Entschuldigen Sie sich! - Die geheime Macht politischer Gefühle

Minister sollen sich für Corona entschuldigen, die Niederlande für die Sklaverei. Das altertümlich daherkommende Wort „verzeihen“ hat Konjunktur. Doch was ist da eigentlich los?

Bild des Kniefalls Willy Brandts im Historischen Museum in Hannover / dpa
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Der Titel täuscht. Es ist nicht gerade ein Übermaß an Demut zu verspüren, das der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn in seinem Buch „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ (Heyne-Verlag) verbreitet. Vielmehr schreibt Spahn über seine Erfahrungen in der Frühphase der Corona-Pandemie im Herbst 2019. Seither wird den verantwortlichen Politikern, die bevorzugt von Fehlern reden, viel abverlangt. Den Terminus „Schuld“, der trotz seiner religiösen Bedeutung vor allem in juristischen Kontexten gebraucht wird, vermeiden sie lieber.

Das altertümlich daherkommende Wort „verzeihen“ hat Konjunktur, es zirkulieren weitere Varianten der Entschuldigung im öffentlichen Raum. Sie wird apodiktisch vom anderen verlangt oder als Bitte artikuliert, wenn Nachsicht oder Milde erhofft werden. Ob mit überbordendem Pathos versehen oder nur so hingenuschelt: Die Entschuldigung ist ein unverzichtbarer Bestandteil des kommunikativen Handelns. Sie erscheint angebracht als Gebot des Anstands nach zu lautem Betreten eines stillen Ortes, oder sie wird demonstrativ eingesetzt, um auf das Verhalten anderer einzuwirken. In hoher Tonlage nimmt sie Gestalt von etwas Offiziellem, beinahe Sakralem an. Eine Entschuldigung ist niemals ein einseitiger Vorgang, ihre Energie fließt in mehrere Richtungen und ist in der Lage, die soziale Situation zu verändern.

Willy Brandts Kniefall

Obwohl oder weil Vergeben und Verzeihen zum intimen Repertoire zwischenmenschlichen Handelns gehören, waren sie seit jeher auch Bestandteil der Politik. In der europäischen Nachkriegsgeschichte gilt der Kniefall des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt 1970 in Warschau als wortlos-starke Geste gegenüber den Opfern des Holocausts und deren Angehörigen; zuletzt entschuldigte sich der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte für die Rolle seines Landes beim Sklavenhandel in den einstigen niederländischen Kolonien.
 

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Entschuldigungen wie diese werden nicht selten als symbolischer Aktionismus kritisiert. Dabei schwingt die Unterstellung mit, dass es nicht zuletzt darum gehe, juristisch belastbare Schuldeingeständnisse zu vermeiden. Wer „Entschuldigung“ sagt, möchte unterhalb der Schwelle rechtlicher, diplomatischer oder wirtschaftlicher Nachwirkungen zu Alltagsroutinen und Gewohnheiten zurückkehren. Entschuldigungen können Ausflucht, aber auch wichtige Katalysatoren sein. Wenn sie akzeptiert werden, sind sie große Normalisierer beim täglichen Tun und Lassen.

Bedürfnis nach Vergebung

Schon möglich, dass eine tief verankerte anthropologische Erfahrung das Bedürfnis nach Akten der Vergebung deutlich forciert hat. Kränkungen lauern überall, und der Bedeutungszuwachs, den Gesten und Symbole gerade in jüngerer Zeit erfahren, rührt nicht zuletzt aus einem gesteigerten Misstrauen in die Lösungsvorschläge von Politik, Recht und Ökonomie.

Ein traditioneller Umhang, der als Geschenk überreicht wird, birgt plötzlich die Gefahr, als Affront aufgefasst zu werden. Während der Schenkende weithin als übergriffig wahrgenommen wird, betrachten nicht wenige die Zurückweisung seiner Geste als kulturelle Abwehr oder gar als rassistisch. Eine Entschuldigung könnte jetzt vielleicht helfen. Wo aber beginnen? Und wer zuerst?

Ein soziales Totalphänomen

Die Hypertrophie des Symbolischen in Zusammengang mit der gerade beendeten, aber noch nicht vergangenen Fußballweltmeisterschaft in Katar hat deutlich gemacht, wie sehr einfache Gesten und aufgeladene Gefühle zum Gegenstand internationaler Beziehungen geworden sind. Der neoimperiale Krieg Russlands gegen die Ukraine ist auch einer um verletzte Gefühle und vermeintlich verweigerten Respekt. Es wäre also zu arglos, ein Gewebe aus arabischer Handwerkskunst als harmlos-missverstandenes Accessoire zu betrachten. Es ist an der Zeit, die Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Gefühlen und Politik zu schärfen.

Was es mit der Gabe als sozialem Totalphänomen auf sich hat, hat der französische Ethnologe Marcel Mauss bereits 1923 in einem grundlegenden „Essai sur le don“ (dt. „Die Gabe“) beschrieben. Man wird mit ihr nicht quitt, weder ökonomisch, juristisch, moralisch noch ästhetisch. Geschenke, Gegenleistungen, Erwartungen, Abhängigkeiten – sie wirken als Tand einer durchökonomisierten Moderne und verweisen doch weit zurück auf das nie verschwundene Archaische. Die dramatisierte Forderung nach einer Entschuldigung erscheint bisweilen als Teil der politischen Folklore. Nicht selten aber ist sie im Gewand des rationalen Kalküls angetrieben von magischem Denken.

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