Identitätspolitik im Marketing - Bunte Fahnen – aber nur, wo kein Widerstand zu erwarten ist

Während des Pride Month präsentieren sich Konzerne gerne mit bunten Fahnen im Logo. Auch die FIFA gibt sich im Ausland gerne pluralistisch. Aber nur in westlichen Ländern. In Ländern des Mittleren Ostens, in denen Homophobie Staatsräson ist, bleibt alles beim Alten. Diese Heuchelei ist kein neues Phänomen.

Regenbogenfahne am Gebäude der britischen Privatbank Coutts & Co / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Es ist kein neuer Trend, dass Unternehmen, die sich durch ihren Einsatz für faire Arbeitsbedingungen hervorgetan haben, hüstel, ihre „identitätspolitisch“ sensible Seite präsentieren. Amazons Filmproduktionsgesellschaft, Amazon Studios, hat Diversity-Produktionsrichtlinien eingeführt, die ihr „Eintreten für Diversität, Inklusion und Gerechtigkeit“ regeln sollen. Ebenjener Großkonzern, der chronisch unterbezahlte Lagerarbeiter mit einer Überwachungssoftware unter Druck setzt.

Der Textilkonzern H&M, dessen Produkte bis vor kurzem mehrheitlich in südostasiatischen Billiglohnländern von Kindern hergestellt werden, hat nach Rassismusvorwürfen gegen eine Werbekampagne eine „Diversity-Managerin“ eingestellt, damit seine Produkte „sensibel“ vermarktet werden.

Der Lebensmittelhersteller Nestlé, der das Grundwasser in wasserknappen Ländern des südlichen Afrikas abpumpt, nennt seine Keks-Sorte „Negrita“ inzwischen „Chokita“ – angeblich als Zeichen des „Respekts und der Nicht-Diskriminierung“. Die Liste ließe sich lange weiterführen.

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Nur, solange es nicht ans Geld geht

So weit kann es mit dem Respekt nicht her sein. Als in Alabama vornehmlich schwarze Lagerarbeiter die erste Amazon-Gewerkschaft der USA gründen wollten, wurden sie vom Konzern aggressiv bekämpft. Unter den Produktionsbedingungen von H&M leiden vor allem nicht-weiße Menschen. Dasselbe gilt für Nestlés Wasserabpumpprogramm.

Großkonzerne lieben Anti-Diskriminierung, solange sie auf der symbolpolitischen Ebene bleibt und nichts kostet. Ökonomische Anti-Diskriminierung, oder, sagen wir, Kritik an Ausbeutung, würde die Verhältnisse infrage stellen, auf deren Boden sie wachsen. Deswegen ist es keine Überraschung, dass in den Diversity-Richtlinien der Amazon Studios Klassenfragen keine nennenswerte Erwähnung finden.

Übertroffen wird diese Heuchelei nur von den Konzernen – darunter Mercedes, BMW, Lenovo –, die im Juni während des Pride Month in den sozialen Netzwerken ihre Logos bunt färben. Aber nur in den westlichen Staaten. In Ländern des Nahen Ostens, in denen Homophobie Staatsräson ist, bleibt alles beim Alten. Na gut, es gibt einen Verband, der sogar dieses Ausmaß an Heuchelei noch übertrifft. Die FIFA.

Die WM in Katar, ein Winteralbtraum

Dank der Korruptionsanfälligkeit der FIFA findet die nächste Fußball-Weltmeisterschaft nicht im Sommer, sondern im Winter statt. In Katar, einem Land, das mit Fußball bisher so viel am Hut hatte wie Nestlé mit „Respekt und Nicht-Diskriminierung“. Deswegen mussten überhaupt erst einmal Stadien und eine passende Infrastruktur aufgebaut werden. Mehr als 6.500 Gastarbeiter, vorwiegend junge Männer, sind dabei ums Leben gekommen (Stand 2021), seitdem das Wüstenemirat im Jahr 2010 den Zuschlag für die WM-Ausrichtung erhalten hat.

Homosexuelle Handlungen sind in Katar übrigens verboten. Die Strafen sehen Auspeitschen, Inhaftierung oder sogar die Todesstrafe vor – wobei letztere zumindest bislang nicht vollstreckt worden sein soll. Ob die FIFA sich im November, wenn die WM beginnt, so bunt zeigt wie derzeit auf ihrem deutschen Twitter-Profil, darf bezweifelt werden. Ein katarischer Sicherheitsverantwortlicher hat vor Kurzem schon empfohlen, keine Symbole wie Regenbogenfahnen mitzubringen – aus Sicherheitsgründen.

Bunte Flaggen, wo kein Widerstand zu erwarten ist, der die Umsätze gefährdet; Antidiskriminierungsrichtlinien und sprachpolitische Maßnahmen anstatt Lohnerhöhungen und Arbeitnehmerrechte – freuen können sich darüber nur Dax-Vorstände, egal, ob sie „bunt“ sind oder nicht.

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