Gesellschaft und Anthropologie - Sind wir gut, böse oder moralisch indifferent?

Von welchen Grundannahmen über die Natur des Menschen gehen politische Entscheidungen und staatliches Handeln aus? Das menschliche Böse ist Realität, es lässt sich nicht mit Wohlfühlgesten, Verhandlungsangeboten oder Integrationsprogrammen aus der Welt schaffen.

Venezianische Maskierung / dpa
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Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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Haben wir, in Anbetracht der jüngsten Gewaltentwicklungen und blutigen Exzesse weltweit, überhaupt ein angemessenes Menschenbild? Und falls nicht, müssen wir dann nicht auch die Politik grundsätzlich überdenken? Die kulturell und religiös vielfältige Gesellschaft, heterogen, zugleich friedfertig und tolerant, ist das explizite politische Ideal in Deutschland und Europa. 

Die Europäische Union nennt unter ihren Zielen und Werten den „Beitrag zur Solidarität und gegenseitigen Achtung der Völker, zu freiem und fairem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte“ sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU-Grenzen. Wie gut oder vielmehr schlecht dies in Wirklichkeit funktioniert, erkennt man an der seit über einem Jahrzehnt schwelenden Flüchtlingskrise in Europa, an den aktuellen Hungerkatastrophen der südlichen Hemisphäre, den bestialischen Terrorattacken der palästinensischen Hamas und der rücksichtslosen russischen Aggression in der Ukraine. Und damit sind nur die gegenwärtigen Großkonflikte genannt, auf die der westliche Medienfokus liegt. 

Hinzukommen (nur wenige Beispiele einer schier endlosen Liste der menschlichen Niedertracht) marodierende Söldner in den Staaten Zentralafrikas, bürgerkriegsähnliche Gewaltexzesse lateinamerikanischer Drogenkartelle und nicht zuletzt das Flüchtlingsdrama der Armenier, ein trauriges Déjà-Vu ihrer Geschichte. Das Blut, die Grausamkeit, der Mord und die bisweilen obszön zur Schau gestellte Freude über all diese Verbrechen und den zugefügten Schmerz laufen parallel zur wortreichen Hilflosigkeit und Überforderung europäischer und deutscher Politiker. 

Die Tatsache des Antisemitismus

Während hierzulande das Wort „Staatsräson“ inflationäre Verwendung unter Amts- und Verantwortungsträgern findet, laufen im Hintergrund barbarische Bilder triumphierender Hamas-Sympathisanten auf den Straßen Berlins, die dem offiziellen Postulat der Solidarität mit Israel geradezu Hohn sprechen. Süßigkeiten werden verteilt, um das Ermorden von Zivilisten und das Schänden ihrer Leichname festlich zu begehen. Es gibt Versuche, Synagogen in Brand zu setzen. Wer öffentlich eine Kippa trägt, begibt sich in Lebensgefahr. Das ist die völlige Perversion eines multikulturellen Gesellschaftskonzeptes, das ganz offensichtlich gerade dann nicht funktioniert, wenn es sich bewähren muss, in Situationen großen äußeren Drucks. 

Es gibt sehr viele Menschen in Deutschland, die die Lehren aus der deutschen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert nicht gezogen haben – aus dem einfachen Grund, weil diese Geschichte nicht die ihrige ist. Neben dem historisch tradierten Antisemitismus christlicher, vor allem protestantischer Prägung in Deutschland und Europa, der notorisch kleingeredet wird, gibt es hierzulande auch einen aus dem Nahen Osten immigrierten Antizionismus und Antiisraelismus, der neuerdings auf den Straßen virulent geworden ist. 
 

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Irgendetwas ist wohl schiefgelaufen bei der Pluralisierung westeuropäischer Gesellschaften. Dabei sollte doch gerade die deutsche Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert ein für alle Mal deutlich gemacht haben, dass eines der furchterregendsten Gesichter des Bösen die schrankenlose Gewalt gegen Minderheiten ist. Wenn diese nicht glaubhaft unterbunden werden kann, steht alles auf dem Spiel. 

Heute werden wieder die Geister der dunkelsten Zeiten heraufbeschworen; es ist ordnungspolitisch fahrlässig, darauf nicht mit aller Härte, ja, mit noch nicht dagewesener Härte, zu reagieren. Das Auseinanderklaffen von politischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit lässt sich nur um den Preis des völligen Realitätsverlustes überspielen, mit allen sozialen und zivilisatorischen Folgen.

Die pluralistische Vision als Zerrbild 

Im Grundsatzprogramm der deutschen Partei Bündnis 90/Die Grünen heißt es: „Unser Leitbild ist das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft bei Anerkennung ihrer kulturellen Vielfalt.“ Recht gerne, wenn dies nur so einfach wäre! Alle Menschen sind auf ihre persönliche und unnachahmliche Weise anders, interessant und einzigartig, sie kommen gut miteinander klar und können ihre Divergenzen stets respektvoll und konstruktiv beilegen. Soweit der Wunschtraum. 

„Wenn eine Gesellschaft tolerant wird“, bemerkte einmal Arnold Gehlen, „dann muss sie entweder in sich oder außer sich keine Feinde mehr haben oder ihre Beschwichtigungsformeln für ausreichend halten.“ Vielleicht ist das Aushalten von Diskordanzen doch nicht die höchste aller Sozialtugenden? Die große, im Raum stehende Frage ist der Umgang mit Gewalt.

Woher bloß kommt die manifeste Bereitschaft des Menschen, sämtliche Zivilisationsbestrebungen periodisch zu atomisieren? Ressentiment und Gewaltausübung, Hass und Blutdurst, Brutalität und Machtrausch sind ubiquitär und unausrottbar. Der Mensch als sittliches Wesen ist eben nur oberflächlich zivilisiert, das Maßhalten liegt ihm weit weniger als der Exzess. Kultur, wie schon Sigmund Freud wusste, bringt neben einigen fraglosen Errungenschaften auch ein tiefes Gefühl des Unbehagens hervor. Dieses Unbehagen entlädt sich regelmäßig und in allen Gesellschaftsformen durch physische Gewalttaten, Vandalismus und psychische Grenzüberschreitungen.

Massenmörderische und grausame Figuren wie Achill, Macbeth, Vlad der Pfähler oder Captain Ahab sind in diesem Sinne wesentlich repräsentativer für die menschliche Spezies (und den blutigen Verlauf ihrer Geschichte) als etwa ökologisch bewegte Aktivisten oder schnurrbärtige Hipster in ihren Großstadtbiotopen. Diese Miniaturen intellektuellen Formats sind gewiss nicht die tiefsten Deuter des menschlichen Destruktionstriebes.

Kann das gutgehen?

Die Vorstellung, dass sich unsere Aggressionspotenziale durch Erziehung, gesellschaftliche Partizipation und den Slogan „Wohlstand für alle“ domestizieren ließen, zeugt von einer unfassbaren Rührseligkeit und Selbstüberschätzung. Ein schlimmer Verdacht drängt sich auf. Das Heraufdämmern eines neuen Eisernen Zeitalters mit seinem vielfach überlagerten, überkomplexen Katastrophenpotenzial stößt auf eine politische Entscheidergeneration, deren geistige und existentielle Prägungen sich auf die Lektüre Pippi Langstrumpfs und den Abbruch von sozialwissenschaftlichen Studiengängen beschränken. Kann das gutgehen, in einer Gegenwart, über der sich einmal mehr die Büchse der Pandora geöffnet hat?

Pluralistische Gesellschaften der Vergangenheit, man denke etwa an die mittel- und osteuropäischen Vielvölkerstaaten, blieben nur so lange stabil, als ein kollektiv verpflichtender Wertekanon, eine Vorstellung davon, wie menschliches Zusammenleben orchestriert werden sollte, weder grundsätzlich noch praktisch in Frage gestellt wurde. Sobald dies jedoch geschah, stürzten diese Gesellschaften tumultuös in sich zusammen. Kriege, Bürgerkriege und Genozide waren die unmittelbare Folge dieser Gewaltkaskaden. Pluralismus und Multikulturalismus sind also konsensbedürftig und haben enge Grenzen innerhalb des Systems, in dem sie sich entfalten. Werden diese Grenzen überschritten oder aufgekündigt, droht das System selbst zu implodieren.

Dem Point of no Return, an dem innere Konflikte nicht mehr eingedämmt werden können, nähern sich Deutschland und Europa mittlerweile an. Was ist zu tun? Eine Reform der Migrationspolitik, ein konsequenteres Einfordern europäischer Werte und eine klare Aussage darüber, welches Sozialverhalten geduldet werden kann und welches nicht, scheinen nun unabdingbar. Anything goes gehört definitiv der Vergangenheit an.

Was folgt aus der Geschichte der Gewalt?

Jenseits der Tagespolitik und der Frage des situativ angepassten Handelns gibt es noch eine weitere, wesentlich tiefergehende Betrachtungsebene. Die aufflammende Gewalt in ihrer brutalsten Form wirft ein Schlaglicht auf die Fähigkeit des Menschen, das Böse zu tun, ja, böse zu sein. Dies ist keine empirische Annahme, sondern eine ontologische Aussage. Auch humanitäre Ideale dürfen sich nicht über die Natur des Menschen täuschen. 

Stimmt etwas nicht mit der Welt oder stimmt etwas nicht mit unserer Wahrnehmung der Welt und ihrer menschlichen Akteure? Womöglich haben wir uns, glücklich betäubt von 70 Jahren Frieden und Freiheit in Europa, verhängnisvollen Irrtümern über einige grundlegende Eigenschaften der menschlichen Natur hingegeben. Eine politische Soziologie jedoch, die anthropologische Grundannahmen über den Menschen ausblendet oder erst gar nicht zur Kenntnis nimmt, führt notwendigerweise zu einem scheiternden Gesellschaftsentwurf. Die blutige Aggression, die wir nicht sehen wollen oder verharmlosen, wird uns selbst zum Verhängnis.

„Es besteht kein Zweifel“

Aber darf man nicht von einer besseren Welt träumen? Man muss es sogar, doch ohne sich Illusionen über die handelnden Personen – uns Menschen! – zu machen. Hobbes schreibt: 

„Es besteht kein Zweifel, dass beide Formeln wahr sind: der Mensch ist dem Menschen ein Gott und der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Die erste, wenn wir die Bürger untereinander vergleichen, die zweite, wenn wir die Staaten untereinander vergleichen. Hier müssen selbst die guten Menschen wegen der Verderbtheit der Bösen, wenn sie sich schützen wollen, auf die kriegerischen Tugenden der Kraft und der List zurückgreifen, d.h. auf die Raubgier der Tiere.“ 

Zwar gibt es einen technologischen Fortschritt, nicht aber einen moralischen. Die Tatsache, dass im westlichen Europa in den letzten Jahrzehnten weitestgehend auf exzessive Gewalt in systematischer, gar staatlicher Form, verzichtet wurde, spricht für stabile Institutionen auf Grundlage einer breiten und ungebrochenen Wohlstandserfahrung. Saturiertheit ist aber kein Indiz für ethische Progression. Wo diese dahinschmilzt, wird jene fragwürdig. Vom neuerdings ausgerufenen Anthropozän darf man also getrost das Fürchterlichste erwarten.

Soziale Existenz und das radikal Böse

Das Böse, schreibt Immanuel Kant, „ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt“. Es ist das Ende aller moralisch auferlegten Gesetze und verinnerlichten Hemmungen. Ein Mensch, der glaubt, über diesen Gesetzen und Maximen zu stehen oder diese übertreten zu können, ist bereits auf dem besten Wege, sittlich zu entgleisen. Die Annahme, dass gesellschaftliche und moralische Regeln ohne schmerzhafte Selbstbeschränkungen zu haben seien, ist eine gefährliche Doktrin. 

Soziale Existenz ist per se anstrengend, kraftraubend und partiell zumindest absurd. Das ist aber keine Rechtfertigung für terroristische Amokläufe und sonstige Gesetz- und Verfassungsbrüche. Die Umleitung negativer sozialer Affekte auf stigmatisierte Minderheiten gehört leider zu den stets wiederkehrenden Gewaltmustern. Dagegen kann sich eine Gesellschaft akut nur durch Härte gegen diejenigen wappnen, die diese Affekte nicht unterdrücken, sondern blutig und propagandistisch ausagieren. 

Ebenso führen soziale Frustration und Perspektivlosigkeit ultimativ zu irrationaler Gewalt. Wo das politische System nicht in der Lage ist, diese Frustration positiv aufzulösen oder zumindest zu kanalisieren, droht Ungemach. Die menschliche Natur auf die Probe zu stellen, heißt bereits, sie moralisch zu überschätzen. Während wir auf unseren Bildungswegen permanent angeleitet werden, konstruktiv zu denken und zu artikulieren, leben wir in starkem Kontrast dazu in einem realen Umfeld der Bedrohung, der militanten Intoleranz und der Zerstörungswut. Doch wie lässt sich der Dämon der Gewalt überhaupt bekämpfen, wenn die Analyse seiner Ursachen bereits tabuisiert wird? Es würden dabei allerlei unliebsame anthropologische Wahrheiten zu Tage treten. 

Der „edle Wilde“

Ist der Mensch moralisch krank, ist es die Gesellschaft? Der „edle Wilde“ in der Natur, von dem Rousseau behauptet, er sei besser als der Mensch in der Zivilisation, ist eine Erfindung der Aufklärung. Niemand ist ihm bislang begegnet. Zuhauf jedoch sehen wir Menschen, die emotional und real überfordert sind. Das Ressentiment ist eine der stärksten Triebfedern des Hasses und all seiner Manifestationen, die von hate speech bis zum Völkermord reichen. Eine Politik, die von einem negativen Menschenbild ausgeht, ist im besten Sinne Realpolitik, die von wirklichen Gegebenheiten und nicht von Wunschszenarien ausgeht. Nämlich davon, wie der Mensch ist, und nicht davon, wie er sein könnte oder sein sollte.

In seinem Gedicht „Die Maske des Bösen“ von 1942 schreibt Bertolt Brecht: „An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk / Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack. / Mitfühlend sehe ich / Die geschwollenen Stirnadern, andeutend / Wie anstrengend es ist, böse zu sein.“ Das Böse zu bekämpfen und niederzuringen ist leider nicht minder anstrengend. Heute ist es wieder zu einem epischen Kampf geworden, der womöglich keinen Gewinner kennt.
 

Steffen Mau und Wolfgang Merkel im Gespräch mit Mathias Brodkorb
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