Genuss im Urlaub - Amrum: Es lebe die Entschleunigung

Unser Genusskolumnist hat Urlaub gemacht, auf der Insel Amrum. Viel los ist da nicht, und das wird hoffentlich so bleiben. Denn Trubel hat er in seinem Berliner Alltag genug.

„Meeresspargel“ Queller auf Amrum / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Die sommerliche Urlaubssaison nimmt jetzt Fahrt auf, und die großen aktuellen Krisen wie Krieg und Inflation lassen für viele Menschen den Wunsch nach einer Auszeit fast noch dringlicher erscheinen. Allerdings ist der Anteil derjenigen, die sich eine mehr als fünftägige Urlaubsreise weder leisten können noch wollen, leicht gestiegen, und viele Menschen planen, in ihrem Urlaub finanziell etwas kürzer zu treten. Doch generell ist laut der Tourismusbranche die Reiselust der Deutschen ungebrochen. Die beliebtesten Urlaubsziele liegen nach wie vor im Inland, und dabei besonders an Nord- und Ostsee sowie in Bayern. Es folgen die großen südlichen Destinationen wie Spanien, Italien und Türkei sowie Frankreich, Skandinavien, Österreich und Kroatien.

Zwischen Wanderurlaub und Rundumbespaßung

Aber was will man eigentlich im Urlaub? Natürlich gibt es ein paar Allgemeinplätze wie Erholung, raus dem Alltagstrott, was Besonderes erleben etc. Doch die Erwartungen sind sehr unterschiedlich, Familien mit Kindern ticken da sicherlich anders als Natur-, Kultur- und Abenteuertouristen oder eher party- und eventorientierte Menschen. Angeboten wird so ziemlich alles, von der Sauftour an den Ballermann über die All-inclusive-Rundumbespaßung an mehr oder weniger austauschbaren Orten, bis hin zur Wander- oder Fahrradtour durch eher ruhige Gegenden oder exklusive Fernreisen. Auch die Spielräume für den Individualtourismus, bei dem man die Anreise und vielleicht noch die Unterkunft vorab bucht und sonst gar nichts, sind sehr groß.

Kein Flugplatz, kein Golfplatz, kein Luxus-Spa

Diese Angebotsdiversifizierung lässt sich auch kleinräumig beobachten, etwa auf den nordfriesischen Inseln, deren Besuch kurz vor der eigentlichen Hauptreisesaison, also Anfang bis Mitte Juni, für mich zu einer hochgeschätzten Gewohnheit geworden ist. In den letzten Jahren war es stets Amrum.  

Amrum ist so etwas wie die kleine, verschlafene Schwesterinsel von Sylt und Föhr. Sylt lebt von seinem allmählich verblassenden Nimbus und ist immer noch für Promi-Storys und andere Schlagzeilen gut. Und Föhr versucht da seit einigen Jahren wenigstens ein bisschen mitzuhalten. Dort hat man schließlich auch einen kleinen Flugplatz, eine Golfanlage und ein fast schon mondänes Wellness-Spa-Resort. Und natürlich jede Menge Bausünden an der Küste. Sogar ein bisschen Event-Kultur und Nightlife gibt es da inzwischen.

Wenig kann ganz viel sein

Und auf Amrum? Wer hier Urlaub macht, sollte sich vor allem darauf einlassen wollen, dass hier wenig los ist. Aber eben auch unglaublich viel, denn es gibt viel Ruhe und äußerst vielfältige Landschaftsformationen, vom schier unendlichen Kniepsand über raue Dünenlandschaften bis hin zu einem skurril anmutenden Binnensee und großen Brut- und Rastgebieten auf der Wattseite der Insel, wo unzählige Vögel ihren Lebensraum haben. Wenn man dort sein Feriendomizil hat, kann man viele Stunden damit verbringen, immer wieder zuzugucken, wie das Wasser kommt, wieder geht, wieder kommt und wieder geht. Mehr chillen geht eigentlich nicht.

 

Zuletzt in „Genuss ist Notwehr“ erschienen:

 

Das touristische Angebot ist überschaubar und äußerst bodenständig. Meistens geht es um naturkundliche oder historische Führungen bis hin zur mehrstündigen Wattwanderung zur Nachbarinsel Föhr oder Tagestrips zu den Nachbarinseln und Halligen. Da ist der wöchentliche Auftritt des Amrumer Shanty-Chors in der „Strandbar Seehund“ schon ein außergewöhnliches kulturelles Highlight. Ein bisschen mehr wird in der „Amrumer Metropole“ Norddorf geboten, wo es auch einen Veranstaltungssaal und ein Kino gibt.

Gastronomie in der Krise

Die meisten Besucher wohnen in Ferienwohnungen oder -häusern, es gibt relativ wenige Hotels. Aber man muss ja auch was essen. Zwar findet man auf der Insel weder Sterne-Köche noch Promi-Restaurants, aber ein recht breit gefächertes Angebot von der Fischbude bis hin zu einfachen oder leicht gehobenen Cafés und Restaurants. Die haben teilweise gewaltige Schwierigkeiten. Kaum war der Corona-Schock einigermaßen überwunden, haben nunmehr explodierende Energie- und Materialkosten nebst Arbeitskräftemangel und inflationsbedingter Konsumzurückhaltung neue, teilweise existenzbedrohende Probleme geschaffen.

Tatsächlich haben nicht nur die Krabbenbrötchen für mittlerweile 10 Euro, sondern auch die Preise auf den Speisekarten der Cafés und Restaurants auf uns eine eher abschreckende Wirkung gehabt. Ferienwohnungen bieten aber eine Alternative, die auf Amrum alles andere als ein Notbehelf ist, sondern eine sehr genussvolle Erfahrung sein kann: die Selbstversorgung.

Zum Fischer fahren, Krabben pulen, Queller pflücken

Die Vorbereitung auf eine tolle Mahlzeit kann ungefähr so aussehen: Morgens mit dem Fahrrad zum Verkaufsstand des einzigen Krabbenfischers der Insel zum Seezeichenhafen fahren. Der hat in der Regel nicht nur frische Krabben, die man in seiner Unterkunft dann selber pulen muss, sondern auch verschiedene Fische, je nach Tagesfang. Mal gibt es Seezungen, mal Steinbutt, Schollen oder auch Flundern, mitunter auch Knurrhahn, Dornhecht oder gar Sardinen und kleine Tintenfische.

Was man noch dazu braucht, bekommt man problemlos in den recht gut sortierten Edeka-Läden in den drei Hauptorten Wittdün, Nebel und Norddorf. Anständige Bäcker gibt es ebenfalls. Und einmal in der Woche gibt’s auch einer Bauernmarkt mit regionalem Obst, Gemüse, Käse, Fleischprodukten und kleinen Leckereien, hauptsächlich aus Föhr.

Doch die ultimative Veredelung für ein Krabbenrührei oder eine Seezunge vom Fischer gibt es nirgends zu kaufen. Dafür muss man nach Norddorf fahren und zu Fuß auf einem Bohlenweg durch das Vogelschutzgebiet zum Watt, natürlich bei Ebbe. Denn dort wächst der Queller, der kommerziell nicht genutzt werden darf und eigentlich als Wildpflanze streng geschützt ist, doch in Kleinstmengen für den Privatgebrauch vorsichtig gepflückt werden darf. Roh oder kurz gebraten eine wahre Delikatesse.

Eine Insel, die dem Zeitgeist trotzt

Doch etwas anderes hat mir in diesem Jahr besonders geholfen, das erholsame Wesen dieser Insel noch besser zu verstehen. Im Bücheregel unserer Ferienwohnung lag u.a. ein „Amrum-Krimi“ („Flucht übers Watt“ von Krischan Koch). Leichte Urlaubslektüre, mit vielen Amrum-Details, amüsant und locker geschrieben. Aber das eigentlich Faszinierende war, dass der Roman 2009 erschienen ist und sich auf der Insel seitdem anscheinend kaum etwas verändert hat. Und das ist auch gut so. In diesem Sinne wünsche ich allen Urlaubern eine erholsame und genussreiche Zeit – egal wo und egal wie sie es gestalten.

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