Kai Grehn im Porträt - Magier der Töne

Der preisgekrönte Regisseur Kai Grehn arbeitet in einem lange Zeit unterschätzten Genre: Der Berliner macht Hörspiele – und zählt hier zu den ganz Großen.

Kai Grehn / Foto: Julia Steinigeweg
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Autoreninfo

René Schlott, geboren in Mühlhausen/Thüringen, ist Historiker und Publizist in Berlin.

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„Die Musik, der Mond und die Träume sind meine magischen Waffen.“ Diesen poetischen Satz des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa bezeichnet Kai Grehn als Leitmotiv seiner Arbeit. Seit mehr als drei Jahrzehnten inszeniert der Regisseur Hörspiele. Die Liste seiner Werke umfasst mehr als 70 Produktionen. Grehn ist somit Magier der Töne, der bekannte, aber auch unbekannte Werke der Weltliteratur zum Klingen bringt. Zu seinem vielfältigen Oeuvre gehören Vertonungen von Emily Brontës „Sturmhöhe“, Henry David Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ und Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Aber auch Werke von Kafka, Hölderlin oder Herta Müller.

Ein Kritiker der FAZ schrieb einmal über eines von Grehns Hörspielen, der Berliner Regisseur baue seinen literarischen Vorlagen eigene Räume aus Stimmen, Geräuschen und Musik. Und was Grehn anfasst, ist meist preisverdächtig. Den Deutschen Hörbuchpreis etwa bekam er bereits 2012 für eine Vertonung von Charles Baudelaires „Die künstlichen Paradiese“. Regelmäßig landen Grehns Produktionen in den Bestenlisten der Radioanstalten. Es sind Gesamtkunstwerke aus grafisch und drucktechnisch aufwendig gestalteten Booklets. Eines seiner jüngsten Hörbücher, eine Vertonung von Briefen und Gedichten der US-amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830–1886), war wegen seines Cover-Artwork für den Titel „Schönstes Buch des Jahres 2023“ nominiert. 

Mit dem Konzept unterm Arm

Grehn, der 1969 im mecklenburg-­vorpommerschen Grevesmühlen geboren wurde und in Ostberlin aufwuchs, lebt heute am Müggelsee, im ruhigen Südosten Berlins, fernab der aufgeregten Hauptstadtmitte. Für einen lärmempfindlichen Mann scheint dies genau die richtige Umgebung zu sein. Und Grehn selbst ist ein leiser, eher zurückhaltender Mensch. Er bringt lieber andere zum Sprechen – darunter so bekannte Schauspieler wie Volker Bruch, Martin Wuttke, Nina Hoss und Birgit Minichmayr.
 

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Alles begann während Grehns Studium an der Berliner Ernst-Busch-Schauspielschule Anfang der 1990er Jahre. In einer Vorlesung stellt ein Professor den französischen Theatertheoretiker Antonin Artaud und dessen Konzept eines „Theaters der Grausamkeit“ vor. Als Grehn erfährt, dass Artauds Hörcollage „Schluss mit dem Gottesgericht“ 1946 wegen ihrer Radikalität noch vor Ausstrahlung verboten wurde, ist er wie elektrisiert. Zusammen mit einer befreundeten Band plant er eine Neuinszenierung. Mit dem Konzept unterm Arm und ohne Termin marschiert er direkt ins Büro des damaligen Hörspielverantwortlichen beim SFB. Grehn hat Erfolg, das Stück wird finanziert und gesendet. 

Das Studium hängt der Mittzwanziger danach an den Nagel. Er widmet sich fortan nur noch eigenen Projekten. Grehn, der sich zwischenzeitlich mit einem Job als Postzusteller über Wasser hält, probiert sich in ganz verschiedenen Genres aus. Er arbeitet als Regisseur beim Tanztheater, gründet sein eigenes Theater mit dem Namen „Fleur du mal“, schreibt Bühnenstücke und veröffentlicht eigene Prosa- und Lyrikbände. Der Autor, der als Kind eigentlich Archäologe werden wollte, macht sich sogar daran, Autoren wie William Blake, Walt Whitman und William S. Burroughs ins Deutsche zu übersetzen.

Auf Spucktüten in Flugzeugen

Sein neuestes Werk ist eine Vertonung von Nick Caves Buch „The Sick Bag Song“, in dem die Gedanken und Erinnerungen festgehalten sind, die der Musiker während einer US-Tour auf den Spucktüten in Flugzeugen festgehalten hat. Das in jeder Hinsicht außergewöhnliche Hörbuch hat es auf die Shortlist der BBC Audio Drama Awards als Best European Drama geschafft. Außerdem landete es im Januar auf Platz eins der renommierten Hörbuchbestenliste des Hessischen Rundfunks und wurde als eine von drei Produktionen sogar als „Bestes Hörspiel des Jahres“ für den Deutschen Hörbuchpreis 2024 nominiert. Begeistert erzählt Grehn von der Zusammenarbeit mit Oscar-Preisträgerin Tilda Swinton, die in diesem Hörbuch nicht nur spricht, sondern auch singt. Für die Aufnahmen ist Grehn im letzten Jahr sogar eigens nach Edinburgh geflogen. Doch große Frauen scheinen es ihm ohnehin angetan zu haben. Ebenso enthusiastisch nämlich berichtet er von der Zusammenarbeit mit Anne Clark oder Jeanne Moreau.

Sein großes Idol aber ist der Schriftsteller Imre Kertész. Dessen „Roman eines Schicksallosen“ bezeichnet Grehn als „Schlüssellektüre seines Lebens“. Der Literaturnobelpreisträger hat vor einigen Jahren sogar mal an Grehns Hörcollage „Messages to 2099“ mitgewirkt, einer Sammlung von gut 40 Botschaften an die Menschheit im Jahr 2099. Im Jahr 2007 wurde sie einmal gesendet. Seither liegt sie unter Verschluss. Doch ein Magier kann warten. In 75 Jahren wird er das Werk wieder hervorzaubern.

 

 

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