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Bücherkolumne - „Die Deutschen sind das narzisstischste Volk auf Erden”

Tuvia Tenebom, Ulrike Meinhof, Christoph Schlingensief: neue Bücher über den schaurigen Narzissmus der Deutschen

Autoreninfo

Robin Detje lebt als Autor und Übersetzer in Berlin und arbeitet als Teil der Gruppe "bösediva" an Theaterprojekten

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Tuvia Tenenbom, Sohn einer deutsch-jüdisch-polnischen Familie und Gründer des „Jewish Theater of New York“, findet die Deutschen doof, und das auf sehr lustige Weise. Er ist durchs ganze Land gereist und hat Normalos und berühmte Menschen getroffen, Gutmenschen, Nazis und Türken, Komiker und Altbundeskanzler. Er hat einen sehr komischen, aber auch sehr traurigen Bericht darüber geschrieben, und dann wurde es richtig komisch: Der Rowohlt-Verlag, der diesen Bericht in Auftrag gegeben hatte, wollte ihn plötzlich nicht mehr haben. Es gab ein wenig Skandal, als „jüdischer Hysteriker“ soll der Autor in einem Verlagsgutachten betitelt worden sein (was angeblich nett gemeint war), und jetzt ist das Buch bei Suhrkamp erschienen. Und siehe, es war gut. (Tuvia Tenenbom: „Allein unter Deutschen“; aus dem Englischen von Michael Adrian; Suhrkamp, Berlin 2012; 431 Seiten, 16,99 Euro; als E‑Book 14,99 Euro.)

Die Deutschen, denen Tuvia Tenenbom begegnet ist, saufen unendlich viel Bier. Ihre Autofabriken sind Kirchen. Sie wollen immer Kuschelkonsens. Und sie wollen nicht zu genau über die Dinge nachdenken. Eine Meinung haben sie immer schon, Fakten stören sie nur. Besonders wenn es um Israel geht. Israel geht gar nicht. Die Deutschen wollen den Judenmord nämlich wiedergutmachen, indem sie die Palästinenser als die neuen guten Juden vor den Israelis schützen, den bösen alten Juden. Dieses Deutschland, das Tenenbom erlebt, hat keinen Kern. Eine Imagekampagne („Völkisches Deutschland – Herrscher der Welt“) ist in die Hose gegangen und einfach durch eine andere ersetzt worden („Braves Deutschland – Großer bunter Streichelzoo“). Aber wer dumme Fragen stellt, hört dieses Deutschland ganz leise „Wir können auch anders“ knurren.
Am Ende gesteht Tenenbom: „Ich kann die Deutschen nicht lieben.“ Er hasst ihr Musterschülertum, ihren heimlichen oder offenen Antisemitismus, „ihr ständiges Bedürfnis, geliebt und beglückwünscht zu werden, und ihre vorgebliche Rechtschaffenheit“. Und schließt: „Die Deutschen, entschuldigen Sie die Verallgemeinerung, würden absolut alles dafür tun, gut auszusehen, schön rüberzukommen, klug zu wirken. Aber wer sind sie in Wirklichkeit? Sie sind das narzisstischste Volk auf Erden.“ Er hat diesen Schluss sehr unterhaltsam belegt.
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Kurzer Lesetipp für alle, die das Thema „Deutscher Narzissmus“ ins Ideologische vertiefen wollen: Ein schwedischer Roman über Ulrike Meinhof ist auf Deutsch erschienen. (Steve Sem-Sandberg: „Theres“; Roman, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek; Klett-Cotta, Stuttgart 2012; 391 Seiten, 22,95 Euro; als E‑Book 17,99 Euro.) Da wird das Quellenmaterial literarisch aufgeschüttelt und verwirrt, bis wir es verstehen. Da treten die Terroristin und ihr Verfolger Horst Herold im Grunde gegeneinander an wie King Kong und Godzilla in einem japanischen Monsterfilm – irrtümlich aufgetaut aus dem ewigen Eis des Hitlertums mit seinem ganzen Pathos und seiner klirrenden Gewalttätigkeit. Und beide haben sie gnadenlos recht. Und nur einer von beiden kann siegen. Und … es ist einfach zum Schaudern. Brrr!
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Der vor etwas über zwei Jahren viel zu jung verstorbene Künstler Christoph Schlingensief hat den deutschen Narzissmus entweder auf unvergleichliche Weise verkörpert oder zum Ausdruck gebracht. Oder beides – man weiß es nicht recht. Ein neues Buch mit abgetippten Tonbanddiktaten, herausgegeben von seiner Witwe Aino Laberenz, erlaubt eine Wiederbegegnung mit dieser Unklarheit und dem leisen Unwohlsein, das sie erzeugt. Die Texte sind rührend wirr und wollen dabei immer auch Rührung erzeugen. Auch die Fotos sind rührend, besonders die Kinderbilder. (Christoph Schlingensief: „Ich weiß, ich war’s“; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012; 304 Seiten, 19,99 Euro; als E‑Book 17,99 Euro.)
Schlingensief horcht in sich hinein und spürt: Jede Empfindung ist augenblicklich heilig. Und jede Empfindung, die er in seinem Körper hat, sagt unbedingt etwas über die gesamte Gesellschaft aus. Sie muss es tun, blitzartig, sonst ist sie nicht zu ertragen. „Ich“ allein wäre zu schrecklich. Schlingen-„Ich“ muss sich blitzartig ausdehnen, eine narzisstisch-parasitäre Superexplosion. Erst dann herrscht Frieden auf Erden, also in „Ich“.

nächste Seite: Der große Empfindungs-Diktator

Schlingensiefs letztes Kunstprojekt, das ohne ihn weitergeführt wird, das Operndorf in Afrika – ganz große Oper! Strahlende kleine schwarze Kinder, umstanden von strahlenden deutschen Sponsoren, alle beseelt von einem auf ganz deutsche Weise absoluten Bewusstsein, etwas total Gutes zu tun. Verzweifelt sucht man da nach einem Fitzelchen Ironie. In diesem Buch findet man es nicht. Schlingensief steht da wie die Domina, der man früher nach Mitternacht beim Zappen in der Telefonsexwerbung begegnet ist: „Ruf! Mich! An!“ Nur dass er sagt: „Liebt! Mich! Jetzt!“ Und Tausende sind seinem Ruf gefolgt. Es ist unmöglich geworden, Schlingensief nicht zu lieben. Erst wenn diese Liebe nachlässt, wird man ihn wieder als Künstler betrachten können, dessen Gegenstand der deutsche Narzissmus war. Er muss raus aus der Kitsch-Falle, die er selbst mit aufgestellt hat. Bis dahin bleibt er der liebe Christoph, der Terrorist der Herzen. Der große Empfindungs-Diktator.
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Und wo kommt dieser deutsche Narzissmus nun her? Das ist doch bestimmt die Jugend von heute, die ja nichts anderes kennt als unsere hohle Medienglitzerwelt, den Terror der Werbung mit ihrem Dauerversprechen der sofortigen Wunscherfüllung. Oder? Mitnichten. Wer die Ur-Narzisse der Deutschen sehen will, muss sich Leni Riefenstahls Film „Triumph des Willens“ ansehen. Wie dieser kleine Mann mit dem Schnurrbart da auf- und abtigert. Wie der Volkswille ihn da aufs Podium drängt! Das ist er, auf ihn richtet sich der Neid aller, die es ins Rampenlicht drängt, bis heute. So möchte man auch einmal alle Scheinwerfer zwingen, sich auf einen selbst zu richten. Und dann – recht haben, bis der Arzt kommt!

Wer sind wir? Sind wir wieder wer? War wieder wer sein zu wollen schon der Fehler? „Spiegel online“ meldet: Tenenbom hat recht! Die Deutschen sind antisemitisch! Außerdem: Spermienzahl der Franzosen sinkt! So hat jede Nation ihr Säckel zu tragen. Tenenbom selbst hat es übrigens nicht so mit Nationen. Ständig wechselt er auf seiner Deutschlandreise ganz nach Laune die Staats- und Religionszugehörigkeit und gibt sich mal als Araber, mal als Arier aus. Hinter dem Verwirrspiel steckt eine freiheitliche Utopie: Weg von der Scholle! Raus aus der Kirche! Mich aber sollt ihr trotzdem fortan zum Volk der Tuvianer zählen. Tuvia, unser Präsident und Gott, kann auch nerven. Und das ist gut so. Freiheit ist nämlich, wenn man den anderen die Freiheit lässt, einen zu nerven. So hat Karl Popper das mit der offenen Gesellschaft gemeint. Mit Narzissmus ist dann natürlich nicht mehr viel zu wollen.   

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