Intellektuelle in Russland - Ich sehe keine andere Möglichkeit, als auszuwandern

Als Moskauer Intellektuelle, als Hochschuldozentin und Literaturwissenschaftlerin hat Anna Kukes es immer als ihre Mission angesehen, die russische Kultur und die russische Sprache zu bewahren. Der Krieg in der Ukraine hat ihren Glauben an das Land zerstört. Hier schreibt sie, warum sie für sich und ihre Familie keine Zukunft mehr in Russland sieht und nach Israel emigrieren wird.

Die Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität, an der Anna Kukes bis dato lehrt / Wikimedia Commons
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Autoreninfo

Anna Kukes ist Literatur- wissenschaftlerin, Übersetzerin aus dem Deutschen und Dozentin am Lehrstuhl für Germanistik an der Russischen Staatlichen Universität der Geisteswissenschaften.

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Als ich und meine Familie 2018 die israelische Staatsbürgerschaft erhielten, dachten wir nicht ernsthaft daran, aus Russland auszuwandern. Wir, Staatsbürger Russlands, nahmen die zweite Staatsbürgerschaft nicht an, um alles in Russland aufzugeben, in ein anderes Land zu fliehen und dort im nicht mehr jüngsten Alter unser Leben von Null an neu aufzubauen. Wir träumten davon, unsere Grenzen zu erweitern, unsere Vergangenheit in Russland nicht von uns abzuschneiden, sondern Weltbürger, Kosmopoliten zu werden.

Aber wer hätte es wissen können! 2018 gab es keinen Krieg. Jetzt sind wir mitten im Krieg. Und all unsere Zukunftspläne sind hinfällig. Meine Familie und ich hatten noch vor Jahren viele Möglichkeiten, Russland zu verlassen, und wahrscheinlich hätten wir es schon damals tun sollen, aber aus irgendeinem Grund glaubten wir an das Land, in dem wir geboren wurden. Ja, wir glaubten an Russland, wir fühlten uns voll und ganz als Träger und Vertreter seiner Kultur und Sprache.

Während des Zweiten Weltkriegs hat die große russische Dichterin Anna Achmatowa geschrieben, dass die russische Intelligenz eine besondere Mission hat: die russische Kultur und die russische Sprache, das russische Wort zu bewahren. Wahrscheinlich klingt es lächerlich und pathetisch, aber ich und meine Familie als Philologen, Übersetzer, Journalisten, Restaurierungsarchitekten hatten das Gefühl, dass auch wir eine solche Mission haben – wir dachten, wir seien Hüter der russischen Kultur. Und das hat uns in Russland gehalten.

Wir glauben nicht mehr an Russland

Dieser Krieg hat alles zerstört. Hauptsächlich unseren Glauben an unser Land. Wir glauben nicht mehr an Russland, wir haben unseren Glauben verloren, wir fühlen uns bankrott und sehen keine Zukunft für uns in unserer Heimat – und schon gar nicht für unsere Kinder. Deswegen ist uns nur ein Ausweg geblieben: Emigration, Auswandern, Russland verlassen. Wahrscheinlich für immer.

Das kann ich mir jetzt ganz gut vorstellen, wie auch mehrere andere Intellektuelle in Moskau. Manche, darunter einige meiner Freunde und Kollegen, sind schon ausgewandert, denn ihre Freiheit und ihr Leben waren bedroht. Im Vergleich zu ihnen kommt mir mein Leben noch ziemlich erträglich vor, ich werde nicht direkt bedroht, ich habe meine Arbeit nicht verloren, ich darf immer noch an der Universität unterrichten, und mein Sohn besucht eine kleine jüdische Schule, in der die Ausbildung noch nicht durch Propaganda ersetzt wurde. Aber wie geht es weiter?

Es tut mir leid um mein Land, mir ist weh um mein Land, aber langsam sehe ich keine andere Wahl mehr als auszuwandern. Ich bin glücklich, dass mein Ehemann und ich uns in dieser Frage einig sind, das kommt nicht in allen Familien vor. Die Familien in Russland sind genauso gespalten, zerrissen, wie die Gesellschaft. Viele Freunde von mir, die Russland in den letzten Monaten verlassen haben, mussten sich anhören, wie ihre Verwandten ihnen hinterherschrien: „Ihr seid Verräter!“ Ich bin darauf vorbereitet, dass einige meiner Verwandten mir dasselbe hinterherschreien, wenn mein Mann, mein Sohn und ich Ende dieses Jahres Russland den Rücken kehren. Das ist mir schon egal. Ich werde nicht einmal streiten. Sie mögen über mich denken, was sie wollen.

Die russische Sprache bleibt für immer bei mir

Ich habe niemanden verraten. Russische Kultur, russische Sprache bleiben für immer bei mir, sie sind meine Muttersprache und Mutterkultur, sie sind für immer ein Teil von mir. Russland habe ich nie verraten. Und wenn sie den Mann meinen, der sich Präsident der Russischen Föderation nennt – ich habe nie für ihn gestimmt, er ist ein Niemand für mich. Und für das, was er mit dem eigenen Land und jetzt mit anderen Ländern gemacht hat, wartet das Haager Tribunal auf ihn. Wie auch auf die ihm Nahestehenden, seine Mittäter.

Diejenigen, die jetzt den Krieg und das Regime unterstützen, die jetzt laut schreien „Ihr seid Verräter!“, die mögen sich für echte Patrioten halten, dabei haben sie keine Ahnung, was es bedeutet: sein Heimatland zu lieben und daran zu glauben. Wenn es schon um Patrioten geht, so waren die echten Patrioten in der Geschichte Russlands immer wieder diejenigen, die ihre Heimat verlassen und im Exil leben mussten, denn in Russland wurden sie von den Regimen schon immer verfolgt und bedroht.

So musste zum Beispiel Alexander Herzen in der 1860er-Jahren wegen seiner politischen und menschlichen Ansichten Russland verlassen, weil er Zar Nikolai I. viel zu revolutionär und oppositionell war. Herzen forderte unter anderem die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Zensur, er war für Meinungsfreiheit und liberale Reformen der Ausbildung in Russland. 1863 brach in Polen, das damals Teil des Russischen Reiches war, ein Aufstand gegen die russische Herrschaft aus. Zar Alexander II. ließ Truppen in Polen einmarschieren und den Aufstand brutal niederschlagen. Herzen wurde damals gefragt, auf wessen Seite er stehe. Er antwortete: Ich bin für Polen, weil ich für Russland bin.

Ich würde mich nicht mit Alexander Herzen vergleichen, aber ich sage: In dieser Situation bin ich für die Ukraine, denn ich bin für Russland! Ich bin so und ich werde so bleiben, wo auch immer ich den Rest meines Lebens verbringen werde.

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