Cancel Culture - Ein altes Problem in neuen Gewändern

Wurden Sie auch schon Opfer der „Cancel Culture“? So lautet der neue Begriff für einen Streit, der in den 90er-Jahren begonnen hat. Wobei: Ein richtiger Streit ist es nicht. Es geht um Political Correctness und den Kampf um die Meinungshoheit.

„Cancel Culture" mag zwar ein neuer Begriff sein, das Problem besteht jedoch schon länger / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es langweilt. Seit den 1990er Jahren diskutieren wir über Political Correctness, über Shitstorms, Zensur, Meinungsfreiheit oder Framing. Es ist das immer gleiche Thema in immer neuen Gewändern. Und aktuell firmiert es unter dem Titel „Cancel Culture". Da das Thema selbst aber so alt, öde und abgestanden ist, sind die Reaktionsmuster absehbar. Die Choreographie des Medientheaters steht. Die Fronten sind festgelegt.

Unsere Gesellschaft, die sich in völliger Verkennung der Tatsachen als „Kommunikationsgesellschaft“ bezeichnet, erweist sich einmal mehr als unfähig zu jeder Form von Debatte. Unversöhnlich stehen sich die Lager gegenüber. Eine Änderung des Klimas ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Mit jeder neuen Runde in diesem Spiel vergrößert sich der Riss in der Gesellschaft. Das klingt defätistisch, doch manchmal ist Defätismus nur der bessere Ausdruck für Realismus.

Konvolut von Diskussionsgaranten 

Die Anatomie einschlägiger „Debatten“ ist immer die gleiche. Am Anfang steht ein angeblicher Tabubruch bei einem jener Themengebiete, die – von wem auch immer – als „sensibel“ eingestuft sind. Da gibt es zunächst die großen Zwei: Sexismus und Rassismus. Die gehen fast immer. Irgendwem und irgendjemand Sexismus oder Rassismus vorzuwerfen, funktioniert in beinah jeder Situation.

Man muss nur genau genug hinhören oder hinschauen. Oder eben noch genauer. Und dann gibt es die neuen Klassiker Klima und Covid-19. Auch hinsichtlich dieser Themen haben sich Meinungskorridore gebildet, von denen abzuweichen nicht allzu schlau ist, wenn man seinen sozialen Frieden haben möchte. Und auch das Thema Meinungsfreiheit selbst gehört inzwischen zu diesem Themenkonvolut. 

Nuhr und Eckhart im Zentrum der „Debatte"

Die „Debatte“ um die Cancel Culture entzündete sich nun an einem ganzen Potpourri von Äußerungen, angeblichen Tabuverletzungen und Personen. Im Zentrum: Die beiden Kabarettisten Dieter Nuhr und Lisa Eckhart. Um die Person Nuhr wabert seit Monaten eine eigenartige Debatte, spätestens seit er es im letzten Sommer „wagte“, sich über Greta Thunberg und die Fridays-for-Future Bewegung lustig zu machen.

Lisa Eckhart, Stammgast in Nuhrs Sendung „nuhr in Ersten“, geriet aufgrund einer scharfen Formulierung aus der WDR-Sendung „Mitternachtsspitzen“ aus dem Jahr 2018 in die Kritik. Als dann ein Beitrag Nuhrs von der Webseite der Deutschen Forschungsgemeinschaft genommen und Eckhart vom Hamburger Literaturfestival Harbour Front ausgeladen wurde, hatte der Sommer 2020 endlich sein Thema. Unter dem Titel „Cancel Culture" lief die Meinungsmaschinerie an. Und man lernt viel über unser Land und unsere Zeit, wenn man sich anschaut, mit welchen Argumenten der Shitstorm gegen Nuhr und Eckhart verteidigt wurde. 

Statt abzuwägen, wird etikettiert

Denn im Kern ist da: nichts. Immer wieder laufen die Argumente darauf hinaus, zu zeigen, dass es immer schon so war, dass nicht alles gesagt werden durfte; dass in diesen speziellen Fällen eine Grenze überschritten wurde; dass der rechte Terror in den sozialen Netzen das Problem ist, nicht der linke Kampf gegen Diskriminierung; dass der Begriff „Cancel Culture" ein neurechter Kampfbegriff ist und im Übrigen die ganze Debatte nur den Rechtsextremen nützt.

Mit jemandem, der so argumentiert, kann man nicht diskutieren, da jedes mögliche Argument als unangemessen, verharmlosend oder als Türöffner diskreditiert wird. Es regiert die einfältige Logik des Setzkastens. Einwände werden nicht abgewogen, sie werden etikettiert. Ende der Diskussion.

Diskussionen haben nur noch Symbolkraft 

Das gilt übrigens auch für die Gegenseite. Denn natürlich kann, soll und muss man etwa über Lisa Eckharts satirische Bemerkungen über das angebliche Interesse von Juden an Weibern diskutieren. Aber genau darum geht es schon lange nicht mehr: um Diskussion, Meinungsaustausch, Argumente. Die „Debatten“, die wir führen, sind keine mehr. Diskussionen sind zu Symbolen erstarrt, die den jeweiligen Lagern die Möglichkeit geben, sich einmal mehr um ihre Fahne zu sammeln und die Gegenseite herabzusetzen.

Und da kein Argument dafür in Sicht ist, weshalb sich an dieser Situation in absehbarer Zeit etwas ändern sollte, ist es vielleicht am redlichsten, ehrlich zu sagen: Diese ganzen Debatten sind sinnlos geworden. Wir werden den Riss, der durch die Gesellschaft geht, nicht kitten können. Wir werden lernen müssen, mit ihm zu leben. 

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