Deutscher Buchpreis 2022 - Ändert nicht die Zeichen, zerstört die Ordnung!

Kim de l’Horizon erhält in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis. Die Entscheidung ist bei allen aktivistischen Tendenzen nicht nur ein politisches Statement, sondern auch ein Bekenntnis zu ästhetischer Radikalität, meint Cicero-Literaturkritiker Björn Hayer.

Kim de l'Horizon rasiert sich nach der Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreises 2022 im Frankfurter Römer die Haare ab / dpa
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Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Diese Prämierung wird unvergessen bleiben, ja Geschichte schreiben. Seitdem sich Rainald Goetz mit einem Rasiermesser während des Bachmannpreises 1983 die Stirn aufschnitt, konnte keine Performance mehr eine derartige Faszination in der Öffentlichkeit hervorrufen wie Kim de l’Horizons Rasur seiner Kopfhaare anlässlich der Entgegennahme des Deutschen Buchpreises für sein Werk „Blutbuch“. Da er sich als non-binär beschreibt, dürfte die Geste zunächst vor allem als politisches Statement gegen eine heteronormative Matrix und mithin das patriarchale Schönheitsideal zu verstehen sein. 

Die Botschaft dahinter greift weit überdies zurück in die Kulturgeschichte. Da Haare – nicht zuletzt durch ihre Verehrung in der antiken und später petrarkistischen Liebespoesie – als Verführungssymbol herhalten mussten, wurden sie im Mittelalter den zum Tode verurteilten Frauen entfernt. Die Idee: Wenigstens ihre letzte Reise ins Himmelreich oder in die Hölle sollten sie ohne augenscheinliches Zeichen der Sünde antreten. Aufs Grauenvollste kopiert haben dieses Ritual Jahrhunderte danach die Jakobiner während ihrer wenige Jahre dauernden Terrordiktatur nach der französischen Revolution. Um die Massenhinrichtungen mithilfe der Guillotine zu ermöglichen, durfte keine aufwendige Frisur die treffsichere Abtrennung des Kopfes verhindern. Die Devise lautete wiederum: Alles muss weg!

Rasur als Strafe

Dass das Scheren sogar noch in der Moderne eine männliche Machtdemonstration beschreibt, betont beispielsweise Marguerite Duras in ihrem epochalen und von Alain Resnais berührend verfilmten Drama „Hiroshima mon Amour“ von 1959. Eigentlich sollte sich die titelgebende und einst zerstörte Stadt als Ort der Liebe offenbaren. Doch die kurze, dafür aber umso intensivere Affäre zwischen der Schauspielerin Emmanuelle Riva und dem japanischen Architekten Eiji Okada wird überschattet von einem tief sitzenden Trauma. Immer wieder kommen in der Protagonistin Erinnerungen an Schicksalstage in Nevers während des zweiten Weltkriegs hoch. Als Strafe für eine damalige Liaison d’amour mit einem deutschen Besatzer wurden ihr von den Bewohnern des Dorfs die Haare abgeschnitten.
 

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Indem de l‘ Horizon nun selbst Hand an seine Kopfpracht anlegt, formuliert er ein doppeltes Bekenntnis: Erstens solidarisiert er sich mit all den weiblichen Opfern der Geschichte, zweitens gleicht die Rasur einer Selbstermächtigung. Sie verändert nicht seine Frisur, sie modifiziert nicht die Zeichen. Sie schafft vielmehr das gesamte Codesystem der Haare als Träger von Aussagen und Zuschreibungen ab. Dieser Akt mutet damit so genial wie radikal an und ließ die Buchpreisverleihung in diesem Jahr zu einem echten Ereignis avancieren.

Ein Zeichen an den Iran

Dass sich die Jury für das „Blutbuch“ entschied, dürfte politische Gründe haben. Nachdem gerade im Iran die Frauen aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt werden, muss eine der höchsten Anerkennung für literarisches Schreiben an eine „non-binäre“ Person allen voran als deutliches Signal an den östlichen Unterdrückungsapparat der Mullahs gewertet werden. Auf der Shortlist standen zuletzt nicht unbedingt die ästhetisch herausragendsten Texte des Jahrgangs (übrigens auf der Longlist auch schon lediglich nur ein Teil von ihnen).

Und daher kann man die Entscheidung für den Avantgarde-Autor noch als die bestmögliche ansehen. Denn das Werk hat abseits seiner Botschaft, die sich gegen eine dualistische Geschlechterordnung richtet, ebenso eine ästhetische Wucht. Hierin begibt sich der Ich-Erzähler auf die Suche nach den Ursprüngen seiner Identität, er durchforstet den Berner Familienstammbaum und dringt tiefer in Geheimnisse um seine Großmutter und Großtante vor.

Brillieren kann der Text durch seine stilistische Vielfalt. Er nutzt unterschiedlichste Klangfarben, variiert gekonnt mit der Syntax – wohl auch, um in der Sprache selbst einen Spiegel für eine pluralistische Gesellschaft zu entwerfen. Sicherlich täuscht dieses Buch nicht über seine auch aktivistischen Tendenzen hinweg, aber es ist eben darüber hinaus ein ungemein intelligent komponiertes Buch. Und das verdient ernst gemeintes Lob!

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