„Floskel des Jahres“ - Eigenverantwortung nur für Gleichgesinnte

Zwei Journalisten haben den Begriff „Eigenverantwortung“ zur Floskel des Jahres gekürt. Mit dem Negativpreis wollen die „Floskelwolke“-Gründer für einen sorgsamen Umgang mit der deutschen Sprache plädieren. Auf Eigenverantwortung berufen darf sich nach ihrem Willen aber nur, wer als Bürger nicht zu sehr aufbegehrt und als Politiker im Sinne der Corona-Bekämpfung ordentlich durchgreift.

Ja, dürfen die das überhaupt? Corona-Demonstranten in Hamburg / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Wenn das Denken die Sprache korrumpiert, korrumpiert die Sprache auch das Denken“, notierte dereinst George Orwell. Und klar scheint, dass wir uns, wie Jens Spahn schon prophezeite, wohl viel zu verzeihen haben werden, wenn diese vermaledeite Pandemie irgendwann vorüber ist. Manch einer wird dann feststellen, dass er in der Corona-Debatte einmal zu oft über das Ziel hinaus geschossen ist. Und wieder andere werden sich wundern, warum sie auf diesen oder jenen echten und vermeintlichen Experten gehört und ihr Leben nach allerlei Pseudo- und Halbwissen ausgerichtet und dabei mit der halben Familie gebrochen haben. 

Wäre die deutsche Sprache ein denkendes, ein fühlendes Wesen, müssten wir zu Beginn der post-pandemischen Ära aber zuallererst bei ihr um Entschuldigung bitten. Denn was hat der deutsche Corona-Bürger seiner Sprache in den vergangenen zwei Seuchenjahren nicht alles angetan?! Er hat grenzinfantile Begriffe wie die „Aha-Regeln“ erfunden und salonfähig gemacht. Und er hat guten und großen Wörtern wie Solidarität oder Freiheit ihrer Bedeutung beraubt, indem er diese ins Gegenteil verkehrte.

Unfreiheit ist in Corona-Deutschland zur neuen Freiheit geworden, und Solidarität ist im besten Deutschland, in dem wir jemals lebten, zur seelenlosen Begriffshülle pandemiepolitischer PR verkommen. Denn durch politischen und gesellschaftlichen Druck erzwungene Solidarität ist halt keine Solidarität im eigentlichen Sinne, sondern bestenfalls ein großes Missverständnis. Im schlechtesten Fall aber ist es Nötigung, auch wenn alles nur gut gemeint ist, weil Impfen kein so schlechtes Mittel in Pandemie-Zeiten ist, wenn auch bei weitem nicht das einzige, um die Seuche in den Griff zu bekommen.

Wenn Sie mich fragen, würde „Solidarität“ ausgezeichnet als „Floskel des Jahres“ für das vergangene Corona-Jahr taugen, weil oft bemüht und selten verstanden. Mit weitem Abstand vor vielen anderen Begriffen, die in dieser Corona-Pandemie bisher arg inflationär gebraucht wurden, weil bisweilen auch kluge Leute nur nachreden, was ihnen andere vorsagen, wenn sie erstmal im Panikmodus sind.

Gekapert von Impfgegnern

Doch offiziell habe ich über die „Floskel des Jahres“ nicht zu entscheiden. Das tun seit geraumer Zeit die Journalisten Sebastian Pertsch und Udo Stiehl, die von der Presse als „Sprachkritiker“ bezeichnet werden. Ehrlich gesagt, fällt mir kein seriöser Werdegang ein, der einen am Ende als „Sprachkritiker“ auszeichnen würde, aber vielleicht habe ich irgendwas nicht mitbekommen, und darum soll es an dieser Stelle auch nicht gehen. Schließlich brauchen Buch- oder Filmkritiker auch keine offizielle Zertifizierung, um ihrem Job nachzugehen. Und auch Journalist ist kein geschützter Begriff, falls Sie das noch nicht wussten.

Pertsch und Stiehl betreiben seit 2014 die Internetseite „Floskelwolke“, die sich zur Aufgabe gemacht hat, Floskeln, Phrasen und Plattitüden zu sammeln. Und zwar mit Hilfe eines Algorithmus, der das Netz nach vorher festgelegten Begriffen durchforstet. Daraus resultiert der Negativpreis „Floskel des Jahres“ und die dazugehörige Pressemitteilung, die von vielen Redaktionen auch dieses Jahr wieder verlässlich übernommen wurde, ohne dass das Ergebnis oder die Methode dahinter groß hinterfragt worden wären. Zur Freude der Initiatoren, versteht sich. 

Am Ende des zweiten Pandemiejahres 2021 sind Pertsch und Stiehl nun zu dem Ergebnis gekommen, dass „Eigenverantwortung“ die „Floskel des Jahres“ sei. Ihre Entscheidung begründen sie so: „Ein legitimer Begriff von hoher gesellschaftlicher Bedeutung wird ausgehöhlt und endet als Schlagwort von politisch Verantwortlichen, die der Pandemie inkonsequent entgegenwirken. Fehlgedeutet als Synonym für soziale Verantwortung und gekapert von Impfgegnerinnen und Impfgegnern als Rechtfertigung für Egoismus.“

Keine universelle Definition

Mal abgesehen davon, dass in dem Zusammenhang ein ebenfalls äußerst floskeltauglicher Begriff in Corona-Zeiten bemüht wird, „soziale Verantwortung“ nämlich, liefern die Floskelwolkler damit eine Begründung, die viel aussagt über ihre Perspektive auf die Corona-Debatte und die Corona-Politik. Während sie der Eigenverantwortung im ersten Schritt die Bedeutung beimessen, die sie zweifellos verdient, beanspruchen sie im zweiten Schritt die Deutungshoheit über den Begriff und sprechen jenen, die nicht in ihrem Pandemie-Sinne denken und handeln, ab, sich auf ihn berufen zu dürfen; was, vorsichtig formuliert, nicht besonders nett ist.

Schließlich gibt es keine universell gültige Definition von Eigenverantwortung in dem Sinne, dass man klar abgrenzen könnte, was noch unter diese fällt und was nicht mehr. Wie über den Freiheitsbegriff eben auch, muss daher immer wieder neu und auch situationsbedingt darüber diskutiert werden, wie viel oder wie wenig Eigenverantwortung wir uns warum leisten können. Und wie in dieser Pandemie eben üblich, ist die Situation heute eine andere als vor vier Wochen und wird in vier Wochen wahrscheinlich eine andere sein als heute. Deshalb ändert sich auch die Diskussionsgrundlage stetig.

Im erlauchten Kreis

Pertsch und Stiehl versuchen stattdessen, diesen, sagen wir, dynamischen Diskussionsraum, in dem die richtige Portion Eigenverantwortung immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden müsste, als geschlossene Gesellschaft zu markieren. Zutritt bekommt nur, wer nicht durch die Gesinnungsprüfung fällt; also wer nicht zu sehr gegen die Corona-Maßnahmen aufmuckt und nicht zu wenig durchgreift, wenn er politische Verantwortung trägt. In der erlauchten Runde der Erlesenen mag es dann zwar ziemlich öde zugehen, aber immerhin regt sich auch keiner auf, weil plötzlich jemand daherkommt, der anders denkt als die anderen, was in exklusiven Kreisen ein ziemlicher Stimmungskiller sein kann.

Das ist freilich ziemlich bequem und hat zumindest bei Pertsch auch System, der dafür bekannt ist, wie wild zahllose Twitter-Nutzer zu blocken, gerne auch andere Journalisten, weil sie nicht seiner Meinung sind, beziehungsweise weil sie vermeintlich der Meinung von Leuten sind, deren Meinung Pertsch nicht teilt. Dafür gibt es in seiner Art von progressivem Kreis sogar ganze Blocklisten, mit denen sich sozusagen prophylaktisch User aussperren lassen, um erst gar nicht mit deren falschen Ansichten in Berührung zu kommen. Auch das ist eine Form der Seuchenbekämpfung, und auf so einen Quatsch muss man erstmal kommen. 

Es muss ins Narrativ passen

Doch zurück zum Thema: Besonders überraschend ist das mit der „Floskel des Jahres“ freilich nicht. Denn bei Negativpreisen geht es eben selten um wertfreie Feststellungen, sondern immer darum, gewisse Narrative zu bedienen. Ob es nun das „Unwort des Jahres“ ist („Querdenker“ im Jahr 2021) oder wegen mir auch der Negativpreis „Goldene Kartoffel“ der Neuen Deutschen Medienmacher*innen, der im vergangenen Jahr quasi an alle nicht ausreichend woken Medien verliehen wurde („für die unterirdische Debatte über ,Identitätspolitik‘“). Oder eben die „Floskel des Jahres“, mit der die Verantwortlichen ihren kleinen Beitrag leisten, um eine offene Debatte über das freie, das eben eigenverantwortliche Handeln in Pandemiezeiten mindestens zu erschweren.

Dass die Kritik wider manche Corona-Maßnahme gleichwohl nicht nur von „Impfgegnern“ kommt, sondern von sehr vielen Menschen da draußen, die sich nach zwei Jahren pandemiegetriebener Politik mehr Eigenverantwortung zurückwünschen – übrigens auch unabhängig vom eigenen Impfstatus oder genau deshalb, weil ihnen ja versprochen wurde, dass zweimal Pieks gleich Freiheit bedeutet – lassen die Floskelwolker dabei so offensichtlich wie nonchalant unter den Tisch fallen. Denn es passt halt nicht in die Erzählung, die man mit der „Floskel des Jahres“ verbreiten will. Nämlich, dass Eigenverantwortung in der Corona-Debatte vor allem von feigen Politikern oder gespinnerten Bürgern als Ausrede beziehungsweise Kampfbegriff genutzt wird.

Rechtsradikale und Holocaust-Verharmloser

Damit passt der Negativpreis „Floskel des Jahres“ sehr gut zu anderem, das mit Sprache und Corona zu tun hat. Nehmen wir allein die emsigen Zuschreibungen „rechts“ und „rechtsradikal“, die von bestimmten Kreisen unisono auf jeden angewendet werden, der bei der Corona-Politik aus der Reihe tanzt, oder, wie in vielen Städten Deutschlands mittlerweile, gegen selbige auf die Straße geht. Die Dampframme der deutschen Sozialdemokratie, Ralf Stegner, dehnte derlei jüngst sogar auf alle Atomkraftbefürworter aus. Aber das nur am Rande. 

Das Prinzip ist immer das gleiche, auch bei der „Floskel des Jahres“: Weil in dem Fall Eigenverantwortung als Begriff auch von Impfgegnern genutzt wird, wird ihm angedichtet, toxisch zu sein, wenn er aus den falschen, den nonkonformen Mündern kommt. Ebenso wie die Corona-Proteste in Gänze als Gottseibeiuns deklariert werden, weil dort bisweilen eben auch Rechtsradikale und Holocaust-Verharmloser mitmarschieren, was, glaubt man zum Beispiel dem Organisator solcher Proteste in München, auch die meisten Demonstranten nicht glücklich macht.

Zweifellos verifizieren lässt sich dieses Unglücklichsein freilich nicht, aber es lässt zumindest aufhorchen, wenn einer solche Demos organisiert, der der Enkel einer Jüdin ist und sich selbst als „klassisch linksliberal“ beschreibt. Mal abgesehen davon, dass es sehr wohl auch gute persönliche Gründe geben kann, an solchen Protesten teilzunehmen, die gar nicht so sehr mit einer politischen Grundeinstellung zu tun haben müssen, außer vielleicht mit der, dass man vom Staat weitgehend in Ruhe gelassen werden will. Unabhängig davon, was Pertsch, Thiel, Stegner oder ich davon halten.

Brett vor dem Kopf

All diese Schubladensteckerei basiert freilich auf dem Prinzip der radikalen Vereinfachung und hat zum Ziel, die Welt in schwarz und weiß zu ordnen, in vernünftig und unvernünftig, in Freund und Feind. Sag mir, welche Worte du nutzt oder wer gegen das demonstriert, gegen das du auch demonstrierst, und ich sage dir, wer du bist. Das spart Zeit und Nerven. Und idealerweise kommt man damit auch noch in die Presse, wofür Negativpreise immer ein probates Mittel sind. Je zeitgeistiger, desto besser.

Wer so tickt, kommt nur leider nicht auf die Idee, dass manche Kritik an den Corona-Maßnahmen ihre Berechtigung haben könnte und dass Begriffe nicht allein dadurch toxisch werden, dass andere sie anders definieren als man selbst. Denn das liegt in der Natur der Sache. Vielleicht liegt man selbst sogar falsch, teilweise jedenfalls, und der andere richtig, aber das lässt sich halt nur herausfinden, wenn man nicht mit dem Brett vor dem Kopf durch die Welt rennt und dabei hektarweise verbrannte Erde hinterlässt. Denn das führt bloß dazu, dass am Ende irgendwer irgendwem wieder irgendwas verzeihen muss.

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