schreiben: Wörtersee - Der Ableser

Erscheint Gott im Overall? Befindet sich der Autor im Stande der Gnade? Wie? Es geht um die Überprüfung der Einhaltung der Niederspannungsanschlussverordnung?

Verwundert schlich ich in den Flur, den Kopf gesenkt, die Augen nur blinzelnd, so blieb ich stehen und lauschte. Als ich mich umwendete, um in mein Bett zurückzukehren, hörte ich eine Stimme. «Ihr Ableser ist da!» Mein Ableser! Wieso? Sofort empfand ich die Bedrohung. Beinah gleichzeitig el mir eine der großartigen Erzählungen Donald Barthelmes ein, wo Gott in einem Overall erscheint und in den Keller steigt, um am Zähler unter der Treppe den für die Gegend aktuellen Stand der Gnade abzulesen. Am Zähler! Es ging um die Ablesung des Zählers, nicht des bisher von mir Geschriebenen oder meines bloßen, versteckten Daseins hinter der Tür. Ich dachte an das gütige Gesicht Marianne Frischs, der Übersetzerin Barthelmes, und beides, Gott im Overall und das freundliche Gesicht Marianne Frischs, beruhigte mich. Mein Ableser trug keinen Overall, aber er hielt ein Klemmbrett mit einer Liste vor der Brust. Während er mir eine Art Ausweis entgegenhielt, murmelte er etwas von «Zutritt gewährleisten» und dann das Wort «Niederspannungsanschlussverordnung»; ich glaube, es ist eines der längsten Worte, die ich je in mein Notizbuch schrieb. Mein Ableser war ein sehr großer alter Mann. Im Flur wollte er sich die Schuhe ausziehen, seltsame, riesige Lederbodden ohne Senkel; ich hinderte ihn daran, und gemeinsam stiegen wir in den Keller. Schon halbwegs erleichtert rief ich «Bitte nicht stoßen!», im Rücken hörte ich sein «Ja, ja». Ich öffnete den graumetallenen Schaltkasten, er beugte sich vor, seine Stirn berührte beinah den leise summenden Zähler, und eine Weile geschah nichts. Als der Kopf meines Ablesers aus dem grauen Metallkasten wieder auftauchte, schaute er mich an, mit einem Ausdruck von Sorge und Verlegenheit, wie mir schien. Der Stand der Gnade, dachte ich, und erneut kam mir vor Augen, wie schwer die letzten Wochen für mich gewesen waren. «Ich habe alles im Auto vergessen, Brille und Taschenlampe, ich kann nichts erkennen, ich muss zum Auto zurück», murmelte mein Ableser, er klang resigniert. «Könnte ich das nicht für Sie ablesen?» «Nein, besser ich gehe und bin gleich wieder hier.» Er kommt nicht wieder, vielleicht nie wieder, schoss es mir durch den Kopf, und ich beharrte: «Aber bitte, das ist doch gar kein Problem, meine Augen sind gut genug dafür.» Der Ableser schaute mich an, als müsse er nachdenken, und blätterte dann in den Seiten auf seinem Klemmbrett. Wer anders als er selbst hätte einen Mangel an Gnade beheben können? Rasch warf ich einen Blick auf meinen Zähler, das fein geriffelte Rädchen über der Zahl. Einer Eingebung folgend zog ich eine Weinflasche aus dem Kellerregal und hielt sie ihm hin. «Der Ableser ist nicht berechtigt, Bargeld, Schecks oder Geschenke entgegenzunehmen.» «Nur als kleine Anerkennung und zum Dank!», rief ich schnell. Er begutachtete nicht einmal das Etikett. Noch einmal trat mein Ableser sehr nah an den Zähler und dann sehr nah an mich heran; das genügte, und ich begriff. Ich begleitete ihn nach oben zur Tür. Dann ging ich an meinen Schreibtisch und notierte mir die Erscheinung des Ablesers und alle mit ihm verbundenen Worte. Ein sanftes Strömen von Gnade setzte ein.

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