Leben als Werk: Franz Kafka - Ein Roman als Biografie - oder umgekehrt

Reiner Stachs monumentale Beschreibung der letzten Lebensjahre Kafkas balanciert zwischen Vie Romancée und Literaturwissenschaft – und hält den Leser gekonnt bei der Stange

Der «Mythos Kafka» entstand lange vor allen germanistischen Bemühungen. Bereits 1921, also noch zu Lebzeiten Franz Kafkas, legte Max Brod in einem Aufsatz in der «Neuen Rundschau» den Grundstein für diese Mythisierung: Kafka sei ein Dichter des «Seelenguten», «Heiligen», mit dem «tiefen Ernst des religiösen Menschen», der nichts so sehr liebe wie den «ewig rettenden … blauen, unbefleckten Himmel über sich». Diese Sicht blieb für lange Zeit die dominante, auch in den frühen dreißiger Jahren und besonders folgenreich durch Edwin Muir, den englischen Übersetzer, der die Romane als «metaphysical or theological novels» definierte. Und noch in seiner Biografie (1937) fragt Max Brod, ob Kafka ohne seine «ungünstigen Lebensumstände … nicht etwa den Rang der großen historischen Verkünder wahrer Religiosität erreicht hätte».

Damit standen alle künftigen biografischen Bemühungen unter einem schwarzen Stern, denn das Wort Gottes bedarf eigentlich keiner Biografie, keiner Datierung, keiner Textkritik. Es bedarf nur eines Propheten, und der war Max Brod, dessen Zorn, fast bis zu seinem Tod (1968), alle Versuche traf, der Biografie und dem Werk Kafkas Erdenschwere zu geben – seien es die Versuche, die beiden Fassungen der «Beschreibung eines Kampfes» zu trennen, sei es die Kapitel-Anordnung des Romans «Der Prozess», sei es die Datierung aller Texte (erst 1964), sei es die berühmte Kafka-Konferenz in Berlin (1966), die zum ersten Mal eine Kritische Ausgabe forderte.

Freilich nahm sich dann auch die Germanistik viel Zeit mit dieser Kritischen Ausgabe: 1982 erschien der ers­te Band, zwei Briefbände stehen noch bis heute aus. Mit anderen Worten: Eine faktengesicherte Biografie Franz Kafkas war bis in unsere Tage nicht möglich. Folgerichtig erschien der erste Band Reiner Stachs, der Kafkas Leben von 1910/11–1916 beschreibt, erst 2002, nachdem der entsprechende Briefband 1999 erschienen war; und für den nun vorliegenden Fortsetzungsband machte der Herausgeber der Briefe, Hans-Gerd Koch, dem Biografen Stach die beiden ausstehenden Briefbände zugänglich, sodass er über alle Materialien verfügte.


Zwischen Werkimmanenz und Positivismus

Zurück zum Mythos, der ja seit einem Jahrzehnt wieder von allen Dächern pfeift (auch das Buch von Stach errei­chen einige Windstöße). Als 1950 bei S. Fischer der erste Band der von Max Brod herausgegebenen Kafka-Aus­gabe erschien, kam ein deutschen Lesern seit fast zwei Jahrzehn­ten unzugänglicher Autor zurück in das Land seiner Sprache, allerdings als ein in der Welt inzwischen berühm­ter, mit den Mythen seiner Zeit beladener Autor. Die Stichworte hießen: Surrealismus, das Absurde, die schuldlose Schuld (oder schuldhafte Schuldlosigkeit – besonders wirk­­sam war die Theateradaption von «Der Prozess» durch André Gide und Jean-Louis Barrault, 1947), Strafe, Heimat­losigkeit, Entfremdung. Diese Mythen waren aber nicht nur deswegen so verbreitet wie wirksam, weil sie auf ein Massenschicksal trafen, sondern auch, weil sie sich frei entfalten konnten, ungehindert durch Entstehungsdaten, Textkritik oder biografische Umstände.

Jeder Schwafler konnte ein dickes Buch über Kafka schreiben, zusätzlich von der damaligen Germanistik ausgerüstet mit dem bequemen Instrument der «Werk­immanenz». Dagegen hatten es die positivistischen Kärr-ner schwer (an der Spitze der verdienstvolle, aber gegenüber Kafka verständnislose Hartmut Binder), und manche schlugen den Irrweg ein, Leben und Werk Kafkas förmlich Tag für Tag festnageln zu wollen, eine Art raffinierter Vatermord: Wo alles beleg- und ableitbar wird, gerät der Autor zum ahnungslosen Monteur.


Manchmal hilft nur ein «Wir wissen es nicht»

Reiner Stach entgeht beiden Gefahren; in seinem Buch erscheint Kafka weder als ein von aller Gravitation losgelöster Komet noch als Gegenstand der Landesproduktenbörse. Es handelt sich vielmehr um eine Art Zwitter zwischen vie romancée und wissenschaftlicher Biografie, es wird zugleich erzählt und argumentiert. Wobei die Erzählung den Lebens-Ereignissen folgt und nicht dem Kalender, und die Forschung auch im Text auftritt und nicht nur am Ende des Buchs, im Apparat (der sehr knapp ist – ich sehe schon die hochgereckten Finger vieler Kafkologen: «Er hat mich nicht gewürdigt!»). Es bleiben natürlich Fehlstellen, an denen dem Autor weder Imagination noch Forschung weiterhelfen, dann bekennt er angenehm ehrlich: «Wir wissen es nicht.»

Diese Vorsicht gilt auch für die Quellenkritik, besonders gegenüber zwei grundlegenden Quellen. Dem «Brief an den Vater» wird ein Teil der ihm vorgeworfenen Parteilichkeit entzogen mit dem Hinweis darauf, dass zumindest Kafkas Schwester Ottla Wahrheitsgehalt und Wörtlichkeit der väterlichen Ausbrüche kannte. Hingegen werden die in den fünfziger Jahren von Mystagogen jeglicher Couleur hochgejubelten «Gespräche mit Kafka» von Gustav Janouch sehr entschieden, aber korrekt beurteilt als «Konglomerat aus authentischen, stilisierten und offenkundig frei erfundenen Gesprächsfragmenten».


Spanische Grippe, jüdische Angst

Ein großer Vorzug des Buches von Stach ist, dass es mitten in der Zeit steht. Es beginnt 1914, aber nicht mit der Person. Vielmehr wird der Leser zuerst in ein Land geführt, danach in einen entstehenden Krieg, erst danach erscheint die Person des Dr. Franz Kafka (mit dessen Tod 1924 es endet). Aber diese Person tritt nur kurz auf, um wieder der Zeit Platz zu machen, respektive dem, was Reiner Stach treffend die «Verwahrlosung des öffentlichen Raums» nennt, von den patriotischen Umzügen oder nachgebildeten Schützengräben bis zu den Kriegsanleihen (die insofern zur Verwahrlosung gehören, weil der Staat damit ja dem Bürger eine Wette auf den Sieg anbot). Nicht von ungefähr ist dieses Kapitel das umfangreichste des Buches. Ähnlich kunstvoll gearbeitet ist das Kapitel «Spanische Grippe, tschechische Revolte, jüdische Angst», das den Wirren gegen Ende des Krieges gewidmet ist, die auch die «Arbeiter-Unfall-Versicherung in Prag» erreichen, und damit ebenso deren Vizesekretär Kafka, der ihr aber auch nach dem Wechsel in tschechische Hände weiter dienen darf, zweisprachig, kompetent, bescheiden.

Hervorragend auch einzelne Portraits, insbesondere das von Milena Jesenská und das der Schwester Ottla, die an vielen Stellen des Buchs auftaucht – sie war ja auch eine der engsten Vertrauten. Auch Dr. Robert Marsch­ner, Kafkas Vorgesetzter in der Versicherungsanstalt, ist so treffend und ausführlich portraitiert wie noch niemals in der bisherigen Literatur. Schließlich ein besonders schönes, imaginiertes Portrait Kafkas durch Dora Diamant, seine letzte (ostjüdische) Freundin: «Für Dora repräsentierte Kafka ein menschliches Ideal: ein Mann, der seine jüdische Identität völlig bejahte und der dennoch alles, was sie am Westen faszinierte, aufgesogen und in höchstem Maß verfeinert hatte: Bildung, Individualismus, überlegenen Humor und soziales Gefühl über das eigene Kollek­tiv hinaus. Selbst die gesteigerte Aufmerksamkeit für Unscheinbares, Alltägliches, jene ‹Heiligung› des Lebens, die der Chassidismus predigte und die Dora tief verinnerlicht hatte, fand sie bei Kafka wieder: Nichts entging ihm, er freute sich an den einfachsten Dingen, und selbst dann, wenn er zu Widerstand und Kritik gereizt wurde, blieben Gefühle der Geringschätzung ihm völlig fremd.»

Kafkas unbestechlicher Blick auf die Macht

Angemessen ausführlich widmet sich Stach auch den «Wendepunkten» in Kafkas Leben, etwa den Marienbader Wochen mit seiner «ewigen Braut» Felice Bauer, in denen sich jahrelanges Zögern plötzlich zu Entschlüssen verdichtet, durch die «beschleunigte Zeit». Dabei gelingt ihm auch eine glänzende Momentaufnahme. Max Brod hatte Kafka gebeten, ihm über den (in Marienbad anwesenden) «Belzer Rabbi» zu berichten; Kafka erfüllt die Bitte mit einem umfangreichen Brief vom 17./18. Juli 1916. Stach kommentiert diesen Brief folgendermaßen: «Wieder jener unbestechliche und für Kafka so charakteristische Blick, der den eigenen Vater ebenso treffen kann wie den auf dem Katheder thronenden Gymnasialprofessor, den umschwärmten Begründer der Anthroposophie, die ostjüdischen Wortführer in Prag oder den jovialen Präsidenten der Arbeiter-Unfall-Versicherung. Es ist der Blick, der auf die Macht gerichtet ist, der Blick, der die Leere hinter den Kulissen erfasst, ohne sich indessen in selbstzufriedener Entlarvung zu beruhigen.» Schade, dass Stach das zu diesem Thema hochinteressante Buch von Joseph Vogl, «Ort der Gewalt. Kafkas literari­sche Ethik» (1990), nicht kennt.

Oder der Winter 1916/17 in der Alchimistengasse auf dem Hradschin. Hier entstanden die schöns­ten Erzählungen aus der Sammlung «Ein Landarzt», in denen Kafka sich in der Tat als Alchimist emp­finden mochte, «entschlossen, alles auszuprobieren, was die Erzähltraditionen nur hergeben», so Stach. Oder die Zeit in Zürau 1917/18, in der die oft verrätselten und vielfach missbrauchten «Apho­rismen» entstanden, etwa der berühmte «Ein Käfig ging einen Vogel suchen», der zuerst hieß: «Ein Käfig ging einen Vogel fangen». Auch diese Zeit wird von Stach ausführlich (und durchaus agnostisch) behan­delt, als Versuch, «den Blick frei zu halten» und – hier zitiert er Sartre – «sich zu dem zu machen, der man ist».

Ein Buch der Superlative

Aber: Stachs Buch ist gewöhnungsbedürftig. Ganz sicher ist es zu dick. Zählt man den ersten Band, «Die Jahre der Entschei­dungen», hinzu, so kommt man auf 1400 – eng bedruckte! – Seiten. (Zudem empfiehlt Stach für die frühe Zeit, 1883–1912, meine Jugendbiografie, macht weitere 380 Seiten). Das weiß er selbst, denn an diesem Punkt stoßen vie romancée und Literaturwissenschaft zusammen: Die Wissenschaft liefert Berge an Material, der Schriftsteller muss auswählen, ordnen, formulieren. Die notwendige Zusammenfassung gelingt nicht ganz, denn der Schriftsteller (zu dem sich Stach offensichtlich stärker hingezogen fühlt) braucht zusätzlich Raum für seine Formulierungskünste und weiß dennoch, dass die Leser angesichts des Umfangs bei der Stange gehalten werden müssen – er dramatisiert also.

Das freilich kann einem gewaltig auf den Wecker gehen, denn es schlägt sich in einer Masse von Superlativen nieder, für deren Aufzählung man allein ein paar Seiten bräuchte. Hier eine Auswahl: unvermeidlich, größtmöglich, unausdenkbar, unweigerlich, um jeden Preis, alles entscheidend, atemberaubend, bedeutsam, beispiellos, spektakulär (Stachs Lieblingswort), unabweisbar, legendär, unheimlichst, höchst ungewöhnlich, nie gekannt, undurchdringlichst, katastrophisch … Da muss man durch, auch durch manch modisches Schnickschnack-Vokabular wie «verorten» oder die Marotte, jedem der dreißig Kapitel ein öfter an sehr langen Haaren herbeigezogenes Motto voranzustellen.

Als Schriftsteller mehr denn als Wissenschaftler erweist sich Stach auch bei der Beurteilung von Kafkas Verleger Kurt Wolff: Er habe zu wenig für Kafka getan. Das meint auch Kafka; das meinen fast alle Schriftsteller der Welt, zum Beispiel Gerhart Hauptmann, der seinem Verleger Samuel Fischer sogar einen Buchprüfer ins Haus schickte (und, als die Prüfung sehr ehrenvoll für Samuel Fischer ausging, sogar noch ein paar antisemitische Bemerkungen nachschob). Nein, nein, weder der Verleger seines ersten noch seines letzten Buches haben Kafka solche (bescheidenen) Erfolge verschafft wie Kurt Wolff mit den drei Büchern in seiner Serie «Der jüngste Tag».

Noch zwei geringfügige Korrekturen aus eigener Zeugenschaft: Den umfangreichen Brief an die Schwester von Julie Wohryzek, den ich 1956 in Prag fand, gibt es nur als Abschrift, deren Verlässlichkeit sich aber mit der Abbildung einer einzigen handschrift­lichen Seite in «Kafka a Praha» nachweisen lässt. Der Verlag dieses Büchleins wurde 1948 geschlossen, die Handschrift blieb unauffindbar.

Die schweren Verstümmelungen der ersten Edition der «Briefe an Milena» (1952) sind nicht nur dem Herausgeber Willy Haas anzulasten, sondern auch Samuel Schocken und Rudolf Hirsch, weil sie sich eben nicht nur auf private Idiosynkrasien von Willy Haas bezogen, sondern oft auch nur geschmackliche oder politische Gründe hatten.

Also, werthe Witwen und Freunde Kafkas: An die Arbeit! 728 Seiten warten auf Sie.

 

Klaus Wagenbach ist Literaturwissenschaftler und der Gründer und langjährige Leiter des Wagenbach-Verlags in Berlin. 1957 promovierte er mit einer biografischen Arbeit über Kafkas Jugend, die bis heute als Standardwerk gilt. Hinzu kommen seine rororo-Monografie über Kafka sowie sein Bildband «Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben».

 

Reiner Stach
Kafka. Die Jahre der Erkenntnis
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2008. 728 S., 29,90 €

Joseph Vogl
Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik
Wilhelm Fink, München 1990. 254 S., (antiquarisch erhältlich)

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