimmen. 142 Millionen Euro wandern jährlich aus der Ministeriumskasse in die deutsche Fusionsforschung. Bislang handelte es sich dabei fast ausschließlich um Institute und Testanlagen zur Magnetfusion, nach den Erfolgsmeldungen aus Kalifornien prüft das BMBF jedoch, auch die Laserfusion in sein Förderprogramm aufzunehmen. „Es ist richtig, beide Stränge der Fusionsforschung ernsthaft zu verfolgen“, sagt Mario Brandenburg, Parlamentarischer Staatssekretär im BMBF. Auf Grundlage wissenschaftlich belegter Fakten gelte es dann längerfristig zu entscheiden, „mit welcher Technologie Deutschland in den Bau eines eigenen Kraftwerks einsteigen soll“. 

Doch bei aller Förderbereitschaft – die technischen Hürden bis zu einem markttauglichen Fusionskraftwerk bleiben hoch, ganz gleich welchen Umsetzungspfad man einschlägt. Grundsätzliche Probleme bereiten zum Beispiel die Materialien, die in den Reaktoren Verwendung finden sollen. Der Brennstoff Tritium etwa ist radioaktiv und muss aufwendig künstlich hergestellt werden. Um die Produktion wirtschaftlich zu machen, tüfteln Wissenschaftler daran, Tritium direkt im Fusionsreaktor zu erzeugen, und zwar mithilfe der energiereichen Neutronen, die bei den Fusionsprozessen frei werden und in die Reaktorumwandung eindringen.

Diesen Vorgang gezielt zu steuern, sei allerdings eine „immens schwierige Ingenieursaufgabe“, sagt Klaus Hesch, Sprecher des Fusionsprogramms am Karlsruher Institut für Technologie, das sich intensiv mit Materialanalysen beschäftigt. „Bisher hat man das noch nirgends verlässlich im Griff.“ 

Bloß nicht auf die Fusion verlassen

Ebenso wenig einige andere Effekte, die der Neutronenbeschuss in den Wänden auslöst. Beim Einströmen beschädigen die Teilchen das Wandmaterial nämlich stark und machen es teilweise radioaktiv. Mit maximal hundert Jahren haben die verstrahlten Bauteile zwar eine relativ kurze Abklingzeit verglichen mit dem hochradioaktiven Müll aus Atomkraftwerken. „Bei ein bis zwei Meter dicken Reaktorwänden, die wegen der Materialermüdung durch die Neutronen alle fünf bis acht Jahre ausgetauscht werden müssen, kommen im Laufe der Lebenszeit eines Kraftwerks aber schon einige Tausend Tonnen radioaktiven Abfalls zusammen“, gibt Mat­thias Englert vom Öko-Institut in Darmstadt zu bedenken.

Auch wenn von der Fusion insgesamt ein wesentlich geringeres Risiko als von der Kernspaltung ausgehe, komme man deshalb nicht umhin, besondere Sicherheitsstandards einzuhalten, sagt der Spezialist für nukleare Nichtverbreitung. Aus seiner Sicht ist die Fusion „eine Wette auf die Zeit“: „Der Wetteinsatz kann sich am Ende lohnen, aber es kann auch schiefgehen. Deshalb sollte man zumindest nicht alles auf eine Karte setzen.“ 

Darin ist sich Englert mit der Mehrzahl der Fusionswissenschaftler einig. Die Experten warnen davor, im Vertrauen auf einen raschen Durchbruch in der Kernfusion den Ausbau der erneuerbaren Energien zu verlangsamen. Thomas Klinger von Wendelstein 7-X etwa hält die Ansage mancher Start-ups, in zehn Jahren ein einsatztaugliches Kraftwerk vorzuweisen, für eine „absolut unseriöse Wunschvorstellung“, die eher den Investorenfantasien als der Realität geschuldet sei.

Ein Projekt für die Kinder und Enkel

„Die Fusion ist mit Sicherheit kein Ersatz für preiswerte, markt­erprobte Technologien wie Fotovoltaik oder Windkraft“, betont er. „Aber sie könnte eines Tages eine perfekte Ergänzung sein.“ In dieser Zukunft würden Fusionsreaktoren dann einspringen, falls Windräder und Solarparks den alltäglichen Strombedarf nicht decken können. Dank ihrer hohen Leistungsfähigkeit von einigen Gigawatt – mehr als heutige Atommeiler bereitstellen – hätten sie überdies die Kapazität, Wasserstoff zu erzeugen und die Industrie mit den zusätzlichen Energiemengen zu beliefern, die sie benötigt, um auf CO2-freie Produktionsprozesse umzustellen. „Wenn unsere Gesellschaft wirklich Klimaneutralität anstrebt, brauchen wir das alles“, sagt Klinger.

Bis es so weit ist, will er mit seinem Team in Greifswald Schritt für Schritt weitermachen. In den kommenden Experimentierphasen soll die Temperatur im Magnetring sukzessive auf 50 bis 70 Millionen Grad erhöht, die Bestandsdauer eines stabilen Fusionsplasmas auf eine halbe Stunde gesteigert werden. Die Apparatur kann nach Klingers Einschätzung noch mindestens zehn Jahre spannende Erkenntnisse liefern. Dass der Fortschritt langsam geht, schreckt ihn nicht. „Der Energiehunger der Welt wird immer weiter steigen“, sagt der Physiker. „Was wir hier machen, ist in jedem Fall sinnvoll, auch wenn die Fusion im großen Stil womöglich erst für die nächste Generation bereitstehen wird.“

Die Bilder dieses Textes stammen von Nils Stelte.

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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