Cancel Culture - Nichts geht mehr

Das deutsche Feuilleton ist zum Hüter des deutschen Reinheitsgebots geworden. Überall liest man Einlassungen zu der Frage, was man noch darf und was man nicht mehr darf. Wäre es da nicht besser, man schaffte die Kultur ab, damit endlich nichts ist?

Mit seinen Black Painting nahm Ad' Reinhardt in Anspruch, allerletzte Bilder gemalt zu haben / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die Feuilletons berichten in diesen Tagen immer öfter über das Nichts. Ist Ihnen das auch schon mal aufgefallen? Früher, da war doch immer irgendetwas: Hier eine Neuinszenierung von Wagners „Ring“, da ein weiterer Thriller von Polanski; hier ein Harry Potter, dort ein Woody Allen. Selbst im Sommerloch gab es immer noch irgendwo auf dem ansonsten vielleicht ach so verbrannten und ausgedörrten Erdenrund irgendeine winzig kleine Premierenfeier – und sei es nur im Landestheater von Detmold. Und heute? Nichts!

Die Bühnen und die Kulturseiten so gähnend leer wie jüngst die Regalreihen bei Edeka. (Oder sollte Ihnen das etwa auch entgangen sein?) Alles ist verwaist, als wäre es der Strand von Sankt Peter-Ording in der nun einsetzenden Nachsaison. Nix. Nada. Niente. Aber eben auch nicht dieses alles verschlingende Nichts, wo einfach nichts ist. Eher geht es um die bedrückende Leere, bei der nichts sein darf, weil eben Nichts zu sein hat.

Denn natürlich gibt es weiterhin Worte. Es gibt sogar Sätze, Teaser, Überschriften. Doch in nahezu allen Kulturbeilagen und selbst auf den großen Online-Portalen verweisen sie oft nur noch auf jenes große Vergessen, das früher allenfalls an den Toren der antiken Totenreiche versprochen wurde. Ein kräftiger Schluck aus den Wassern der Lethe, so glaubten es ehedem ja die alten Griechen, und man sinkt für alle Ewigkeit in Amnesie und Umnachtung dahin: „Wir trinken langes Vergessen“, schrieb Vergil in seiner Aeneis.

Darf man das noch?

Heute schreibt man es, wo immer man kann: in F.A.Z., Süddeutsche und vor allem auf den Kulturseiten von Spiegel Online. Und man meint nicht mehr Schnitter oder Freund Hein, man meint die Vergnügungen des Lebens selbst: Darf man noch in den Zirkus? Darf man noch Muttermilch sagen? Und vor allem: Darf man noch zu Till Lindemann …? Nach Mitteldeutschland …? Oder auch nur zum heimischen Yoga-Lehrer? Wohin man fragt wird abgewinkt. „Pippi, Janosch, Odysseus: Welche Kinderbücher darf man noch lesen?“, wunderte schon vor Jahren ein pädagogisch besorgter Autor der Berliner Zeitung angesichts all der blutrünstigen wie frauenfeindlichen Gefährdungen in so manch einem deutschen Kinderbuchregal.

Und damit war von den Plattenschränken noch nicht mal die Rede. Die hat jüngst übrigens die ansonsten eher auf Nüchternheit spezialisierte Deutsche Presse-Agentur unter die Lupe genommen. Und was soll man sagen: Mit der Genugtuung eines DDR-Grenzers beim ersten Kofferraum-Check hat man hier feststellen müssen, dass ein alter Queen-Hit über dicke Hintern („Fat bottomed girls, you make the rockin‘ world go round“) auf einem bald erscheinenden Hit-Sampler nicht mehr zu finden sein wird. Zum Glück gibt es eben die Empfindlichkeitsprüfungen internationaler Nachrichtenagenturen.

Rechte Cancel Culture

Wenn also bald der Herbst beginnt und in den Alleen die bunten Blätter treiben, dann ist die große Nichtung längst über unsere Kultur hinweggefegt. Und das nicht nur zur Linken, sondern ebenso rechts des großen Grabens.

Laut der Schulaufsichtsbehörde im republikanisch regierten Tampa/Florida nämlich soll jetzt auch der einstmals von Ewigkeitsgarantien geschützte Shakespeare dem großen Reinemachen geopfert werden. Der Alte aus Stratford-upon-Avon nämlich mag zwar das Viktorianische Zeitalter überstanden haben, doch er ist natürlich much too sexy for DeSantis. Seine Werke, so haben republikanische Leser jüngst voll Schamesröte feststellen müssen, sind voll von sexuellen Anspielungen, ja von vorehelichem Geschlechtsverkehr. 

„Pfui! Pfui! Pfui!“, schimpft da Herr Biedermann, dem mittlerweile selbst das Heiligste nicht mehr heilig, und somit natürlich auch nicht reinlich genug erscheinen will. Voller Wut und Tatendrang sägt er an dem Ast, von dem aus er jüngst noch naserümpfend auf die woke Welt zu seinen Füßen herabgeblickt hat. Laut eines Berichts der Frankfurter Rundschau sollen konservative Christen in den USA mittlerweile sogar dazu übergegangen sein, bekannte Bibelstellen aus einem einstmals für sicher gehaltenen Kanon herauszustreichen. Just jene lehramtlich verbindlichen Verse, in denen Jesus als zu links und somit irgendwie zu weich und zu defizitär daherkommt. Wenn es um die porentiefe Reinheit der Lehre geht, dann muss notfalls eben auch Gott dran glauben.

Flugscham auf den Flügeln der Fantasie

Und damit kommen wir zum Wesentlichen: Denn warum ist dann überhaupt noch etwas – und nicht vielmehr Nichts? Schon Heidegger stupste den Diskurs damit ja in die richtige Richtung: Warum nämlich beseitigen wir nicht besser gleich alles, was auf Erden fleucht und kreucht, was dichtet und deklamiert und hienieden liebt, liest und Künstlersozialabgaben zahlt – was im Zweifel aber natürlich einen zu großen CO2-Abdruck und auf den Flügeln seiner schmutzigen Fantasie nicht einmal einen Hauch von Flugscham hinterlässt?

Gehen wir also besser über zum ganz großen Clearing! Dianetik statt Dialektik! Was immer Kunst ist, kann fortan weg! Klar, früher, da waren die Musen die Töchter der Mnemosyne … Doch was will man erinnern aus einer Vorwelt, deren überindividuellen Anteile vor allem weiß, männlich, kolonialistisch und weiß der Kuckuck was noch alles waren? Sage jetzt bitte niemand Goethe, diesen von Vergewaltigungsphantasien gequälten Alten, der endlich gebrochen gehört wie sonst nur das Heideröslein vom wilden Knaben! 

Bukowski nach dem Sensitivity Reading

Wir dich ehren? Wofür? Wo immer jetzt der Fortschritt das Regiment führt – und das tut er doch besonders unter einer Berliner Fortschrittskoalition –, ist das Alte schmutzig und soll seinen Dichtermund mit Seife auswaschen! Man kennt das zu genüge aus der Geschichte: Als etwa Mao mit seiner Großen Kulturrevolution im Groben und fürs erste durch war, schwiegen auch endlich die alten Opern, und das Singen und Tanzen hatte ein Ende. Derweil aber initiierte Madame Mao, in China noch heute gefürchtet als Jiang Qing, neue, revolutionärere Modellopern. Formalistisch und blutleer wie ein Bukowski-Gedicht nach dem sensitivity reading. Denn klar, auch das Vergessen braucht ein bisschen Rumtata, aber natürlich nur vordergründig. Und bitte schön sauber und immer recht freundlich!

Und doch bleibt bei allem ein Nachgeschmack. Ausgerechnet das Land, das einst das schöne Wort von der „Erinnerungskultur“ erfand, schneidet aus Furcht vor dem Jüngsten Sittengericht Lücken in seine großen Romane und verstottert ein erotisches Brecht-Gedicht. Und wer immer noch falsche Gedanken hat, der möge sie endlich wegdenken! Farbe auf Eugen Gomringer, auf Wolfgang Koeppen, auf Immanuel Kant ... Damit große weiße Lücken klaffen wie ehedem auf den Retuschen in Stalins Fotoalbum.

Damit endlich nichts ist, wo ehedem ein schmerzliches Etwas war.

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