Der Flaneur - Der Laden für sterbende Dinge

Der traditionelle französische „Tabac“ verwandelt sich zum diskreten Treffpunkt derer, die von der Digitalisierung überfordert sind. Zwischen lauter unnötigen Dingen finden sie ein Refugium, in dem sie einen letzten Hauch analoger Wärme genießen dürfen.

Hier bekommt man auch noch Zeitungen auf Papier: Tabac in der Provence / dpa
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Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

So erreichen Sie Stefan aus dem Siepen:

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Wenn man einen Spaziergang durch Paris macht, kommt man in jeder zweiten oder dritten Straße an einem Tabac vorbei – einem jener Lädchen, die fester Bestandteil der städtischen Romantik unseres Nachbarlands sind – ähnlich wie in Italien der Tabacchi – und bei deren Anblick man in Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen verfällt.

Tritt man ein, sieht man als Erstes eine große Auswahl an Postkarten. Die Motive haben sich seit Jahrzehnten nicht verändert, sind allenfalls ein wenig greller und „witziger“ aufgemacht, um dem Zeitgeist das Seine zu geben. Es hilft ihnen aber nichts: Sie müssen weichen, das Handyfoto verdrängt sie, denn es lässt sich leichter in alle Welt verschicken. Zudem hat es den Vorteil, dass auf ihm nicht nur die Sehenswürdigkeit selbst zu sehen ist, sondern auch etwas noch Wichtigeres: das Gesicht des Absenders im Vordergrund. Wenn nicht bald eine Haptik-­Nostalgie, eine verquere Liebe zum Unpraktischen ausbricht, wie sie etwa den Vinylplatten zuteilwird, ist es um die Karten geschehen. 

Natürlich kann man im Tabac auch Zigaretten, Pfeifentabak und dergleichen kaufen. Die Packungen sind mit Fotos von bleichen Toten, verzweifelten Müttern, offenen Karzinomen übersät und steigern nicht gerade das Vergnügen am Einkauf. Zu dumm, dass ausgerechnet der Tabak dem Laden seinen Namen gibt, als müsse er die Kunden vor sich selbst warnen und seine Zukunftslosigkeit hinausposaunen.

Stadtpläne, Fahrkarten, Lottoscheine ...

Zum Sortiment gehören auch Stadtpläne. Ach! Selbst eingefleischte Traditionalisten (wie zum Beispiel der Verfasser der Kolumne) kennen nur noch Google-Maps und denken nicht im Traum daran, zu den alten Nervtötern aus Papier zurückzukehren. Der deutsche Falk-Plan war zweifellos das unpraktischste und verzwickteste Druckwerk aller Zeiten – mit seiner legendären „Patentfaltung“, die so patent war, dass er sich spätestens beim dritten Auf- und Zuklappen in ein heillos verworrenes Gebilde verwandelte. Mögen die letzten Exemplare in einem Tabac verdämmern! 

Es gibt auch Fahrkarten für die Metro. Allerdings, wie könnte es anders sein, nicht mehr lange. Die Stadt Paris hat den Beschluss gefasst, die Karten abzuschaffen, das System auf Chipkarten beziehungsweise Handyguthaben umzustellen. Die mattgelben Pappscheine, die früher zu den Requisiten eines jeden Parisaufenthalts gehörten, Eintrittskarten in die faszinierenden Katakomben der Mobilität waren, sollen verschwinden. Bleibt dem Tabac nichts erspart?

 

Zuletzt vom Flaneur erschienen: 

 

Um das Maß des Trübsinns vollzumachen, dient der Tabac auch als Lotto­-Annahmestelle. Fast jeder tippt inzwischen online, nur noch ein paar versprengte Rentner geben ihren Zettel, in schöner Gestrigkeit, am Tresen ab. Dem kann man durchaus einen rührenden Zug abgewinnen: Der Tabac verwandelt sich zum diskreten Treffpunkt derer, die von der Digitalisierung überfordert sind; zwischen lauter unnötigen Dingen finden sie ein Refugium, in dem sie einen letzten Hauch analoger Wärme genießen dürfen. Vermutlich haben sie auch Schwierigkeiten damit, Google-Maps zu bedienen – das trifft sich gut …

Letztens kaufte ich in einem Tabac, getrieben von einer Mischung aus Neugier und auch gelindem Mitleid, zwei Postkarten. Der Mann hinter der Theke sah grau und schwermütig aus, hatte sich in seiner äußeren Erscheinung, wie ein Chamäleon, dem hinsterbenden Charakter seiner Waren angepasst. Als ich ihn fragte, ob er auch Briefmarken habe, die ich auf meine Karten kleben könne, schüttelte er nur stumm den Kopf. Das wunderte mich; Briefmarken sind seit langem auf dem Rückzug, daher sollten sie die ideale Ware für einen Tabac sein. Etwas verärgert ging ich hinaus und beschloss, lieber doch wieder ein Handyfoto zu schießen.
 

 

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