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(picture alliance) Ost-Berliner Künstler nutzten ihre Kreativität, um der erdrückenden Wirklichkeit der Mauer zu entfliehen

Künstler der DDR - "Die Tragödie unserer zwei Deutschland"

Das hässliche Wort „Mauer“ war in der DDR verboten. Stattdessen forderte die SED-Regierung die Bürger ihres Landes auf, vom „antifaschistischen Schutzwall“ zu sprechen, und warb zynisch für die „Freiheiten“, die dessen Bau ermöglichen sollte. Wie reagierten die Schriftsteller, Theatermacher und Künstler des Arbeiter- und Bauernstaats? Ein Blick zurück
 

Günter de Bruyn

Er hat es nicht für möglich gehalten, dass der Albtraum Realität werden könnte. So ist er denn an jenem warmen Sonntag, dem Tag, als die Mauer hochgezogen wird, von früh bis spät durch Berlin gelaufen. „Ich wollte dabei sein, wenn man uns einsperrte“, schreibt Günter de Bruyn in seinem Lebensbericht „Vierzig Jahre“. Er will den Bewaffneten und den Arbeitern, die den Stacheldraht ausrollen, zeigen, dass sie nicht mit Jubel rechnen können. Doch auch in deren Gesichtern sieht der Schriftsteller Angst. Und er weiß, es ist die Angst, die Menschen regierbar macht. Deshalb empört es ihn, dass am nächsten Tag im Siegesgeheul des Neuen Deutschland behauptet wird: Nun endlich könnten die Bürger der DDR wieder frei atmen.

Für ihn beginnt nach dem 13. August die Zeit, in der ihn Träume quälen. Da überwindet de Bruyn nachts auf unerklärliche Weise die Mauer von Ost nach West. Warum? Weil er 17 Jahre im Westen gelebt hat. Und da steht er nun ohne Geld in der Fremde. Also will er wieder zurück. Doch die Grenzer lassen ihn nicht in den Ostsektor. Durchgang verboten! Mit aufgepflanztem Bajonett stehen die Hüter der Unfreiheit vor Stacheldraht und Beton. Erst gnädiges Erwachen, wie er schreibt, rettet ihn zurück in die Diktatur, wo die Sehnsucht nach Kopenhagen, Paris oder Rom wieder zum Traum mutiert.[gallery:DDR-Künstler und die Berliner Mauer]
De Bruyn lernt, mit der Mauer zu leben. Doch um den Schmerz über sie wachzuhalten, muss nicht erst ein Flüchtling erschossen werden. Es reichen kleine Anlässe, Sichtblenden, hinter denen Westberlin ein weißer Fleck ist, „als endete an der Grenze die Welt“.

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„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Das sagt Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender der DDR, noch am 15. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz in Ostberlin auf die Frage einer westdeutschen Journalistin. Am 9. August aber werden ein paar wichtige Genossen auf Ulbrichts Landsitz in der Schorfheide in das Geheimprojekt eingeweiht: Der Mauerbau ist beschlossene Sache. Drei Minister waren in ihren schwarzen Limousinen vorgefahren: Erich Mielke von der Staatssicherheit, Hilde Benjamin, die sogenannte „blutige Hilde“ der Justiz, und Karl Maron, der Mann fürs Innere.

Ein paar Tage zuvor war Ulbricht aus Moskau zurückgekommen. Er hatte sich dort von Nikita Chruschtschow, dem Partei- und Staatschef der UdSSR, vorwerfen lassen müssen, dass er den gewaltigen Exodus aus der DDR nicht hat aufhalten können. Seit Gründung des Arbeiter- und Bauerstaats waren Jahr für Jahr mehr als 200 000 Bürger über die offene Sektorengrenze in die kapitalistische Bundesrepublik geflüchtet: Lehrer, Ärzte, Professoren, Apotheker, Werktätige und hoch qualifizierte Fachkräfte, die dem Kommunismus ganz offenbar misstrauten. Ulbricht konterte. Er vermisse beim großen Bruder im Kreml die Solidarität, und erklärte, dass es die „Menschenhändler und Kopfjäger“ im „Agenten- und Spionagenest Westberlin“ seien, die „labile Elemente aus der DDR abwerben“. Der Flüchtlingsstrom war ja inzwischen auf täglich weit mehr als 1000 DDR-Bürger angewachsen. Es musste also gehandelt werden, oder die DDR müsste sich ein anderes Volk suchen. So wurde denn dem kleinen Bruder Ulbricht – über den damals der Witz kursierte: Der Letzte macht das Licht aus – die Mauer verordnet. Und der Mann, den der sächselnde Ulbricht mit der Leitung der Operation „Antifaschistischer Schutzwall“ beauftragt, heißt Erich Honecker.

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Brigitte Reimann

Unsere Zeitungen züchten mal wieder Hysterie“, schreibt Brigitte Reimann einen Tag vor dem Mauerbau in ihr Tagebuch. „‚Kopfjäger‘ und ‚Menschenhändler‘ sind up to date, und wollte man den Artikeln glauben, so stünde hinter jedem DDR-Bürger ein Abwerber. Zum Teufel, sollen die Leute doch gehen, denen es bei uns nicht passt.“ Das „größenwahnsinnige Säbelgerassel“ nach dem 13. August bedrückt die Schriftstellerin sehr. „Es hagelt Zuchthausstrafen“, schreibt sie. „Man kann mal wieder irre werden an unserer Politik.“ Sie schreibt in Zeiten von Enge und Einschüchterung über Spitzel und Opportunisten, sie wehrt sich gegen prüde Zensoren, die nackte Haut und Liebesakte in ihren Texten streichen wollen. Diese „feigen Idioten“, notiert sie, „halten ja eher die Erhöhung der Arbeitsproduktivität“ für ein ideales Romanthema.[gallery:DDR-Künstler und die Berliner Mauer]

Brigitte Reimann wird später Kultautorin in der DDR – jung, erotisch, melancholisch, todessüchtig und unbestechlich. Einmal wird sie von Walter Ulbricht zusammen mit Anna Seghers, Stephan Hermlin, Helene Weigel, Erwin Strittmatter und Paul Dessau zum Kulturaustausch ins Zentralkomitee geladen. Und sie merkt schnell, dass es hier nicht um „Toleranz und Freimut“ geht, sondern um Ulbrichts banale Rezepte, die er mit „einer widerwärtigen Eunuchenstimme“ vorträgt. „Dieser Mann“, schreibt sie, „ist von Machtrausch besessen, er lässt keine Meinung gelten außer der seinen.“ Amusisch und anmaßend sei er mit seinem Kleinbürgergeschmack, „und er schalt die Schriftsteller wie einen Haufen dummer und unartiger Kinder“.

Schon ein Jahr vor dem Mauerbau war Brigitte Reimanns Bruder mit seiner Familie in den Westen geflohen. „Spüre zum erstenmal schmerzlich die Tragödie unserer zwei Deutschland.“ Und sie fragt: „Warum schreibt niemand ein gültiges Buch?“ Nach dem Mauerbau schreibt sie es. Schreibt „Die Geschwister“. Eine Nacht sitzt dort Elisabeth mit ihrem Bruder Ulrich zusammen, und sie versucht zu begreifen, warum er gehen will. Am Ende steht sie auf. „Es war vorbei, nicht nur für heute und morgen. Die unselige Grenze zerschnitt das weiße, damasten glänzende Tischtuch – der unsichtbare Schlagbaum, der mitten durch unsere Familie ging.“

Als Brigitte Reimann mit nur 39 Jahren an Krebs stirbt, können die Zensoren endlich wild und unbehelligt in ihrem großartigen, unvollendeten Roman „Franziska Linkerhand“ herumstreichen. Weg mit Prozessen aus der Stalin-Zeit. Weg mit Stasi und Spitzeln. Und verfolgte Intellektuelle? Gibt es nicht in der DDR. Also weg damit. Auch Selbstmorde werden gestrichen. Im Sozialismus bringt sich niemand um. Und statt „Mauer“ hat die Autorin doch sicher „Wand“ schreib­en wollen.
 

Günter Kunert

Die Hiobsbotschaft kommt durchs Telefon. Günter Kunert solle sofort das Radio einschalten. Die innerstädtische Grenze sei abgeriegelt worden. Alle Ostberliner, die dort herumlungerten, würden zurückgescheucht. Sie säßen in der Mausefalle.

Es ist Sonntag, die Sonne scheint, und die Stadt ist wie ausgestorben. Der Schriftsteller und seine Frau besichtigen die frisch ausgerollten ­Stacheldrahtspiralen, und ihnen ist ziemlich übel zumute. Dann denken sie an ihren defekten Heizlüfter, der bei einem Freund in Heiligensee repariert worden ist. Auf diesen Wärmespender wollen sie nicht verzichten. Schließlich haben sie doch die Grüne Karte, den Passierschein für Westberlin. Also rein ins Auto und los. Alexanderplatz, Karl-Liebknecht-Straße, und Unter den Linden steigt der Pulsschlag. Der Grenzer herrscht sie an: Hier können Sie nicht mehr durch! Kunert zückt die Grüne Karte. Und es klappt tatsächlich. Sie gilt noch an diesem 13. August. Honecker konnte ja nicht an alles denken. Auf der Fahrt durchs Brandenburger Tor sieht Kunert Kampfgruppen mit Kalaschnikows vorm Bauch.

In Heiligensee plaudern der Dichter und seine Frau ein Stündchen mit ihren Freunden bei Kaffee und Kuchen, „als hielte nicht die Welt den Atem an“, schreibt Kunert in seinen Erinnerungen, „als ratterten nicht amerikanische Panzer an die Sektorengrenzen, als wäre nicht die Rote Armee in Alarmbereitschaft versetzt worden – als wäre das Hauptereignis des Tages die Spazierfahrt mit einem reparierten Heizlüfter“.

Der Heimweg wird zur Spießrutenfahrt. Die Straße des 17. Juni ist schwarz vor Menschen. Am Großen Stern kann Kunert sich nicht in Richtung Osten einfädeln. Er kreist und kreist in Schweiß gebadet um die Siegessäule – bis aus dem Lautsprecher eines Funkwagens gerufen wird: Den Ostwagen durchlassen! Da öffnet sich die Menschenmauer vor ihnen, und sie bewegen sich langsam „wie durch eine Gasse von Zorn und Hass, von verzerrten Gesichtern und erhobenen Fäusten“. Am Brandenburger Tor hebt sich der Stacheldraht in die Höhe, „und wir fahren ins Jammertal von morgen“.

Stephan Hermlin

Am 16. August schreiben die westdeutschen Autoren Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre einen offenen Brief an die Schriftsteller im Osten. Die sollen sich zu Wort melden. „Wer schweigt, wird schuldig.“ Viele Bürger seien geflohen, weil sie die DDR nicht mehr für bewohnbar hielten. Und weder Stacheldraht, Maschinenpistole oder Panzer könnten die Zustände erträglicher machen. Die Massenflucht in den Westen aber „ohne jeden Beweis“ Menschenhandel zu nennen, sei für den Mauerbau eine zu dürftige Erklärung. „Nur ein Staat, der der Zustimmung seiner Bürger nicht mehr sicher ist, versucht sich auf diese Weise zu retten.“
Am 17. August antwortet der DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin. Er habe seiner Regierung am 13. August kein Dankestelegramm geschickt, schreibt er. „Aber ich gebe den Maßnahmen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik meine uneingeschränkte ernste Zustimmung.“ Die Maßnahme sei ein großer Schritt in Richtung eines Friedensvertrags, „weil er allein angetan ist, den gefährlichsten Staat der Welt, die Bundesrepublik, auf ihrem aggressiven Weg zu bremsen“.[gallery:DDR-Künstler und die Berliner Mauer]
 

Robert Havemann

Auch Robert Havemann begrüßt den Mauerbau. Der Chemiker und Philosoph ist damals noch mit Macht und Privilegien ausgestattet. Jetzt, wo man unter sich ist, will er den Sozialismus nach seinen Vorstellungen aufbauen. Und er predigt tatsächlich in der bleiernen Zeit – als die Menschen sich vom Schutzwall nicht befreit, sondern eingekerkert fühlen – das Ende der Bevormundung. Und er plädiert für freie Wahlen und Meinungsfreiheit. In einer berühmt gewordenen Vorlesungsreihe sagt Havemann seinen begeisterten Studenten im Hörsaal der Humboldt-Universität, dass die sozialistische Gesellschaft an ihren Freiheiten zu messen sei und dass sie in diesem Punkt der bürgerlichen Gesellschaft überlegen sein müsse. Da lässt die Staatssicherheit verbreiten, dass der Professor unter Drogen stehe. Bald darauf wird der überzeugte Kommunist aus der SED geworfen, erhält Berufsverbot und wird zum Staatsfeind Nummer eins erklärt.

Heiner Müller

Mitten im Mauerbau inszeniert der Brecht-Schüler B. K. Tragelehn mit einem Studentenensemble „Die Umsiedlerin“ von Heiner Müller. Ich hatte mich darin so richtig ausgekotzt, erzählte Müller mir nach dem Mauerfall. Das sei nun mal so mit den Erstlingen. „Götz“, „Räuber“, „Danton“ oder „Baal“, da werden die Eimer ausgekippt, sagte er, da fließen Blut und Eiter.

In seinem Stück geht es um die Schwierigkeit, den Sozialismus aufzubauen. Bodenreform, Zwangskollektivierung, Kleinbauern bekommen Traktoren, Großbauern sind abgemeldet, der Bürgermeister begeht Brandstiftung und stiehlt die Gemeindekasse, der Parteisekretär betrügt seine Frau, die während seiner KZ-Haft so mutig zu ihm stand, und die schwangere Umsiedlerin, die als Bäuerin arbeitet, emanzipiert sich vom Vater ihres Kindes.

Das sind Geschichten, die Heiner Müller gleich nach dem Krieg in Waren, an der Mecklenburger Seenplatte, gehört hat. Er sitzt damals im Landratsamt, hat nicht viel zu tun, hockt nur im Büro rum und hört dort all die Schicksale, die er dann Ende der fünfziger Jahre in sein Stück packt.

Während der Proben schwärmen Zensoren aus und forsten den Text durch. „Kindermachen auf dem Grenzstreifen ist verboten“ lesen sie da. Grenzstreifen? Der meint doch den sozialistischen Schutzwall, den sie gerade bauen! Und: „Ich stehe in Amerika, und du stehst in Deutschland, und plötzlich ist was zwischen uns.“ Das kann doch auch nur die Mauer sein! Die hatten nichts begriffen, sagte Müller, und dass ich das alles schon vor Jahren geschrieben hatte, glaubte mir kein Schwein. Müller fand seine Stücke immer eher komisch. Und dass sein sozialistischer Witz in der „Umsiedlerin“ so furchtbar ernst genommen wurde, dass man ihm vorwarf, konterrevolutionär, antikommunistisch und dekadent zu sein, war für ihn der Grund, nach dem Mauerbau nur noch mit dieser ernsten Maske rumzulaufen.

Dabei findet Müller die Mauer in Ordnung. Notwendig, clever, klug. Er hofft sogar, beim Schreiben künftig freier zu sein. Doch sein ungeschminktes Leben vom Lande findet in dem Augenblick auf der Bühne statt, als Walter Ulbricht die Notbremse für seinen Machterhalt zieht. Und so wird das Stück zum Riesenskandal:
Probenunterbrechung, Streichungen, Änderungen, und nach der Uraufführung Verbot des Theaterstücks, Krisensitzung der Parteispitze, Hausdurchsuchung, Konfiszierung von Texten, Müller wird aus dem Schriftstellerverband geworfen, was in der DDR einem Berufsverbot gleichkommt, Regisseur Tragelehn muss in die Produktion.

Und die Studenten? Sind ganz plötzlich nach der Premiere verschwunden. Haben Vorformuliertes unterzeichnet, bekennen darin, dass sie einem Konterrevolutionär aufgesessen sind. Selbst Mitglieder des weltberühmten Berliner Ensembles – Elisabeth Hauptmann und Hilmar Thate sind dabei – schreiben ans Kulturministerium, wie erschreckend Müller mit seiner Begabung umgehe und wie unsinnig das Stück sei. Sie schreiben das freiwillig und „mit sozialistischem Gruß“.

Doch dann ruft Helene Weigel bei Müller an. So ginge das nicht weiter. So ein begabter Hund! Er solle mal eine Selbstkritik schreiben. Sie wisse, wie man das macht. Und dann schickt Brechts Witwe den Verfemten ins Turmzimmer vom BE, wo er sich unter ihrer Anleitung schuldig bekennt. Was nützt mir die Wahrheit, sagte er mir später, wenn ich nicht schreiben kann. Schreiben sei ihm wichtiger als Moral. Den Text, den er dann vor versammelter Prominenz im Club der Kulturschaffenden vorträgt, hat er zuvor mit der Weigel gut einstudiert. Danach kocht Mutter Courage ihm Kohlrouladen.

Inge Müller

Heiner Müllers Frau, Inge Müller, steht damals noch im Schatten ihres Mannes. Sie war im Krieg verschüttet worden – „dann fiel auf einmal der Himmel um“ –, wird ein oder zwei Tage später aus dem Schutt befreit, irrt durchs brennende Berlin und zieht die toten Eltern aus den Trümmern ihres Hauses. Inge Müller, die Lebenslustige, Attraktive, Depressive, Todessüchtige, die sich 1966 nach vielen missglückten Versuchen mit Gas das Leben nimmt, sitzt damals nächtelang am Schreibtisch und redigiert Heiner Müllers Texte. Kopiert auch die „Umsiedlerin“ schnell und heimlich, bevor die Staatssicherheit das Original beschlagnahmt. Und sie schreibt aufregende Gedichte, für die sie im Westen die Ingeborg Bachmann des Ostens genannt wird. Nach dem 13. August schreibt sie:

Ein Mensch fällt an der Mauer
Ein Gewehrlauf weist zitternd
In den weiten Himmel
Gelenkt von zwei Händen …
[gallery:DDR-Künstler und die Berliner Mauer]

Manfred Krug

Auch der Gewehrlauf von Georg – gespielt von Manfred Krug – weist in den Himmel. Der junge Arbeiter bei den volkseigenen Elektroapparatewerken gehört zum Wachtrupp an der Mauer und patrouilliert so für sich hin. Gleich am ersten Abend verliebt er sich in die hübsche Carolin, die heftig mit ihm flirtet. Am Morgen des 14. August hatte sie sich noch lasziv im Bett gerekelt, hat das Radio angestellt und hört voll Entsetzen, dass sie nicht mehr nach Westberlin kann. Die Grenze ist dicht. Aber sie arbeitet doch drüben! In einer Bar. Als Animierdame. Und ein bisschen auch auf dem Strich. Also macht sie sich an den netten Georg ran, damit der sie illegal durch die Mauer lässt. Aber Georg sagt, er habe Angst um sie. Sie könnte erschossen werden.

Der 25-jährige Manfred Krug hatte die Idee zum Film „Der Kinnhaken“, und er schrieb sich seine brave Rolle auf den Leib. Wie aus einem Lehrbuch erklärt er der Grenzgängerin, dass es unredlich sei, im Westen zu arbeiten und im Osten billig zu wohnen. Arbeiter brauchen wir hier doch auch, sagt er und fragt: Was machen Sie denn im Westen? Na ja, sie verkaufe Alkohol. Aha. Und sie fragt, ob er seinen Job an der Mauer denn richtig finde. Da sagt er: Ich weiß, dass ich hier richtig steh. Und auch Krug glaubt damals noch, dass mit der Mauer das Tor zur Freiheit aufgehen wird.

So verliebt sich denn auch Carolin in den Mann, der ihr erklärt, dass es sich in der DDR menschlicher und besser leben lässt. Sie besucht ihn in seiner Zweiraumwohnung, macht auch gleich mal Ordnung, und es dauert nicht lange, da kochen die zwei Zonengourmets gemeinsam Kohlrouladen – sie auch. Und die Bekehrte arbeitet nun, wie es sich gehört, im Konsum. Aber dann taucht Bubi auf, ihr Zuhälter. Wilde Verwicklungen folgen. Krugs Kinnhaken klärt schließlich die Situation. Und alles endet in sozialistischer Seligkeit.

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Die Wirklichkeit sah kurz vor dem Mauerbau allerdings anders aus als im Kino mit Happy End. Da hießen die 53 000 Grenzgänger, die im Westen ihr Geld verdienten und im Osten billig lebten, „Parasiten“ und „Volksschädlinge“. Also verfügte die DDR Anfang August 1961, dass sich alle Grenzgänger zu melden hätten, dass sie von nun an Gas, Miete, Strom, Wasser und Steuern in Westgeld zahlen müssten und sich künftig Arbeitsplätze in der DDR zu suchen hätten. Diese Verfügung wird damals zum Bumerang, denn der Flüchtlingsstrom schwillt nun erst so richtig an. Am Wochenende vom 7. zum 8. August 1961 verlassen 3628 Flüchtlinge die DDR.

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Armin Müller-Stahl

Es sind die jungen Filmhelden – Manfred Krug und Armin Müller-Stahl –, die die Schandmauer schönreden sollen. Der eine im „Kinnhaken“, der andere im Defa-Streifen „… und deine Liebe auch“. Beide arbeiten in volkseigenen Betrieben, beide sichern in ihrer Freizeit in Kampfgruppenuniform die Grenze. Müller-Stahl spielt den charakterfesten Sozialisten Ulli, dessen ungleicher Bruder Klaus bis zum 13. August als Grenzgänger für harte DMark in Westberlin als Taxifahrer gejobbt hat. Ulli verehrt die junge Briefträgerin Eva, doch die entscheidet sich für den feschen, kessen Klaus. Als dem der goldene Westen mit Stacheldraht versperrt wird, will er fliehen. Ohne sie, die inzwischen ein Kind von ihm erwartet. Bitter enttäuscht wechselt Eva zum guten Ulli. Der böse Klaus wird beim Fluchtversuch geschnappt und verhaftet.

Die Liebesgeschichte, die zu Herzen ging und den Bau der Mauer rechtfertigte, stammt vom DDR-Lyriker Paul Wiens. Er war viele Jahre als „Gesellschaftlicher Informant“ für die Staatssicherheit tätig und lieferte Berichte über seine Kollegen Jurek Becker, Wolf Biermann, Stefan Heym, Sarah Kirsch, Heiner Müller oder Ulrich Plenzdorf. Ein wahrer volkseigener Künstler.[gallery:DDR-Künstler und die Berliner Mauer]

Ulrich Mühe

Wie wenig fröhlich das Leben mit der Kalaschnikow an der Mauer war, erzählte mir nach der Wende der Schauspieler Ulrich Mühe. Nach dem Abitur war er zur Armee gegangen. Dann musste er mit der Waffe an die Mauer. Ein Albtraum, sagte er. Jeden Tag an einen anderen Standort. Und immer mit einem anderen Posten. Keine Chance, sich abzusprechen. Und acht Stunden zusammen. Und kalt war es. Man legte seine Stulle auf diese schreckliche S-Bahn-Heizung, die es in den Türmen gab. Da lag das Brot, bis es warm war. Und immer die Angst: Hoffentlich flieht keiner! Hoffentlich rennt da nicht so ein Idiot rüber! Und dann sagt ein Posten: Also wenn da so ein Idiot rüberläuft, halt ich drauf. Ich lass mir doch die Zukunft nicht versauen. Bei so einem sagt Mühe dann die ganze Nacht nichts mehr. Und am Morgen gingen die Lichter an. Hier und dort. Nur die Vögel, sagte er, hockten auf der Mauer und plusterten sich auf – also flieg ich jetzt nach Osten oder Westen? Da ist der Mühe krank geworden. Ihm wuchs ein Magengeschwür. Er wird im Militärlazarett operiert und muss nicht mehr an die Mauer zurück.

Erwin Geschonnek

Auf dem 11. Plenum des ZK der SED von 1965 werden wieder mal die Künstler verteufelt. Wortführer ist Erich Honecker, der vor allem den Schriftstellern Nihilismus, Skeptizismus und die böse Lust am Zweifel vorwirft. Und pornografisch sind sie auch noch! „Unser Staat ist ein sauberer Staat“, sagt er. Und deshalb wird noch mal ein Streifen über den Mauerbau bestellt. Ein sauberer Episodenfilm soll es werden, „Geschichten jener Nacht“. Politbürokandidat Horst Sindermann gibt das Thema vor: „Einsatz der Kampfgruppen zur Schließung der noch nicht mauerbewehrten Grenze zu Westberlin.“

Eine der drei Geschichten – „Der kleine und der große Willi“ – gerät während der Dreharbeiten ins Visier der Tugendwächter. Da wird einem Maurer von Westberlin aus eine Schachtel USZigaretten rübergeworfen. Der große Willi, gespielt von Erwin Geschonneck, mauert sie in die Grenzbefestigung ein. Aber nur die leere Schachtel. Die Zigaretten verteilt er nach Feierabend an seine Kameraden. Die Zensoren sind entsetzt. Das ist ja reine Produktanbetung! Muss gestrichen werden. Das Argument, ein Arbeiter vernichte keine Genussmittel, auch nicht aus feindlicher Produktion, wird nicht akzeptiert. Doch die Episode darf am Ende gedreht werden, weil man verspricht, sie mit optimistischer Ausstrahlung und einem positiven Helden abzuliefern.

Christa Wolf

Die Heldin in Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ hat eine bittere Liebesgeschichte hinter sich. Rita liegt nach einem Unfall im Krankenhaus. Der Unfall war ein Suizidversuch, den das junge Mädchen unternimmt, als die Mauer sie endgültig von ihrem Geliebten trennt. Sie fällt ins Koma, und als sie erwacht, durchdenkt sie noch einmal ihre Geschichte.

In diesem Kultbuch lebt die DDR der sechziger Jahre. So wie es in der Bitterfelder Konferenz von 1959 gefordert war, geht die schwärmerische Rita vom Lande, die Lehrerin werden will, erst einmal in die Produktion, um das Leben der Arbeiter zu studieren. Auf einem Tanzfest lernt sie Manfred kennen, einen begabten Chemiker, der gerade dabei ist, seinen Glauben an das sozialistische Wirtschaftssystem zu verlieren. Zwischen Produktionseinbrüchen, Brigadefeiern, Spannungen in der Familie mit Nazivergangenheit, Skiurlaub und stockender Planerfüllung blüht die Liebe der beiden.

Als die Funktionäre eine Erfindung von Manfred ablehnen, geht er in den Westen. Rita besucht ihn dort, fühlt sich fremd in der kapitalistischen Kühle, will den Freund überreden zurückzukommen, denn sie glaubt an die Reformierbarkeit des Sozialismus. Doch er bleibt. Da reist sie verstört in die DDR zurück. Und als kurz darauf die Mauer gebaut wird, die ein Wiedersehen für immer unmöglich macht, versucht sie sich das Leben zu nehmen.[gallery:DDR-Künstler und die Berliner Mauer]

Wolf Biermann

Meine Mauer-Lovestory hieß „Berliner Brautgang“, erzählt Wolf Biermann in seiner Küche in Hamburg Altona. Halb schlau, halb feige, wie er sagt, verteidigt er die Mauer, verflucht sie aber auch als schändliche Niederlage. Und deshalb wird sein Stück ein ziemlicher Reinfall. Trotz all meiner listigen Verschlechtbesserungen, sagt er, wurde es nach der Generalprobe abgesetzt, war also noch immer nicht verlogen genug.

Biermann, der mit seinen herrlich kessen Liedern die Herrscher in Wandlitz bald in helle Aufruhr versetzt, studiert damals Philosophie und Mathematik an der Humboldt-Universität. Und er erinnert sich noch genau, dass zwei Tage vor dem Mauerbau für alle FDJler ein Aushang im Seminar hing: „Sonntag früh 6 Uhr Appell im Hauptgebäude.“ Also marschiert der 25-Jährige am 13. August in parteifrommer Herrgottsfrühe, wie er sagt, aus seiner Wohnung Chaussee­straße 131 los, vorbei an Brechts weltberühmtem Theater, zur Weidendammer Brücke und über die Spree, dann links rum und Unter den Linden hoch bis zur Uni. Dort, sagt er, wehte mir dann der Mantel der Geschichte so heftig um die Augen, will sagen: Ich sah nix mehr. Die Jungphilosophen werden mit kämpferischen Phrasen gedopt, die sie wie Aufputschmittel schlucken. Ihre Aufgabe: Sie sollen, bewaffnet mit Flugblättern, in die grenznahen Häuser gehen und aufgeschreckte Bürger beruhigen. Das hässliche Wort „Mauer“ durfte dabei nicht fallen, sagt er, war verboten. Die Menschenfalle aus Stacheldraht war der „antifaschistische Schutzwall“.

Sein Kampfgebiet ist die Acker- und die Brunnenstraße. Und so läuft er denn in verrotteten Mietshäusern die Treppen hoch, klingelt die Leute aus den Betten: Guten Morgen. Wir bringen ihnen die jüngste Erklärung zur vorrübergehenden Schließung der Grenze … Weeß ick schon, sagt eine Frau mit Lockenwicklern hinter der Türkette. Hab Radio. Und euren Zettl brauch ick nich. Na, dann sparn wir ja Papier, sagt Biermann. Sagt die Frau: Det müsst ihr ooch! Dann jibt es endlich ma wieder Klopapier zu koofn!

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Agitator Horst Sindermann beschimpft bald darauf in seiner Parteizeitung „die arroganten Intellektuellen“, die glaubten, sie seien die Elite. Er attackiert Christa Wolf und ihren geteilten Himmel, und Wolf Biermann ist für ihn ein „kulturloser Reimer“. „Ach Sindermann, du blinder Mann …“ reimt der Biermann da in einem seiner schönsten Lieder, das endet, wie die größte DDR der Welt endete, als die Mauer endlich fiel:[gallery:DDR-Künstler und die Berliner Mauer]

„Im ‚Neuen Deutschland‘ finde ich
Tagtäglich eure Fressen
Und trotzdem seid ihr morgen schon
Verdorben und vergessen
Heut sitzt ihr noch im fetten Speck
Als dicke deutsche Maden
Ich konservier euch als Insekt
Im Bernstein der Balladen“

Birgit Lahann war 30 Jahre lang Autorin beim Stern. Sie schrieb Biografien über Bertolt Brecht, Sigmund Freud, Hermann Hesse und Friedrich Schiller

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